Führt ein zur Selbsttötung entschlossenes Opfer die zum Tode führende Handlung selbst aus, dann ist der diese Handlung veranlassende Dritte nur dann Täter, wenn ihm über § 25 I Alt. 2 StGB die Handlung als mittelbarer Täter zugerechnet werden kann. Diese Zurechnung ist nicht möglich, wenn das Opfer einen freiverantwortlichen Suizid begeht. Die Abgrenzungskriterien hat der BGH erneut ausführlich dargestellt.
A. Sachverhalt
A suchte auf Internet-Plattformen gezielt Kontakte zu finanziell unabhängigen, älteren Männern. Dort traf er auf den 30 Jahre älteren, vermögenden N, mit dem er eine Beziehung einging. N unterstützte A großzügig finanziell und setzte ihn schließlich testamentarisch zu seinem Alleinerben ein. Im Laufe der Zeit entwickelte N eine emotionale Abhängigkeit von A. Dieser wurde zu seiner wichtigsten Bezugsperson, was zunehmend dadurch verstärkt wurde, dass A den N gezielt von seinem sozialen Umfeld löste und ihn unter seine Kontrolle brachte. Nachdem beide eine gemeinsame Wohnung bezogen hatten, verschlechterte sich die Beziehung dramatisch. A bedrohte, demütigte und verletzte den 77 - jährigen N wiederholt körperlich. Er gab ihm das Gefühl, wertlos und nur noch ein Klotz am Bein zu sein. Dies stürzte N in eine tiefe Depression, was A erkannte.
Schließlich fasste A den Entschluss, N zu töten, wobei er die Handlung nicht selbst ausführen wollte. Vielmehr wollte er den depressiven, emotional instabilen und von ihm abhängigen N in den Selbstmord treiben. Zu diesem Zweck begab er sich in die 60 Kilometer entfernt liegende Ferienwohnung und telefonierte bis in die Nacht hinein über einen Zeitraum von mehr als 8 Stunden mit N. Bei diesem Telefonat setzte er ihn massiv unter Druck, indem er ihm z.B. körperliche Gewalt androhte für den Fall, dass er sich nicht selbst umbringe. N war nach Beendigung des Telefonats um 02:37 Uhr dermaßen nervlich zerrüttet, dass er sich – wie von A erhofft und gewollt - in der Küche mit einem Messer gezielt Stiche im Halsbereich zufügte. A rief N dann gegen 03:32 Uhr mehrfach an. Als dieser seine Anrufe nicht entgegennahm, ging A davon aus, N habe sich selbst getötet. Um sich nach außen als aufopferungsvollen Freund darzustellen, alarmierte er die Polizei. Die Rettungskräfte fanden den bewusstlosen N und brachten ihn in die Notaufnahme eines Krankenhauses, wo er ärztlich versorgt wurde. Die Stiche waren für sich genommen nicht lebensbedrohlich.
B. Entscheidung
Das LG Paderborn verurteilte A u.a. wegen versuchten Totschlags in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 212, 22, 25 I Alt. 2 StGB. Der BGH (Beschl. v. 25.10.2023 – 4 StR 81/23) bestätigte diese Verurteilung.
Zunächst einmal erscheint es beim Lesen des Sachverhalts erstaunlich, dass A nicht wegen versuchten Mordes in mittelbarer Täterschaft verurteilt worden ist. Als Mordmerkmal kommt zum einen die Habgier in Betracht, denn das Interesse des A war jedenfalls zum Zeitpunkt des Eingehens der Beziehung ausschließlich finanzieller Natur. Zudem hatte N ihn als Alleinerben in seinem Testament eingesetzt. Darüber hinaus könnte man auch über niedrige Beweggründe nachdenken, sofern A den N töten wollte, weil er ihm lästig war. Das Landgericht schien jedoch von dem Vorhandensein dieser Motive bei Begehung der Tat nicht überzeugt gewesen zu sein, weswegen nur eine Verurteilung wegen versuchtem Totschlag ausgesprochen wurde.
Schauen wir uns also an, wie Du den versuchten Totschlag in mittelbarer Täterschaft in einer Klausur prüfen würdest und wie der BGH die Abgrenzung zwischen strafloser Teilnahme am Suizid und strafbarer Täterschaft vornimmt.
Strafbarkeit gem. §§ 212, 22, 25 I Alt. 2 StGB
I. Vorprüfung
Der Totschlag ist ein Verbrechen und damit gem. § 23 I StGB als Versuch strafbar. Der Tod des N ist nicht eingetreten, sodass die Tat nicht vollendet wurde.
II. Tatentschluss
Der Tatentschluss müsste sich zunächst auf das, durch eine Handlung kausal und zurechenbare Herbeiführen des Todes als tatbestandlichen Erfolg beziehen. A ging nach Beendigung des Telefonats davon aus, dass N sich selbst töten werde. Der entsprechende Tatentschluss kann insoweit bejaht werden.
