Zur Garantenstellung unter Freunden - Fortsetzung
Nachdem wir uns im ersten Teil unseres Urteilstickers mit dem Tatbestand der Aussetzung mit Todesfolge beschäftigt haben, schauen wir uns in diesem zweiten Teil den Totschlag durch Unterlassen und die unterlassene Hilfeleistung am Tatgeschehen um O an. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei stets die Frage nach der Garantenstellung unter Freunden.
Zum erleichterten Wiedereinstieg, hier noch einmal der Sachverhalt:
A. Sachverhalt
Der G ist der beste Freund des O und ein ehemaliger Arbeitskollege des M, ein guter Bekannter aus dem gemeinsamen Freundeskreis ist der L. Eines Abends fahren sie zusammen in eine Bar. Sämtliche Beteiligte konsumieren an den Wochenenden regelmäßig beträchtliche Mengen an Alkohol, nicht selten bis zum Eintritt von Rauschzuständen. Bereits während der Anfahrt trinken sie Bier und Wein. In der Bar bestellen sie neben drei Shisha-Pfeifen u.a. eine Flasche Wodka. Von dieser trinkt der von den G und M hierzu animierte O derart viel, dass er auf dem Weg zur Toilette stürzt, die glühende Kohle einer Shisha-Pfeife mit der bloßen Hand aufnimmt, vom Stuhl rutscht und eine Zeit lang auf dem Boden liegen bleibt. Der L hingegen, der an diesem Abend als Fahrer fungiert, trennt sich nach kurzer Zeit von der Gruppe und kehrt erst zurück, als er von dem G verständigt wird, um den gemeinsamen Heimweg anzutreten. Beim Verlassen der Bar benötigt O Hilfe beim Anziehen seiner Jacke und beim Treppensteigen, die er von den G und M bekommt. Andere Gäste der Bar sehen vor diesem Hintergrund davon ab, dem O zu helfen. L unterstützt weder G und M noch entfaltet er eigene Bemühungen. Vielmehr wird er von dem O auf dem Weg zum Parkhaus zunächst verbal und dann auch körperlich angegriffen. Nachdem L den O ohne große Kraftanstrengung zu Boden gebracht hat, läuft er vorweg, während jener, stark schwankend, in seinem Zustand völlig hilflos und zu keiner Risikoabwägung mehr fähig, abwechselnd von M und G beim Laufen gestützt und an der Hand geführt wird. Während die Gruppe einige Minuten vor dem Parkhaus steht, entfernt sich der O unbemerkt. Er stürzt hinter dem Parkhaus eine Böschung hinab und bleibt bäuchlings am Ufer eines Flutkanals liegen, wo M, G und L ihn wenig später finden. L verbleibt oberhalb der vier Meter hohen Böschung, die anderen beiden – M und G – steigen zu O hinab, der seinen Kopf kaum heben kann, schluchzt und mehrfach stöhnend gegenüber dem M äußert: „mir geht’s nicht gut“. Dieser filmt mit dem Mobiltelefon von G einige Szenen. Obwohl M, G und L bewusst ist, dass sich der O nicht mehr selbständig helfen kann, unternehmen sie mehrere Minuten lang keine Anstrengungen, um diesem beizustehen. G fordert die anderen zwar auf, den O die Böschung hinaufzubringen. Er setzt jedoch seine Ankündigung, einen Notruf abzusetzen, nicht um und unternimmt auch sonst nichts. Nachdem ihm nicht geholfen worden ist, versucht O mindestens fünf Sekunden lang, sich selbst aufzurichten, wobei er schließlich in den mehrere Meter breiten Flutkanal fällt. Währenddessen lacht jedenfalls der M laut auf. Der G schreibt derweil über das Geschehen eine Textnachricht an einen Bekannten. O, der sich nur kurzzeitig mit unkontrollierten Bewegungen über Wasser halten kann, entfernte sich aus dem Sichtfeld von M, G und L und ertrinkt innerhalb der nächsten Minuten. M, G und L suchen den O einige Zeit im Bereich des Parkhauses und der Einsturzstelle, bevor sie den Heimweg antreten. Noch in der Nacht schreibt G. Nachrichten an den O und fragt nach dessen Verbleib. Am nächsten Morgen erkundigt sich M per ebenfalls an den O gerichteter SMS nach dessen Wohlergehen. Der Leichnam wird am Abend nahe der Stelle gefunden, an der O ins Wasser gefallen war. O weist zum Todeszeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 2,36 Promille sowie eine erhebliche Konzentration eines Cannabispräparats auf. G hat zum Tatzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 0,8 bis 1,5 Promille, M eine solche von höchstens 1,2 Promille; L war nüchtern.
