Lkw parkte Ausfahrt zu
Vor ein paar Monaten haben wir Dir bereits einen Überblick über die aktuelle Rechtsprechung zur Halterhaftung gegeben, weil dieses Thema ein Dauerbrenner bei unseren Prüfungsämtern ist. Nun gibt es eine neue Entscheidung vom Landgericht Saarbrücken, welches sich dieses Mal näher damit befassen musste, welche Anforderungen an einen Idealfahrer beim Ausparken zu stellen sind. Gleichzeitig ist die Begründung des Gerichts auch noch einmal sehr lehrreich, wie die Du die Abwägung nach § 17 StVG in Deiner Klausur vornehmen solltest.
Was ist passiert?
Der Beklagte parkte die Ausfahrt des Klägers mit seinem Lkw zu, sodass der Kläger und seine Ehefrau mit ihren Pkws nicht mehr das Grundstück verlassen konnten. Die Einfahrt zum Grundstück führte auf eine Stichstraße zu. Als der Kläger und seine Ehefrau das Grundstück mit ihren Fahrzeugen verlassen wollten, wies der Kläger seine Ehefrau und die zu dieser Zeit draußen stehende Nachbarin an, dem Lkw-Fahrer Bescheid zu sagen, dass der Kläger mit seinem Pkw vom Grundstück fahren wollte. Die Nachbarin gab dem Lkw-Fahrer mit Handzeichen zu verstehen, dass dieser den Lkw zurücksetzen sollte und die Ehefrau deutet mit Handzeichen auf ihren Pkw und den ihres Mannes und signalisierte dem Lkw-Fahrer so, dass beide mit ihren Fahrzeugen vom Grundstück fahren wollten. Der Lkw-Fahrer setzte daraufhin mit seinem Lkw zurück und die Ehefrau fuhr mit ihrem Fahrzeug aus der Einfahrt heraus. Im Anschluss setzte sich auch der Kläger mit seinem Pkw in Gang und wollte ebenfalls mit seinem Pkw aus der Einfahrt fahren. Der Lkw-Fahrer fuhr allerdings ohne den Blick in Fahrtrichtung zu werfen im selben Moment wieder nach vorne in den Bereich der Einfahrt, sodass die beiden Fahrzeuge kollidierten. Der Kläger konnte durch eine Notbremsung einen Zusammenstoß nicht mehr verhindern.
Der Kläger stellte die Reparatur seines Pkws dem Lkw-Fahrer in Rechnung, weil er der Überzeugung ist, dass es sich bei dem Zusammenstoß für ihn um ein unabwendbares Ereignis handelte. Der Lkw-Fahrer beglich die Rechnung nicht. Daraufhin erhob der Kläger Klage vor dem Amtsgericht. Das Amtsgericht verurteilte den Beklagten zur Zahlung der Reparaturkosten und ist der Ansicht des Klägers gefolgt. Damit wollte sich der Beklagte nicht zufriedengeben und legte Berufung vor dem Landgericht ein.
Rechtlicher Hintergrund
Das Landgericht Saarbrücken verurteilte den Beklagten mit Urteil vom 20.06.2024 (Az. 13 S 98/23) gemäß § 7 I StVG zwar auch zur Zahlung der Reparaturkosten, aber nur zur anteiligen Begleichung der Kosten. Der Kläger muss einen Eigenanteil an den Kosten übernehmen.
Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Abwägung der Verursachungsbeiträge der Beteiligten nach § 17 StVG. Eine solche Abwägung ist immer dann erforderlich, wenn an der Verursachung zwei Kraftfahrzeuge beteiligt sind. Zuvor muss jedoch gemäß § 17 III StVG geprüft werden, ob für einen der Verkehrsteilnehmer ein unabwendbares Ereignis vorliegt. Denn dann wäre die Ersatzpflicht für den Kraftfahrzeugführer ausgeschlossen.
Die Musik spielt also im Schaden unter dem Prüfungspunkt „Umfang der Ersatzpflicht“. Das Amtsgericht wertete das Unfallgeschehen für den Kläger als ein unabwendbares Ereignis gemäß § 17 III StVG. Dem Kläger sei es als Idealfahrer nicht möglich gewesen, den Zusammenstoß mit dem Lkw abzuwenden, da der Kläger durch die Anweisung seiner Ehefrau und der Nachbarin sorgfältig und unter Einhaltung der Verkehrsvorschriften handelte, so das erstinstanzliche Gericht. Folge war dann, dass das Amtsgericht dem Beklagten die volle Kostenlast auferlegte.
Dem widersprach das Landgericht in seiner Berufungsentscheidung. Das Landgericht sah in dem Unfall kein unabwendbares Ereignis gemäß § 17 III StVG für den Kläger. Ein Idealfahrer hätte laut dem Berufungsgericht „niemals einen Dritten zwischengeschaltet, um eine solche Absprache zu treffen. Dies gilt umso mehr, wenn nicht nur ein Fahrzeug, sondern zwei Fahrzeuge nacheinander das Grundstück verlassen wollen. Denn durch die fehlende direkte Kommunikation sind Übertragungsfehler nicht ausgeschlossen.“
Aufgrund dessen musste das Landgericht dann gemäß § 17 I und II StVG die Verursachungsbeiträge der Parteien ermitteln und gegeneinander abwägen. Auf Seiten des Klägers stellte das Landgericht einen Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO fest: „Wer aus einem Grundstück […] hinweg auf die Fahrbahn einfahren […] will, hat sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen.
