§ 226 StGB - Kann Siechtum bei ungewisser Heilbarkeit angenommen werden?

§ 226 StGB - Kann Siechtum bei ungewisser Heilbarkeit angenommen werden?

Die Voraussetzungen von Siechtum im Sinne des § 226 StGB

Der Tatbestand des § 226 I Nr. 3 StGB besagt unter anderem, dass eine Körperverletzung dann schwer ist, wenn die verletzte Person in “Siechtum” verfällt. Aber was sind die Voraussetzungen für ein solches Siechtum? Ist der Tatbestand auch erfüllt, wenn die Heilungschancen unklar sind? Dazu positionierte sich der Bundesgerichtshof (BGH) in einem erschütternden Fall.

Die schreckliche Tat und die Bewertung des LG

Am Tattag fuhr das Opfer wie so oft mit ihrem (Noch-)Ehemann in seinem Auto zur gemeinsamen Arbeit und döste dabei ohne eine böse Vorahnung ein. Was sie nicht wusste, war, dass ihr Mann vorhatte, sie in diesem arglosen Moment zu töten. Mit zumindest bedingter Tötungsabsicht fuhr der spätere Angeklagte mit einer Geschwindigkeit von ca. 100 km/h gegen einen Baum. Er wollte nicht akzeptieren, dass seine Frau ihn für einen anderen Mann verlassen wollte. Die Frau überlebte schwer verletzt. Als Folge der Tat kann sie aufgrund der Verletzungen nicht länger als zehn Minuten schmerzlos stehen oder länger als eine Stunde sitzen. Neben den starken Schmerzen leidet die Frau seit der Tat an Depressionen. Laut Gutachten ist der weitere Heilungsverlauf unabsehbar. Zunächst hatte das Landgericht (LG) Augsburg über die Bewertung der Tat zu entscheiden. Es verurteilte den Angeklagten wegen versuchten Mordes (§§ 211, 22, 23 I StGB) in Tateinheit (§ 52 StGB) mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB) und vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren
.
Gegen dieses Urteil legte sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft das Rechtsmittel der Revision ein, sodass der BGH über den Fall zu entscheiden hatte.

Entscheidendes Urteil des BGH: Unheilbarkeit ist keine Voraussetzung

Der BGH hielt die Revision des Angeklagten für unbegründet. Die Karlsruher Richter hielten es vielmehr für rechtsfehlerhaft, ihn wegen des “Siechtums” des Opfers nicht auch wegen schwerer Körperverletzung (§ 226 StGB) zu verurteilen. Laut Definition bezeichnet Siechtum einen chronischen Krankheitszustand, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht, ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeiner Hinfälligkeit zur Folge hat. Das Tatbestandsmerkmal “verfällt” deute auf eine längere Dauer der Beeinträchtigung hin. Laut BGH ist diese Dauer aber nicht zwangsläufig mit einer Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genüge, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung nicht abzusehen ist. Dies treffe auf das Opfer zu: seit der Tat hat sie starke Schmerzen und Depressionen, ist wegen eines Quersyndroms behindert, bezieht Pflegegeld und ist arbeitsunfähig. Ob eine Besserung der Symptome wahrscheinlich ist, würde an der Bewertung als schwere Körperverletzung nichts ändern. Der § 226 I Nr. 3 StGB müsse daher weiter verstanden werden.

Ob der Angeklagte auch die Qualifikation gem. § 226 II StGB erfüllt hat, muss das Landgericht nun im Nachgang überprüfen. Sollte dem so sein, könnte der Angeklagte mit einer höheren Strafe rechnen.

(BGH, Urteil vom 11.05.2023 – 4 StR 421/22)