
Die Klägerin, Mieterin einer Erdgeschosswohnung, stürzte auf ihrer im Umbau befindlichen Terrasse über unebene Platten, obwohl sie um die Baustelle wusste. Sie verlangte daraufhin Schmerzensgeld vom ausführenden Bauunternehmen – mit Erfolg? Die Entscheidung des OLG Hamm zeigt Dir in seinem Beschluss vom 17.01.2025 (Az. 7 U 114-23) lehrbuchhaft auf, unter welchen Voraussetzungen eine Verkehrssicherungspflicht verletzt ist und wie ein Mitverschulden der Geschädigten die Haftung beeinflusst. Ideal zur Wiederholung für das Examen, die Klausurvorbereitung oder das AG-Falltraining.
Sturz auf eigener Baustelle - Der Sachverhalt im Überblick
Die Klägerin, Mieterin einer Erdgeschosswohnung, stürzte im Winter auf ihrer Terrasse, die sich aufgrund laufender Bauarbeiten in einem provisorischen Zustand mit uneben verlegten Platten befand. Obwohl sie um die Baustelle wusste, betrat sie die Terrasse bei Dunkelheit, um nach möglichen Eindringlingen im Garten zu sehen. Nachdem sie niemanden entdeckte, wollte sie zügig wieder ins Warme zurückkehren. In Eile achtete sie jedoch nicht auf die Bodenverhältnisse, obwohl ihr die Unebenheiten aufgrund der laufenden Arbeiten bekannt waren. Sie stolperte über eine hervorstehende Platte und stürzte.
Die Klägerin forderte von der mit der Sanierung beauftragten Baufirma Schmerzensgeld wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht. Die Firma wies eine Haftung zurück – sie berief sich auf das eigene Verhalten der Klägerin und ihre Kenntnis der Gefahrenlage.
Die Entscheidung des OLG Hamm - Verkehrssicherungspflicht vs. Mitverschulden
Das OLG Hamm gelangte zu dem Ergebnis, dass kein Anspruch auf Schadensersatz besteht, da die beklagte Baufirma bereits keine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Zudem schließe das weit überwiegende Mitverschulden der Klägerin eine Haftung aus.
Ein deliktischer Anspruch aus §§ 823 I, 249 I, 253 II BGB sowie §§ 823 II BGB, § 229 StGB scheitere bereits am haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmal: Verletzungshandlung (1.). Der Vollständigkeit halber geht das Gericht auch auf das im Einzelfall einschlägige, haftungsausfüllende Tatbestandsmerkmal: Mitverschulden gem. § 254 I BGB (2.) ein.
1. Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht
Dem Gericht zufolge fehle es bereits an einer haftungsbegründenden Gefahr – es bedurfte keinerlei Maßnahmen zur Absicherung der Bodenunebenheiten seitens der Beklagten.
Die Baufirma habe den erforderlichen Sicherheitsgrad eingehalten, den die herrschende Verkehrsauffassung für einen privaten Terrassenbereich erforderlich hält, denn
die Terrasse war ausschließlich der Klägerin und ihrem Ehemann zugänglich – eine Nutzung durch Dritte war nicht zu erwarten;
die Klägerin wusste um die Gefahrenlage, da sie täglich mit dem Zustand der Baustelle konfrontiert war;
mit einer Nutzung der Terrasse musste zur winterlichen Jahreszeit und bei Dunkelheit nicht gerechnet werden.
Zur Wiederholung für Deine Klausur
Wer in seinem Verantwortungsbereich eine Gefahr für Dritte schafft oder andauern lässt, ist verpflichtet, diejenigen - erforderlichen und zumutbaren - Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um Rechtsgutsverletzungen zu verhindern. Sie ist jedoch nicht grenzenlos ausgestaltet – eine generelle „Gefahrverhütungspflicht“ gibt es nicht! Maßgeblich ist, ob der Verkehr (also unbeteiligte Dritte) mit der konkreten Gefahrenquelle in Berührung kommt und ob die Gefährdung über das übliche Maß hinausgeht; mit den Risiken also gerade nicht gerechnet werden musste.
2. Mitverschulden, § 254 I BGB
Unabhängig davon scheide laut OLG ein Anspruch auch deswegen aus, weil die Klägerin ein weit überwiegendes, den Schadensersatz im vorliegenden Einzelfall ausschließendes Mitverschulden nach § 254 I BGB treffe.
Das Mitverschulden stelle sich als eine ganz besondere, schlechthin unverständliche Sorglosigkeit der Klägerin dar, denn
sie habe “in Kenntnis der Unebenheiten sowie fehlender Absicherung des Baustellenbereiches und der fehlenden Beleuchtung bei Dunkelheit die Terrasse betreten”,
der Beweggrund des alleinigen Suchens nach Eindringlingen stelle sich als “grob unvernünftig” dar
und sie habe beim Zurückgehen ins Warme aus Eile “jegliche Vorsicht außer Acht gelassen und überhaupt nicht auf die Bodenunebenheiten geachtet”.
Entscheidend sei das Mitverschulden (§ 254 I BGB): Die Klägerin habe sich bewusst einer ihr bekannten Gefahr ausgesetzt und dabei jegliche Sorgfalt außer Acht gelassen. Das Gericht qualifizierte ihr Verhalten als „grob fahrlässig“, sodass eine etwaige Pflichtverletzung der Beklagten vollständig hinter das eigene Fehlverhalten der Klägerin zurücktrete.
Ein vertraglicher Schadensersatzanspruch aus §§ 280 I, 241 II, 249 I, 253 II BGB scheitere am inhaltlich deckungsgleichen haftungsbegründenden Tatbestandsmerkmal: Pflichtverletzung sowie am Mitverschulden, § 254 I BGB. Das OLG Hamm verweist zur Begründung auf die obigen Ausführungen zum deliktischen Schadensersatzanspruch siehe (1.) und (2.)
Daher führen weder ein Anspruch aus §§ 823 I, 249 I, 253 II BGB, aus § 823 II BGB, § 229 StGB noch aus §§ 280 I, 241 II, 249 I, 253 II BGB zum gewünschten klägerischen Erfolg.
Klausurtipp
Die vertraglichen Rücksichtnahmepflichten nach §§ 280 I, 241 II BGB sowie die Verkehrssicherungspflichten nach §§ 823 I BGB decken sich vielfach in ihren Voraussetzungen sowie ihrem Umfang. Heißt für Deine Klausur: Die Ansprüche bleiben nebeneinander bestehen und sind in der Reihenfolge Vertrag – Vertrauen – Gesetz zu prüfen!
Versuche allerdings beim gutachterlichen Aufbau Dopplungen zu vermeiden und prüfe die Problemfelder: Verkehrssicherungspflicht und Mitverschulden nur an einer Stelle ausführlich im Gutachtenstil und verweise im Rahmen der weiteren Anspruchsgrundlage auf die Ausführungen. Das verschafft Dir nicht nur wertvolle Zeit in der Klausurbearbeitung, sondern signalisiert dem Korrektor zugleich ein präzises Problemverständnis und methodisches Vorgehen.
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