Die (mutmaßliche) Einwilligung

Die (mutmaßliche) Einwilligung

Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung sind ungeschriebene Rechtfertigungsgründe.1 Beide sind gewohnheitsrechtlich2 anerkannt und bedürfen in der Fallbearbeitung keiner besonderen Herleitung.

Die (mutmaßliche) Einwilligung lässt nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit, sondern erst die Rechtswidrigkeit der Tat entfallen.3 Dies gilt beispielsweise für die Zustimmung zu einer Körperverletzung oder Sachbeschädigung. Davon zu unterscheiden ist das tatbestandsausschließende Einverständnis. Setzt der objektive Tatbestand ein Handeln gegen oder ohne den Willen des Berechtigten voraus, lässt das Einverständnis schon die Tatbestandsmäßigkeit entfallen. Beispiele: Wegnahme beim Diebstahl, Eindringen beim Hausfriedensbruch.

Prüfungsaufbau

Die Voraussetzungen der rechtfertigenden Einwilligung sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:4

Prüfungsschema: Rechtfertigende Einwilligung

  1. Objektive Rechtfertigungselemente
    1. Disponibilität und Verfügungsbefugnis
    2. Einwilligungsfähigkeit
    3. Einwilligungserklärung
  2. Subjektives Rechtfertigungselement: Handeln in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung

Disponibilität und Verfügungsbefugnis

Das Rechtsgut muss disponibel sein. Verfügbar sind allenfalls5 höchstpersönliche Individualrechtsgüter, nicht hingegen Rechtsgüter der Allgemeinheit; letztere sind von vornherein nicht einwilligungsfähig.6

Beispiele: In eine Körperverletzung (§ 223 StGB) oder Sachbeschädigung (§ 303 I StGB) kann rechtfertigend eingewilligt werden, nicht hingegen in eine Falschaussage vor Gericht (§§ 153, 154 StGB) oder in eine Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB).

Verfügungsbefugt ist der Inhaber des Rechtsguts.

Fehlt dem Inhaber die Einwilligungsfähigkeit, wird die Verfügungsbefugnis bei natürlichen Personen durch dessen gesetzlichen Vertreter ausgeübt.7 Bei juristischen Personen obliegt die Erteilung der Einwilligung den organschaftlichen Vertretern.8

Einwilligungsfähigkeit

Der Einwilligende muss nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande sein, Wesen, Bedeutung und Tragweite des fraglichen Eingriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen; dabei sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je gewichtiger der Rechtsgutsangriff und je schwerer die (drohenden) Folgen sind.9 Maßgeblich ist die tatsächliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Rechtsgutsinhabers.10

Einwilligungserklärung

Die Einwilligung kann ausdrücklich oder konkludent erklärt werden.11 Es bedarf aber einer Kundgabe nach außen; eine bloß innere Zustimmung genügt nicht. Zudem muss die Einwilligung vor der Tat erklärt werden und sie darf bis zur Tat nicht widerrufen worden sein. Eine nachträgliche Genehmigung genügt nicht.

Die Einwilligungserklärung muss frei von Willensmängeln sein. Erleidet der Einwilligende einen wesentlichen Willensmangel, ist seine Einwilligung unwirksam. Als Ursachen für Willensmängel kommen Drohung, Gewalt, Täuschung und Irrtum in Betracht. Nach h. M. bedingt grundsätzlich jeder täuschungsbedingte Irrtum einen relevanten Willensmangel.12 Einzige sinnvolle Einschränkung ist, dass es sich um einen wesentlichen Willensmangel handeln muss; „unwesentlich“ sind solche Willensmängel, die nicht den vom Einwilligenden verfolgten Zweck berühren.

Subjektives Rechtfertigungselement

Der Täter muss die objektive Rechtfertigungslage kennen und aufgrund der Einwilligung handeln. „Aufgrund“ der Einwilligung agiert der Täter dann, wenn er ohne die Einwilligung nicht gehandelt hätte.13

Mutmaßliche Einwilligung

Bei der mutmaßlichen Einwilligung handelt es sich um ein Einwilligungssurrogat, bei dem an die Stelle der erteilten Einwilligungserklärung eine mutmaßliche Erklärung tritt.14 Im Übrigen stimmen Einwilligung und mutmaßliche Einwilligung in ihren Voraussetzungen überein:15

Prüfungsschema: Mutmaßliche Einwilligung

  1. Objektive Rechtfertigungselemente
    1. Disponibilität und Verfügungsbefugnis
    2. Einwilligungsfähigkeit
    3. Mutmaßliche Einwilligungserklärung
  2. Subjektives Rechtfertigungselement: Handeln in Kenntnis und aufgrund der mutmaßlichen Einwilligung

Wichtigste Erscheinungsform der mutmaßlichen Einwilligung sind Fälle, in denen der Täter im Interesse des Betroffenen handelt (Beispiele: Unaufschiebbare Operation eines bewusstlosen Patienten, Aufbruch der Wohnung des verreisten Nachbars, aus der Qualm oder Wasser dringt). Denkbar ist eine mutmaßliche Einwilligung aber auch dann, wenn der Täter im eigenen Interesse agiert (Beispiel: Ausleihen des Fahrrads eines verreisten Freundes).

Ob die Voraussetzungen der mutmaßlichen Einwilligung vorliegen, beurteilt sich aus einer ex-ante-Perspektive nach den erkennbaren (persönlichen)16 Umständen zum Tatzeitpunkt. Unerheblich ist, ob der Betroffene dem Eingriff nachträglich widerspricht oder ihn billigt.

Über einen bereits erklärten gegenteiligen Willen des Betroffenen darf man sich mittels mutmaßlicher Einwilligung aber nicht hinwegsetzen. Eine existierende Erklärung hat immer Vorrang vor einer – objektiv vielleicht sogar vernünftigeren – mutmaßlichen Erklärung (Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung).


  1. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 1 – 4.
  2. Da es sich um Gewohnheitsrecht zugunsten des Täters handelt, ist dies im Hinblick auf Art. 103 II GG unbedenklich.
  3. BGH, Urt. v. 11.12.2003 – 3 StR 120/03, NStZ 2004, 204, 205; BGH, Urt. v. 11.12.2003 – 3 StR 120/03, BGHSt 49, 34, 40.
  4. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 8.
  5. Nicht jedes Individualrechtsgut ist unbeschränkt disponibel. Zu beachten sind insbesondere die Einwilligungsschranken der §§ 216, 228 StGB.
  6. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 9 – 14.
  7. Beispiele: Eltern (§§ 1626, 1629 BGB), Vormund (§ 1793 BGB), Betreuer (§§ 1896 ff. BGB).
  8. Beispiel: Für eine GmbH kann deren Geschäftsführer einwilligen (§ 35 GmbHG).
  9. BGH, Beschl. v. 09.01.2018 – 5 StR 541/17, Rn. 7.
  10. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 15.
  11. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 20 – 37.
  12. BGH, Urt. v. 21.02.1984 – 1 StR 829/83, BGHSt 32, 267, 269 f.; BGH, Urt. v. 01.02.1961 – 2 StR 457/60, BGHSt 16, 309, 310; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 32.
  13. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 38.
  14. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 49 – 61.
  15. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 23 Rn. 50.
  16. Die persönlichen Umstände des Betroffenen, namentlich seine individuellen Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Wertvorstellungen sind zu ermitteln und zu achten (BGH, Urt. v. 04.10.1999 – 5 StR 712/98, BGHSt 45, 219, 221).