Wie haben sich M, G und L strafbar gemacht?
B. Entscheidung
II. Totschlag durch Unterlassen, §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB
M, G und L könnten sich wegen Totschlags durch Unterlasen nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem sie O ohne ihm zu helfen am Flutkanal zurückgelassen haben und dieser starb.
Der tatbestandliche Erfolg ist eingetreten; der O ist tot. Den L traf hier aber keine Garantenpflicht (s.o.). Und betreffend M und G ist fraglich, ob diese jeweils einen Tötungsvorsatz hatten. Dazu der BGH:
„III.3.a) Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei besonders gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalls an (…).
aa) Das Landgericht hat die gebotene Gesamtschau der bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände (…) vorgenommen und sich dabei nicht mit allgemeinen, formelhaften Wendungen begnügt. Es hat seine Überzeugung davon, dass sich der Vorsatz [von M und G] jeweils nicht auf eine Realisierung der erkannten Gefahr erstreckte, vielmehr mit auf den konkreten Fall abgestellten Erwägungen begründet.
bb) Insbesondere erweist sich die fehlende ausdrückliche Erörterung der vom Landgericht bejahten kognitiven Komponente des bedingten Tötungsvorsatzes nicht als rechtsfehlerhaft. Das Landgericht hat im Rahmen seiner Begründung des für § 221 Abs. 1 StGB erforderlichen Gefährdungsvorsatzes die Kenntnisse [von M und G] tragfähig dargestellt und gewürdigt. Eine erneute Darstellung dessen im Rahmen ihrer naheliegender Weise hierauf ebenfalls abstellenden Würdigung zum bedingten Tötungsvorsatzes war - auch eingedenk der unterschiedlichen Bezugspunkte von Gefährdungs- und Schädigungsvorsatz (…) - entbehrlich. Da die Gefahr begrifflich nichts anderes beschreibt als die naheliegende Möglichkeit einer Schädigung (…), bleibt beim Vorliegen eines auf die Gefahr des Todes bezogenen Vorsatzes kein Raum mehr für die Verneinung des kognitiven Elements eines bedingten Tötungsvorsatzes (…). Denn derjenige, der die Gefahrenlage für das Leben anderer erkennt und sich mit ihr abfindet, weiß um die Möglichkeit des Eintritts eines tödlichen Erfolgs (…).
b) Soweit die Revision einwendet, der mit bedingtem Vorsatz handelnde Täter habe regelmäßig kein Tötungsmotiv, ist dies im Ansatz zwar zutreffend (…), führt aber nicht zur Fehlerhaftigkeit der Erwägung des Landgerichts, das Fehlen eines solchen spreche in diesem Fall gegen ein vorsätzliches Handeln. Denn die Art der Beweggründe kann für die Prüfung von Bedeutung sein, ob der Täter nach der Stärke des für ihn bestimmenden Handlungsimpulses bei der Tatausführung eine Tötung billigend in Kauf nahm (…). Hier fehlt im Hinblick auf die festgestellte enge Freundschaft des [G] zum [O] und den Verlauf des Abends ein einsichtiger Grund dafür, dass [M und G] in der konkreten Situation seinen Tod billigend in Kauf genommen hätten.