Den sich aus dieser Vorschrift ergebende Anscheinsbeweis sah das Berufungsgericht nicht als erschüttert an, weil kein atypischer Geschehensablauf vorlag. Der Kläger sei rückwärts von seinem Grundstück auf die Straße gefahren und sei vorher nicht selbst mit dem Lkw-Fahrer in Kontakt getreten. Durch den Zusammenstoß habe sich gerade die einem solchen Vorgang anhaftende Gefahr realisiert. Außerdem erfordere der Wortlaut von § 10 Satz 1 StVO, dass der Verkehrsteilnehmer selbst kontrolliere und darauf achte, dass sich diese Gefahr gerade nicht realisiere. Vorliegend schaltete der Kläger seine Ehefrau und die Nachbarin ein, um den Ausfahrvorgang zu koordinieren. Hierbei seien Übermittlungsfehler nicht auszuschließen. Der Kläger hätte vielmehr selbst kontrollieren müssen, dass es auf Seiten des Beklagten zu keinem Fehlverständnisse komme.
Dem Beklagten legt das Berufungsgericht einen Verstoß gegen § 1 II StVO zu Lasten: „Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“
Hätte der Lkw-Fahrer seinen Blick nach vorne gerichtet, als er nach vorne gerollt sei, wäre es ihm aufgrund der geringen Geschwindigkeit unproblematisch möglich gewesen, zum Stillstand zu kommen. Dem Beklagten sei kein Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO vorzuwerfen, weil sich der Lkw durch das erste Zurücksetzen nunmehr im fließenden Verkehr befunden habe, so das Berufungsgericht. § 10 StVO regele jedoch nur Sorgfaltspflichten für das Ein- bzw. Anfahren in den fließenden Verkehr.
Im Anschluss daran nahm das Berufungsgericht die erforderliche Abwägung dieser Verursachungsbeiträge vor und kam zu dem Schluss, dass beide Parteien für ihre Fahrzeuge eine Betriebsgefahr von 50 % tragen und jeweils zur Hälfte haften. Der klägerische Verstoß gegen § 10 Satz 1 StVO ziehe zwar die höheren Sorgfaltsanforderungen mit sich, wodurch die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs eigentlich zurücktrete, aber einem Lkw sei grundsätzlich eine höhere Betriebsgefahr als einem Pkw zu zusprechen.
Prüfungsrelevanz
Die Fälle zur Halterhaftung zählen zum besonderen Teil der gesetzlichen Schuldverhältnisse und können Dir daher schon in Deinem Grundstudium in Deiner Schuldrecht BT Vorlesung über den Weg laufen. Auf den ersten Blick sieht der Anspruch aus § 7 I StVG überschaubar und simpel aus: Kurze und knackige Anspruchsvoraussetzungen, die Du Dir wahrscheinlich gut einprägen kannst. Unbekannt dürfte für Dich auch nicht sein, dass im Schaden geprüft wird, wer welchen Verursachungsbeitrag/Mitverschulden trägt. Sind an dem Unfall allerdings zwei Kraftfahrzeugfahrer beteiligt, bildet diese Abwägung im Rahmen des Anspruchs aus § 7 StVG dann den eigentlichen Schwerpunkt der Prüfung und stellt die Prüflinge regelmäßig vor Schwierigkeiten. Hintergrund ist § 17 StVG. § 17 StVG zieht eine Schachtelprüfung mit sich, die Du als Prüfling kennen und beherrschen musst. Es lohnt sich daher, dass Du Dich in Deiner Prüfungsvorbereitung mit dem Prüfungsaufbau von § 17 StVG auseinandersetzt und weißt, wie die Absätze ineinander greifen.
Eine solche Klausur bietet sich auch ideal für Dein zweites Examen an und stellt unter der Rubrik „Verkehrsunfall“ einen der Klassiker im zweiten Examen dar. Diese spezielle Klausurkonstellation zieht Standardprobleme in Zulässigkeit und Begründetheit Deines Urteils oder Klage mit sich, auf die Du Dich gut vorbereiten kannst. Gerade in solchen Klausuren kommt es auf eine saubere und detaillierte Beweiswürdigung an, bei der Dir zunächst die Grundsätze über den Anscheinsbeweis helfen können, aber Du dennoch auf eine sachverhaltsnahe und detaillierte Argumentation achten solltest. Denn auch Anscheinsbeweise können durchaus entkräftet werden.
Resümee
Vielleicht denkst Du Dir ja gerade, dass ein solcher Klausurfall im Grundstudium eher unwahrscheinlich ist, weil insbesondere die StVO nicht in der dtV Ausgabe Deines zugelassenen Gesetzestextes zu finden ist. Diesen Gedanken solltest Du schnell wieder verwerfen, weil Prüfungsämter dieses „Hindernis“ einfach dadurch lösen, indem sie den fehlenden Gesetzestext unter den Klausursachverhalt abdrucken. Dies ist dennoch ein „Segen“ für Dich, weil Prüfungsämter in der Regel nur die zusätzlichen Normen abdrucken, die relevant sind. Das sollte für Dich natürlich heißen, dass Du die abgedruckten Normen tunlichst in Deine Klausurlösung einbauen solltest, weil diese höchstwahrscheinlich auch in der Lösungsskizze des Prüfungsamts auftauchen.
Stehst Du kurz vor Deinem zweiten Examen, solltest Du bei diesem Klausurtyp rein strategisch an Deine Lösung herangehen und Dir merken, dass Du solche Klausuren allein über die Beweislastverteilung und die daran anschließende Ergiebigkeit der Beweise lösen kannst. Die Lösung des Falls wird Dir daher in der Regel mit dem Klausursachverhalt mitgeliefert.
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