Auch Fahrradfahrer können Verkehrsrowdys sein

Auch Fahrradfahrer können Verkehrsrowdys sein

Schmerzensgeld bei einem provozierten Auffahrunfall?

Dass in zivilrechtlichen Examensklausuren sowohl im ersten als auch im zweiten Examen Verkehrsunfälle so beliebt sind, liegt daran, dass diese ständig vor Gericht enden. So musste sich das Landgericht Münster mal wieder mit Ansprüchen in Zusammenhang mit einem Auffahrunfall beschäftigen. Da der klagende Radfahrer das Urteil des LG Münsters nicht akzeptieren wollte, landete der Fall schließlich vor dem OLG Hamm. Aber auch das OLG Hamm sah in seiner Entscheidung den Anscheinsbeweis, der gegen den Auffahrenden spricht, als entkräftet an.

Was ist passiert?

Der klagende Radfahrer fuhr zunächst auf einer Hauptstraße hinter einem Pkw her. Der Pkw-Fahrer scherte unerwartet in den mittleren Bereich der Hauptstraße aus, um links in eine Spielstraße abzubiegen. Dabei setzte er keinen Blinker, der das Linksabbiegen für den Radfahrer angekündigt hätte. Der Radfahrer bog ebenfalls links in die Spielstraße ein. Anschließend überholte der Radfahrer den Pkw mit erhobener Faust und beleidigte den Pkw-Fahrer mit den Worten: „Du Penner.“ Nachdem er den Pkw überholt hatte, bremste der Radfahrer unvermittelt und abrupt ab. Der Pkw kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und berührte das Fahrrad. Der Radfahrer fiel daraufhin zu Boden und prellte sich seine linke Hüfte und seine linke Schulter. Die Versicherung des Pkw-Fahrers zahlte außergerichtlich vorab bereits einen Vorschuss i.H.v. 1000 Euro an den Radfahrer und stellte diesen Betrag zur freien Verrechnung.

Der Radfahrer erhob trotz dessen Klage vor dem Landgericht Münster und beantragte ein Schmerzensgeld, das einen Betrag von 5.000 Euro nicht unterschreiten sollte. Die Versicherung des Pkw-Fahrers erhob daraufhin Widerklage und forderte die Vorschusszahlung zurück.

Rechtlicher Hintergrund

Das Landgericht wies die Klage des Radfahrers ab und verurteilte den Radfahrer auf die Widerklage hin, die geleistete Vorschusszahlung an die Versicherung zurückzuzahlen. Der Radfahrer wollte sich mit diesem Ergebnis nicht zufriedengeben und legte Berufung vor dem OLG Hamm ein, welches die Berufung aber zurückwies.

Kommt ein solcher Fall im zweiten Examen in Deiner Examensklausur dran, handelt es sich um eine typische Beweisrechtsklausur. Der Schwerpunkt dürfte dann in der Beweiswürdigung liegen. Genauer gesagt in der Prüfung, ob der Auffahrende den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis entkräften kann.

Hier erklärte das Landgericht, dass dieser Grundsatz laut gefestigter Rechtsprechung aber schon entkräftet sei, wenn die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen, nicht für ein Verschulden des Auffahrenden sprechenden Geschehensablaufes vorliege. Da in der Regel neben einem Sachverständigengutachten dem Gericht nur Zeugenaussagen zur Verfügung stünden und dort oft Aussage gegen Aussage stehe, gelinge nicht immer die Nachweisbarkeit. Ein solch atypischer Geschehensablauf liege hier in der Provokation des Radfahrers.

Dabei hafte der Verkehrsteilnehmer, der absichtlich scharf abgebremst habe, um den nachfolgenden Verkehrsteilnehmer zu disziplinieren oder zu maßregeln, für die Folgen des Auffahrunfalls zu 100 %.

Diese Schlussfolgerung dürfte wohl dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechen. Problematisch in diesen Fällen ist oftmals die Nachweisbarkeit des Geschehensablaufs für die Richterinnen und Richter.

