Handelt es sich um eine Verkehrssicherungspflichtverletzung?
In 2023 ereigneten sich rund 2,5 Millionen Verkehrsunfälle auf deutschen Straßen. Dies dürfte erklären, warum die Thematik in der juristischen Praxis so häufig auftaucht. Das OLG Frankfurt am Main hatte es allerdings nicht mit einer Standardkonstellation zu tun: Es ging nicht um einen Streit zwischen zwei Verkehrsteilnehmern oder gar ihren Versicherungen. Es ging um einen Ast über der Straße, der zu erheblichem Schaden am Fahrzeug des Klägers geführt hat.
Sachverhalt
Der spätere Kläger befuhr mit seinem Traktor mit angehängtem Heckmähwerk am 17.10.2021 gegen 20:30 Uhr bei Dunkelheit einen landwirtschaftlichen Weg. Das Heckmähwerk befand sich in hochgestellter Position, sodass das Gespann eine Höhe von circa 4 Metern aufwies. Während der Fahrt blieb das Mähwerk an einem großen Ast hängen, der in einer Höhe von 3 bis 3,5 Metern in die Fahrbahn hereingeragt habe. Weil der Fahrer die Strecke nach einer Fahrbahnerneuerung zum ersten Mal befuhr und die Lichtkegel der eingeschalteten Scheinwerfer Objekte in dieser Höhe nicht ausleuchten, sah der Kläger das Hindernis nicht rechtzeitig. Durch den Zusammenstoß wurden Schäden an seinem Mähwerk und seinem Traktor in Höhe von fast 10.000 Euro verursacht. Sein Schadenersatzbegehren machte er schließlich klageweise gegenüber der Stadt geltend, die die Straßenbau- und Unterhaltungslast der befahrenen Straße trägt.
Er ist der Auffassung, dass die Stadt dafür verantwortlich sei, den Bereich über der Straße bis zur Höhe von 4 Metern von entsprechenden Ästen freizuhalten. Dem Zweck eines Landwirtschaftswegs sei schließlich immanent, dass dort landwirtschaftliche Fahrzeuge mit typischerweise hohen Aufbauten verkehren. Gerade wegen § 22 II 2 StVO sei eine Höhe von mehr als 4 Metern ausdrücklich erlaubt.
Davon konnte er das erstinstanzlich zuständige Landgericht Gießen nicht überzeugen. Die 3. Zivilkammer wies die Klage ab, weil sie eine solche Verkehrssicherungspflichtverletzung der Stadt nicht erkennen konnte. Hiergegen wehrte sich der Kläger mit der Berufung.
Entscheidung des OLG Frankfurt am Main
Das OLG Frankfurt am Main kam zu keinem anderen Ergebnis als die Vorinstanz: Mangels Verkehrssicherungspflichtverletzung bestehe kein Anspruch gegen die Stadt. Mithin scheiterte der Treckerfahrer auch in zweiter Instanz, wobei die Richter sich in Bezug auf die offensichtlich fehlenden Erfolgsaussichten derart einig waren, dass die Berufung per Beschluss zurückgewiesen wurde, § 522 II ZPO.
Zunächst zur Erinnerung die Definition der Verkehrssicherungspflicht nach Rechtsprechung des BGH, die auch der Kläger in seiner Argumentation heranführte: Danach umfasse die Verkehrssicherungspflicht „die zur Vermeidung von Gefahren erforderlichen Maßnahmen, also diejenigen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schaden zu bewahren. Es müssten zumindest diejenigen Gefahren ausgeräumt werden, die für einen sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar seien und auf die er sich nicht rechtzeitig einstellen könne.“
Das Maß dessen, was bei gebührender Vorsicht als erforderlich, aber auch ausreichend betrachtet werde, wurde nach ständiger Rechtsprechung bereits konkretisiert. In Bezug auf den Luftraum über der Fahrbahn müsse hierbei die Dichte und Schnelligkeit des Verkehrs berücksichtigt werden. Bei hoher Verkehrsdichte und -geschwindigkeit werde die Aufmerksamkeit der Fahrzeugführer bereits derart beansprucht, dass dem Fahrzeugführer daneben nicht zusätzlich abverlangt werden könne, sein Augenmerk dauerhaft auf den Luftraum über der Straße zu richten, um vor niedrigen Ästen auszuweichen. Eine solche erhebliche Verkehrsbedeutung sei lediglich bei Bundesstraßen und Autobahnen anzunehmen.
Die Lage gestalte sich bei den übrigen Straßen, also solchen mit minderer Verkehrsbedeutung, anders: Hier sei es dem Fahrer zumutbar, zusätzlich zum eigentlichen Verkehr auch überstehendes Astwerk zu beobachten und das Fahrtempo gegebenenfalls anzupassen. Da es sich hier um eine Landwirtschaftsstraße und damit um eine Straße mit minderer Verkehrsbedeutung handelt, treffe die beklagte Stadt keine Straßenverkehrssicherungspflicht. Mithin könne der Kläger nicht erwarten, dass der Luftraum über der Straße bis zur Höhe von 4 Metern frei von Ästen ist.
Wegen der fehlenden Pflicht zur Freihaltung des Luftraums, so der Senat, komme es auf die typische Höhe der Fahrzeuge auf dem Landwirtschaftsweg nicht an. Auch auf die Ausführungen des Klägers, dass ihm als Fahrer dadurch zugemutet werde, Äste in der Dunkelheit zu erkennen, obwohl dies aufgrund der Lichtverhältnisse und der Position der Scheinwerfer unmöglich gestaltete, käme es nicht an. Dabei handele es sich um einen solch ungewöhnlichen Umstand, auf den sich nicht die Stadt, sondern der Fahrer des Fahrzeugs selbst einstellen muss.
Fazit
Der gute alte Verkehrsunfall wird in Deliktsrechtsklausuren immer wieder gern genutzt, auch weil sich die Anspruchsgrundlagen aus dem StVG wegen ihrer Besonderheiten (z.B. Systematik der Anspruchsgrundlagen, Höchstbeträge und Ausschlusstatbestände) von den §§ 823 ff. BGB abheben. Ihre Bedeutung steigert sich allerdings zum 2. Examen nochmal deutlich, weil sich neben den Direktansprüchen der Pflichtversicherungen und dem Nebeneinander von Fahrer und Halter ganz einfach zusätzliche prozessuale Probleme (Streitgenossenschaft, Widerklage und Anscheinsbeweisproblematik) in die Klausursituation einführen lassen.
Kein Wunder, dass die Klausurersteller:innen kontinuierlich auf der Suche nach neuen, ausgefallenen Konstellationen sein dürften. So kann es definitiv nicht schaden, schon einmal etwas über die Straßenverkehrssicherungspflicht bezüglich der Freihaltung des Verkehrsraumes über der Straße gehört zu haben, um sich im Ernstfall nicht verwirren zu lassen.
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