Notwendige Protestaktion gegen den Autoverkehr oder gefährlicher, künstlicher Stau?
Die zentrale Bedeutung der Versammlungsfreiheit für unsere Demokratie wird nicht nur in den frühen Semestern in der Grundrechtevorlesung betont, sondern zeigt sich in politisch turbulenten Zeiten besonders deutlich. Ob Demonstrationen gegen Rechts, gegen Atomkraft oder allgemein für Klimaschutz – aus der Praxis lassen sich auch aus verwaltungsrechtlicher Sicht Klausuren für Studierende vom Grundstudium bis zum Examensniveau erstellen. Ob das Abseilen von der Autobahn dazugehören wird? Das wird sich zeigen.
Sachverhalt und Entscheidung des VG Stade
Für den 28.08.2024 plante eine Gruppe Demonstranten eine besondere Versammlung. An einem Brückenwerk über der A27 bei Bremen beabsichtigten sie die Übersteigung des Brückengeländers sowie eine Abseilaktion bei laufendem Autobahnverkehr unter dem Motto „Spruchbänder an Autobahnbrücken sind kein Verbrechen – Autobahnen schon! Klimaschutz und Verkehrswende statt Strafverfahren gegen Aktivistis!“ Zudem sollten Transparente angebracht werden. Hiermit wollten die Demonstrierenden auf ein Urteil des AG Achim aufmerksam machen, das für den 29.08.2024 erwartet wurde und sich inhaltlich um die strafrechtlichen Konsequenzen der Anbringung von Spruchbändern dreht.
Nach der Anmeldung der Versammlung reagierte die Stadt Achim mit Bescheid vom 26.08.2024. Durch verschiedene versammlungsrechtliche Nebenbestimmungen und unter Anordnung ihres Sofortvollzugs untersagte die Behörde die geplante Ausgestaltung der Versammlung. Nur eine Demonstration, die ausschließlich auf der Brücke stattfindet, wurde zugelassen. Damit wollten sich die Autobahngegner jedoch nicht zufriedengeben und wendete sich klageweise gegen den Bescheid. Wegen der zeitlichen Nähe zur geplanten Veranstaltung konnte eine rechtliche Überprüfung nur noch rechtzeitig per Eilrechtsschutz erfolgen. So beantragte die Anmelderin der Versammlung zusätzlich die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die mit dem Sofortvollzug versehene versammlungsrechtliche Nebenbestimmung. Dem folgte das VG Stade insofern, dass der Stadt Achim als Antragsgegnerin aufgegeben wurde, eine Sperrung der A27 zwischen den Anschlussstellen „Bremer Kreuz“ und „Achim Nord“ zwischen 12:00 Uhr und 13:00 Uhr am Versammlungstag zu veranlassen.
Das Gericht bildete zunächst den Grundsatz heraus, dass eine Sperrung von Autobahnen als nur für den Schnellverkehr bestimmte Fernstraßen zugunsten des allgemeinen kommunikativen Verkehrs nur ausnahmsweise in Betracht komme, „wenn die Wahl der Autobahn als Versammlungsort für eine effektive Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit unabdingbar sei“. Zugunsten der Antragstellerin spräche diesbezüglich die räumliche sowie zeitliche Nähe zur geplanten Entscheidung des AG Achim am 29.08.2024. Weil die Brücke, von der sich die Demonstrierenden abseilen wollen, sehr niedrig ist, sei die Durchführung der Aktion bei fließendem Verkehr in Anbetracht der Gefahren für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit nicht denkbar. Zum einen sei eine Kollision der herabhängenden Demonstranten mit Schwerlasttransportern nicht auszuschließen. Zum anderen könne auch eine wahrscheinliche Ablenkung der Verkehrsteilnehmer erfolgen. Jedoch ermögliche eine bloße Versammlung auf der Brücke selbst ohne weitere Abseilaktion nicht den „angestrebten Beachtungserfolg der Versammlung“. Der Grundsatz der praktischen Konkordanz zwischen der Versammlungsfreiheit der Antragstellerin aus Art. 8 I GG und der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gebiete somit eine einstündige Sperrung der Autobahn. In Hinblick auf die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, käme es voraussichtlich nicht zu unzumutbaren Beeinträchtigungen durch die kurze Sperrung.