In diesem Fall sah das erstinstanzliche Gericht den Anscheinsbeweis als entkräftet an. Grund dafür war, dass der auffahrende Pkw-Fahrer sich in seiner Einlassung selbst belastete. Er habe laut dem LG Münster zugegeben, dass er keinen Blinker setzte, den Radfahrer berührte und dieser auf den Boden fiel. Hierbei handele es sich für den Pkw-Fahrer um eine unvorteilhafte Sachverhaltsangabe, die er frei geschildert habe. Das Landgericht stützt sich zudem auf die Zeugenaussage einer Passantin. Diese habe zwar den Zusammenstoß nicht gesehen, aber konnte das Geschehen im Vorfeld: „Überholen, Schneiden und Ausbremsen“ lebensnah und glaubhaft schildern. Diese Schilderung deckte sich laut Gericht zudem mit der Einlassung des Pkw-Fahrers.

Das OLG Hamm als Berufungsgericht sah in der Beweiswürdigung des LG Münsters keine tatsächlichen und rechtlichen Fehler und zog somit die Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts nicht in Zweifel. Das Berufungsgericht hat in diesem Zuge noch einmal hervorgehoben, dass die Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO nach freier Überzeugung des Gerichts erfolge. Hierfür müsse gerade keine mathematisch lückenlose Gewissheit vorliegen.

Der Anspruch der Versicherung auf Rückzahlung der Vorschusszahlung ergibt sich aus § 812 I 1 1. Alt. i.V.m. 812 II BGB. Erfolgt eine freiwillige Zahlung, solltest Du in Deiner Lösung immer an ein Anerkenntnis denken. Ist in einer freiwilligen Zahlung ein Anerkenntnis zu erblicken, besteht nämlich für den Rückzahlungsanspruch eine Einwendung. Das Landgericht wertete die Zahlung der Versicherung jedoch nur als vorläufige Zahlung.

Prüfungsrelevanz

Materiell-rechtlich gesehen handelt es sich bei diesem Fall sicherlich nicht um „Jura am Hochreck“. Aus diesem Fall kannst Du aber mitnehmen, dass für die Entkräftung des Anscheinsbeweises schon eine in sich schlüssige, lebensnahe und logische Einlassung des Auffahrenden, der auch ungünstige Sachverhaltsangaben schildert, wegweisend für die Beweiswürdigung sein kann.

Merke Dir für solche Klausurfälle, dass die Versicherung über § 86 I, § 115 I VVG ihre Ansprüche selbst geltend machen kann.

Solltest Du gerade erst vor Deinem ersten Examen stehen, ist dieser Fall aber auch für Dich interessant. Zwar ist es noch nicht erforderlich, dass Du in Deiner Examensklausur eine Beweiswürdigung vornehmen musst. Das Problem der jeweiligen Verursachungsbeiträge musst Du dennoch prüfen und ausführlich ansprechen – nur in einem anderen Kontext eingebettet. In Deiner gutachterlichen Fallprüfung solltest Du das Problem im Prüfungspunkt „Schaden“ im Zusammenhang mit der „Schadensminderung“ ansprechen. Normtechnisch kannst Du dies bei § 254 BGB anknüpfen.

Resümee

Die Anscheinsbeweise in der StVO sind für Richter:innen bei Verkehrsunfällen ein erster Ankerpunkt für die Einordnung und Bewertung der jeweiligen Verursachungsbeiträge. In dieser Fallkonstellation siehst Du, dass Anscheinsbeweise aber auch entkräftet werden können. Da die Beweiswürdigung gerade im Verkehrsrecht viel über Anscheinsbeweise vorgenommen wird, lohnt es sich, dass Du die Grundsätze hierzu präsent hast. Ein Tipp am Ende: Die Anscheinsbeweise, die in der StVO geregelt sind, kannst Du ganz einfach am Wortlaut der Norm erkennen. Überall dort, wo die Grundsätze des Anscheinsbeweises greifen, hat der Gesetzgeber folgende Formulierung in den Gesetzestext aufgenommen: „(…), dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist;“.

BlogPlus

Du möchtest weiterlesen?

Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.

Paket auswählen