Da N nach der Vorstellung des A die Tathandlung ausführen sollte, stellt sich die Frage, ob diese Handlung A gem. § 25 I Alt. 2 StGB zugerechnet werden könnte. Der eigene, von A vorgestellte Verursachungsbeitrag kann in dem Einwirken auf N gesehen werden.
Dieser Beitrag könnte jedoch nur eine straflose Teilnahme an einem eigenverantwortlichen Suizid des N sein. Dazu führt der BGH Folgendes aus:
„Die eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbsttötung erfüllt nicht den Tatbestand eines Tötungsdelikts … Daher ist auch die Veranlassung, Förderung oder Ermöglichung der Selbsttötung durch einen Dritten ohne Rücksicht auf die Lauterkeit seiner Motive grundsätzlich als strafloses Verhalten zu bewerten.“
Diese Straflosigkeit setzt jedoch eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Opfers voraus. Fehlt es an einer solchen, dann kommt eine Strafbarkeit des Dritten als mittelbarer Täter in Betracht. Dazu führt der BGH Folgendes aus:
„Zur Abgrenzung von Eigen- und Fremdverantwortung bei selbstschädigenden Handlungen des Opfers unter Beteiligung eines Dritten ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine normative Betrachtung geboten.
Eine Strafbarkeit wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft setzt voraus, dass derjenige, der allein oder unter Mitwirkung eines Dritten Hand an sich legt, nicht freiverantwortlich handelt. … Denn nur in Fällen, in denen der Suizidentschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizits nicht freiverantwortlich gebildet ist, kann der sich selbst Tötende bei wertender Betrachtung als „Werkzeug gegen sich selbst“ angesehen werden.“
Wie nun die Abgrenzung zwischen einer straflosen Teilnahme an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung und strafbarer täterschaftlicher Fremdgefährdung vorzunehmen ist, wird in der Literatur unterschiedlich behandelt.
Die Exkulpationslösung begreift das unmittelbar handelnde Opfer als „Täter gegen sich selbst“ und nimmt die Abgrenzung nach den Regelungen über den strafrechtlichen Verantwortungsausschluss vor (Roxin NStZ 1984, 97). Handelt das sich selbst verletzende Opfer gem. §§ 19, 20, 35 StGB, 3 JGG ohne eigene Verantwortung, dann kann es nach dieser Auffassung als unfreies Werkzeug des Täters angesehen werden.
Die überwiegend vertretene Einwilligungslösung (Wessels/Beulke/Satzger StrafR AT, Rn. 272ff) begreift das unmittelbar handelnde Opfer als „Opfer seiner selbst“ und nimmt die Abgrenzung anhand der Kriterien vor, die bei der rechtfertigenden Einwilligung und damit beim Rechtsgüterverzicht relevant werden. Danach muss das Opfer eine natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit besitzen und die Tragweite seines Entschlusses erkennen. Darüber hinaus muss der Entschluss frei von Täuschung, Drohung und Zwang gefasst worden sein. Zunehmend wird vertreten, dass der Wille auch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Festigkeit aufweisen muss.
Der BGH scheint der Einwilligungslösung nahezustehen, auch wenn er dies nicht ausdrücklich benennt. Vorliegend führt er zur Abgrenzung Folgendes aus:
„Ob ein Suizidentschluss in diesem Sinne als freiverantwortlich zu bewerten ist, hängt ‒ ähnlich wie die im Rahmen des § 216 StGB zu beantwortende Frage der Ernstlichkeit des Tötungsverlangens ‒ davon ab, ob der Suizident über die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt und fähig ist, seine Entscheidung autonom und auf der Grundlage einer realitätsbezogenen Abwägung der für und gegen die Lebensbeendigung sprechenden Umstände zu treffen. …
Der Rechtsgutsinhaber, der sein Leben beenden will, muss in der Lage sein, Bedeutung und Tragweite dieses Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken und eine abwägende Entscheidung zu treffen…Hieran kann es namentlich bei Vorliegen akuter psychischer Störungen…intoxikationsbedingter Defizite….oder bei fehlender Verstandesreife eines Minderjährigen… fehlen. Des Weiteren müssen dem Betroffenen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte tatsächlich bekannt sein, um ihm eine realitätsgerechte Abwägung des Für und Wider auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage zu ermöglichen….
An einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung kann es daher auch infolge der Ausübung von Zwang, Drohung oder Täuschung und aufgrund sonstiger Formen unzulässiger Einflussnahme fehlen, sofern diese geeignet sind, eine reflektierende, abwägende Entscheidung orientiert am eigenen Selbstbild zu verhindern oder wesentlich zu beeinträchtigen. … Schließlich kann von einer Freiverantwortlichkeit eines Selbsttötungsentschlusses nur ausgegangen werden, wenn er eine gewisse „Dauerhaftigkeit“ und „innere Festigkeit“ aufweist und nicht lediglich einer depressiven Augenblicksstimmung entspringt.“
Nach allen zuvor genannten Auffassungen kann nicht von einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des N ausgegangen werden, auch nicht unter Berücksichtigung der insoweit allein maßgeblichen Vorstellung des A. Dieser kannte die psychisch labile Situation des N, hatte sie sogar durch sein Einwirken auf diesen massiv verstärkt. Deswegen führt der BGH Folgendes aus:
„Der Geschädigte N. verfügte infolge des Zusammenwirkens von schwerer Depression und des vom Angeklagten zielgerichtet auf die Herbeiführung des Suizidentschlusses gerichteten bereits seit einigen Wochen entfalteten und in dem über mehrere Stunden dauernden Telefonat gesteigerten psychischen Drucks und die hierdurch bewirkte emotionale Destabilisierung nicht über die erforderliche natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit. Auch die weitere tatgerichtliche Wertung, der Suizidentschluss sei mangelbehaftet, weil es an der erforderlichen „inneren Festigkeit“ bzw. „Dauerhaftigkeit“ fehle, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Nach den tatgerichtlichen Feststellungen handelte es sich ungeachtet des vom Geschädigten verfassten Abschiedsbriefs weder um einen sog. „Bilanzselbstmord“ noch um einen von ernsthaftem Sterbewillen getragenen Suizidversuch. Vielmehr hielt der Geschädigte – in der Tatsituation hochgradig überfordert und affektiv labilisiert – dem Einfluss des Angeklagten nicht stand und gab diesem letztlich nach.“
Die Verneinung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung führt allerdings noch nicht zur Bejahung der mittelbaren Täterschaft. Diese setzt vielmehr - auch nach Auffassung des BGH - eine Tatherrschaft kraft überlegenen Wissens oder Wollens voraus. Der BGH führt dazu Folgendes aus:
„Die Annahme mittelbarer Täterschaft einer durch das Tatopfer vermittelten Tötung setzt nicht voraus, dass der Hintermann den die Freiverantwortlichkeit beeinträchtigenden Wissens- oder Willensmangel des Tatopfers hervorgerufen hat. Es genügt insoweit, wenn der Hintermann erkennt, dass der Selbsttötungsentschluss des Tatopfers mangelbehaftet ist…und er diesen Umstand dazu nutzt, um den Geschädigten kraft überlegenen Wissens oder Willens zum Suizid zu veranlassen. In Fällen, in denen sich das Tatopfer aufgrund einer emotionalen Abhängigkeit oder wegen eines engen Vertrauensverhältnisses zum Täter als besonders empfänglich für dessen Suggestionen erweist, die es bei wertender Betrachtung zu einem „Werkzeug gegen sich selbst“ machen, entlastet dies den Täter nicht …Dies gilt losgelöst von der Motivation, mit der sich der Täter die Psyche seines Opfers erschlossen hat.“
Zwar war N an einer schweren Depression erkrankt, gleichwohl beherrschte A sein Opfer kraft überlegenen Wollens. Die massive, stundenlange Einwirkung auf N sowie das Beleidigen, Einschüchtern und Drohen führte dazu, dass N sich schließlich dem Willen des A unterwarf. Aus diesem Grund bejahten sowohl das Landgericht als auch nachfolgend der BGH die Tatherrschaft.
Die Handlung des N könnte damit dem A gem. § 25 I Alt. 2 StGB zugerechnet werden. Der Tatentschluss gerichtet auf die Tötung des N in mittelbarer Täterschaft kann damit bejaht werden.
III. Unmittelbares Ansetzen
Da das Opfer und damit das Werkzeug bereits die Tathandlung ausgeführt hat, liegt nach allen Auffassungen ein unmittelbares Ansetzen vor.
IV. Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich.
V. Rücktritt
Ein strafbefreiender Rücktritt gem. § 24 I StGB kommt nicht in Betracht. Zwar informierte A die Polizei. Dies tat er aber nicht, um die Tatausführung aufzugeben, sondern um seine Täterschaft zu verschleiern. Zudem ging er davon aus, die Tat bereits vollendet zu haben.
Ergebnis
A hat sich damit gem. §§ 212, 22, 25 I Alt. 2 StGB strafbar gemacht.
C. Prüfungsrelevanz
Die Abgrenzung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung von der einverständlichen Fremdgefährdung ist von großer Klausurrelevanz, zumal sich die Rechtsprechung in den letzten Jahren zu diesem Punkt geändert hat. So ist mittlerweile eine aufgedrängte Heilbehandlung eines Arztes gegen den Willen des Patienten strafbar, ein Unterlassen der Heilbehandlung mithin straflos. Überreicht also der Hausarzt dem sich eigenverantwortlich selbstgefährdenden Opfer ein Medikament, welches nach Einnahme zum Tode führt, dann liegt weder in der Übergabe des Medikaments noch in dem anschließenden Unterlassen der Hilfe durch den noch anwesenden Hausarzt ein strafbares Verhalten. Von dem hier früher angenommenen Tatherrschaftswechsel nach Eintritt einer eventuellen Bewusstlosigkeit hat sich der BGH mittlerweile verabschiedet, allerdings nur, sofern es sich um einen freiverantwortlichen Suizid handelt.
(Beschl. v. 25.10.2023 – 4 StR 81/23)
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