c) In nicht zu beanstandender Weise hat das Landgericht bei der Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz auch das Nachtatverhalten [von M und G] und hier insbesondere die von ihnen versendeten Chatnachrichten herangezogen (…). Seine Ausführungen lassen dabei weder besorgen, dass es den zur Beurteilung der Vorsatzfrage maßgebenden (Tat-)Zeitpunkt verkannt hat, noch deutet die Wendung „nur dadurch“ darauf hin, dass es andere Interpretationsmöglichkeiten von vornherein außer Acht gelassen hat. Der gezogene Schluss – [M und G] hätten im Tatzeitpunkt auf ein gutes Ende vertraut - ist jedenfalls revisionsrechtlich hinzunehmen.
d) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht schließlich die alkoholbedingte Enthemmung [von M und G] als weiteren Umstand zur Entkräftung des Tötungsvorsatzes in den Blick genommen. Dies ist auch in Fällen geboten, in denen das Tatgericht eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit bejaht (…), so dass sich das Landgericht nicht in Widerspruch zu seinen vorhergehenden Feststellungen gesetzt hat. Ohne Einfluss bleibt, dass diese nicht rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, weil eine erhebliche Alkoholisierung [von M und G] mit enthemmender Wirkung nicht in Zweifel steht.“
M und G haben damit nicht vorsätzlich gehandelt.
Weder L noch M und G haben sich wegen Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht.
III. Unterlassene Hilfeleistung, § 323c Abs. 1 StGB
L hat sich aber wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Indem der O die Böschung hinter dem Parkhaus am Flutkanal hinab fiel und dort anschließend aufgrund seines massiv intoxikierten Zustands hilflos liegen blieb, kam es zu einem Unglücksfall i.S.d. § 323 c Abs. 1 StGB. Ein solcher Unglücksfall ist jedes plötzliche Ereignis, das erheblichen Schaden an Menschen oder Sachen verursacht und weiteren Schaden zu verursachen droht. In dem Merkmal „Unglücksfall“ ist das Erfordernis der Gefahr drohender weiterer Schäden enthalten, die zu vereiteln oder jedenfalls abzumildern im Rechtsgut angelegt ist; für das entsprechende Gefahrenurteil kommt es auf eine objektivierte ex-ante-Sicht an. Ein solcher „Unglücksfall“ war hier gegeben. Aufgrund des Sturzes des O hinunter an das Ufer des Flutkanals drohte diesem aufgrund seines körperlichen Zustands weiterer erheblicher Schaden. O befand sich dabei in einen Zustand, in welchem er zu keinen koordinierten Körperbewegungen mehr befähigt war bzw. eine hierfür erforderliche Körperspannung nicht mehr aufbauen konnte, bei nahezu vollständiger Dunkelheit in unmittelbarer Nähe zu dem Flutkanal. In diesem „Unglücksfall“ hat L die Ergreifung der hierbei erforderlichen und ihm auch möglichen sowie zumutbaren Hilfeleistungen gegenüber O unterlassen. Ihm hätte es oblegen, eigenständig und ohne Zustimmung bzw. Mitwirkung von M und G eine entsprechende Rettungshandlung durchzuführen bzw. einen Hilferuf abzusetzen und hilfsbereite Dritte herbeizuholen. Eine solche Rettungshandlung hätte dabei in Form der tatsächlichen Absetzung eines Rettungsnotrufes oder aber auch unter Hinzuziehung von Dritten oder durch Rufe oder Schreie erfolgen können. L handelte bei der Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale mit zumindest bedingtem Vorsatz. Ihm war bewusst, in welcher hilflosen Lage der O sich an dem dortigen Uferstreifen des Flutkanals aufgrund seines vorherigen Sturzes sowie der bestehenden massiven Intoxikation befand. Auch ihm (L) war spätestens infolge der gemeinsamen Rückkehr zu dem Parkhaus bewusst, in welchem miserablen körperlichen Zustand sich O befand.