Entscheidung des OVG Lüneburg
Während das VG Stade der Antragsgegnerin noch eine Vollsperrung der A27 für eine Stunde aufgab, änderte das niedersächsische OVG in Lüneburg auf die Beschwerde der Stadt Achim den Beschluss ab. Die Autobahn müsse am Tag der Demonstration lediglich zwischen 12:30 Uhr und 13:00 Uhr in beide Fahrtrichtungen für den Verkehr gesperrt werden, sobald die Demonstrierenden mit der Anbringung der Abseilvorrichtung starten. Dem Ergebnis nach zu urteilen, könnte man denken, dass der Senat dem VG Stade im Wesentlichen zugestimmt habe. Dem war jedoch nicht so.
Dass die unmittelbare Gefährdung von Leib und Leben der Kletterer sowie der unbeteiligten Verkehrsteilnehmer eine akute Gefährdung des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 II 1 GG darstellt, war für das Gericht evident. Wegen dieser Gefahren gebiete der Grundsatz der praktischen Konkordanz gerade keine Vollsperrung der Autobahn. Aufgrund der zentralen Verkehrsbedeutung der A27 im Nahbereich des Bremer Kreuzes als bedeutender Autobahnknoten bestünde ein besonders hohes Gefährdungspotenzial in Hinblick auf erwartbare Behinderungen und Rückstaus. Schon eine kurze Sperrung hätte tiefgreifende Folgen im gesamten Bremer Stadtbereich und Umland, denen -insbesondere wegen der Kürze der verbliebenen Zeit- nicht durch ein geeignetes Verkehrskonzept begegnet werden könne. Insofern habe das Grundrecht der Versammlungsfreiheit hinter den Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer und der Anrainer an den Umleitungsstrecken zurückzutreten.
Es wird ganz deutlich: Das OVG kann sich für die Entscheidung des VG Stade und seine Lösung über eine Autobahnsperrung nicht erwärmen. Die Krux dabei: Da die Stadt Achim als Antragsgegnerin lediglich die Reduzierung des Sperrungszeitpunkts beantragt hatte, war der Senat an diesen Antrag gebunden. Das Gericht durfte somit beispielsweise nicht über eine örtliche Verlegung der Demonstration entscheiden. Trotz seiner erheblichen Bedenken blieb dem Senat also nur, die Dauer der Sperrung zu reduzieren, da hierdurch jedenfalls eine gewisse Senkung der Stau- und Unfallgefahren verbunden sei.
Einordnung der Ereignisse vom 27.08.2024 und Fazit
Die Abseilaktion wurde schließlich am 27.08.2024 in die Tat umgesetzt: Dazu wurde die A27 auf etwa fünf Kilometern zwischen den Anschlussstellen Bremer Kreuz und Achim Nord entsprechend gesperrt. Wie vom OVG vorhergesehen, kam es tatsächlich auch zu erheblichen Verkehrsbehinderungen. Abgesehen von einem sechs Kilometer langen Stau ereignete sich ein Unfall, bei dem drei Fahrzeuge involviert waren. Eines überschlug sich, vier Menschen wurden verletzt. Anschließende Bergungs- und Aufräumarbeiten führten zu einer weiteren Sperrung auf der A27. So verwundert es nicht, dass die Deutsche Polizeigewerkschaft Kritik an der gerichtlichen Entscheidung übte und prognostizierte, dass auf diese Weise zukünftig weitere Staus provoziert werden könnten. Solche Staus würden nicht nur das Leben der Verkehrsteilnehmer gefährden, sondern auch das der eingesetzten Polizistinnen und Polizisten.
Eins ist klar: Die Konstellation spaltet die Geister. Da sich die Argumente beider Parteien hören lassen, sollte man in der Klausur nicht in Panik verfallen. Wer die Prüfung strukturiert angeht und die Argumente aus dem Sachverhalt aufgreift, wird unabhängig vom Ergebnis der eigenen gutachterlichen Lösung mit guten Punkten belohnt. Hier einen kühlen Kopf zu bewahren und unter angemessener Schwerpunktsetzung fertig zu werden- das ist die eigentliche Aufgabe, die man am besten mit regelmäßiger Klausurübung bewältigt.
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