Soweit sich auch M und G jeweils nach § 323c Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, tritt dieser Tatbestand hinter die jeweils verwirklichte Aussetzung (mit Todesfolge) im Wege der Subsidiarität zurück.
C. Ergebnis
M und G haben sich jeweils wegen Aussetzung mit Todesfolge nach § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB strafbar gemacht, L hat sich wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB strafbar gemacht.
Hinweis: Das Landgericht, dessen Urteil sowohl M und G als auch die Hinterbliebenen des O (als Nebenkläger) mit ihren – erfolglosen – Revisionen angegriffen haben, hat M und G sowie L entsprechend verurteilt und Freiheitsstrafen von fünf Jahren und sechs Monaten (G), vier Jahren und sechs Monaten (M) bzw. von sechs Monaten (L) – deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde – verhängt.
Die Bewilligung der Bewährung war zwar rechtsfehlerhaft, weil die verhängte Strafe wegen der angerechneten Untersuchungshaft des L (§ 51 Abs. 1 StGB) im Zeitpunkt der Verurteilung bereits voll verbüßt war; aufgrund der beschränkten Kontrollbefugnis bei einer durch die Nebenklage eingelegten Revision (§ 400 Abs. 1 StPO) bestand aber keine rechtliche Möglichkeit, das Urteil insoweit abzuändern.
D. Prüfungsrelevanz
Der vom 6. Strafsenat des BGH im sog. „Flutkanal-Prozess“ entschiedene Fall beleuchtet die strafrechtlichen Folgen einer „Sauftour“, die mit dem Tod eines Beteiligten durch Ertrinken geendet hat. Im Zentrum der Betrachtung steht die Frage, ob die Täter – die mit dem späteren Opfer befreundet bzw. bekannt gewesen sind – eine Garantenstellung innehatten, die sie zum Tun verpflichtet hatte und die eine Strafbarkeit wegen Aussetzung nach § 221 StGB nach sich gezogen hat. Eine Garantenpflicht der tatsächlichen Übernahme gegenüber dem aufgrund seines Alkoholkonsums weitgehend handlungsunfähig gewordenen Opfer resultierte hier daraus, dass der Geschädigte darauf vertrauen durfte, dass seine Begleiter ihm Schutz gewähren, und deshalb andere Rettungsmöglichkeiten ungenutzt blieben, diese ihn aber aus der Bar und damit dem helfenden Zugriff der dortigen Personen herausgeführt hatten. Der Hilfsbedürftige war auch nicht aufgrund freien Entschlusses dazu in der Lage, über die Beendigung des Schutzes durch seine Begleiter nach dem Verlassen der Lokalität selbst zu entscheiden. Das spätere Tatopfer blieb als insbesondere beim Erreichen des Ufers des Flutkanals von den potentiellen Hilfeleistungen seiner Freunde abhängig – die aber ausblieben, was zum Tod durch Ertrinken führte.
Hinsichtlich eines ebenfalls in Betracht kommenden Totschlags durch Unterlassen fehlten jeweils die subjektiven Voraussetzungen bei den Beteiligten, weil diese im Zeitpunkt ihrer Tat(nicht-)handlungen vor Ort den Tod ihres Kameraden nicht zumindest billigend in Kauf genommen hatten. Dass sie sich nachfolgend über den Zustand des – dann schon ertrunkenen – Freund ausgetauscht hatten, sprach jedenfalls indiziell gegen die Annahme eines Wissens und Wollens der Tatbestandsverwirklichung.
Der Sachverhalt ist äußerst praxisnah und eignet sich zudem hervorragend für die Strafrechtsprüfung!
(BGH, Urteil vom 21.9.2022 – 6 StR 47/22)
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