OLG Karlsruhe zur Verwerflichkeit der Nötigung bei Blockadeaktionen

OLG Karlsruhe zur Verwerflichkeit der Nötigung bei Blockadeaktionen

Wir haben uns im März mit möglichen Rechtfertigungsgründen - wie § 34 StGB und dem zivilen Ungehorsam - bei Blockadeaktionen von Klimaschützern befasst. Nunmehr möchten wir eine Entscheidung des OLG Karlsruhe zur Nötigung und der gem. § 240 II StGB positiv festzustellenden Rechtswidrigkeit zum Anlass nehmen, dieses aktuelle Thema sowie das „Klassiker“-Thema des Gewaltbegriffs näher zu beleuchten.

A. Sachverhalt

Der Angeklagte A ist Mitglied des Aktionsbündnisses „Aufstand der letzten Generation (A.L.G.)“. Zusammen mit anderen Mitgliedern beteiligte er sich an 3 Tagen im Februar 2022 an Blockadeaktionen, indem er sich auf die Straße setzte und eine Hand mit Sekundenkleber an der Fahrbahn festklebte. In allen Fällen kam es zu Verkehrsbeeinträchtigungen (teilweise kilometerlange Staus) unterschiedlicher Dauer und unterschiedlichen Ausmaßes.

Mit den Blockadeaktionen wollte A zum einen auf das Problem der Lebensmittelverschwendung und zum anderen auf den Klimawandel und die seiner Meinung nach unzureichende Politik der Bundesregierung aufmerksam machen, indem er die Autofahrenden durch das von Mitstreitern ausgeführte Verteilen von Flyern informierte und zugleich mediale Aufmerksamkeit erregte.

Das Amtsgericht Freiburg hatte zwar den Tatbestand des § 240 I StGB bejaht, die Rechtswidrigkeit gem. § 240 II StGB aber verneint. Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 20.02.2024 – 2 ORs 35 Ss 120/23) hob das Urteil auf und wies es zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurück, §§ 353, 354 II StPO.

B. Entscheidung

Im objektiven Tatbestand des § 240 StGB musst Du Dich in einer Klausur zunächst einmal mit dem Gewaltbegriff befassen und klären, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen sich Teilnehmer bei einer Stitz-Demonstration strafbar machen können.

Danach sind umfangreichere Ausführungen bei der Rechtswidrigkeit erforderlich.

§ 240 StGB ist wie § 253 StGB ein sog. „offener“ Tatbestand. Anders als z.B. bei § 223 StGB ist die Rechtswidrigkeit der Tat nicht durch die Verwirklichung des Tatbestandes indiziert, sondern muss gem. § 240 II StGB positiv festgestellt werden. Diese Feststellung erfolgt allerdings erst, nachdem Du mögliche Rechtfertigungsgründe geprüft hast. Sollten der Erfolgs- und der Handlungsunwert, den Du durch Bejahung des objektiven und subjektiven Tatbestands festgestellt hast, aufgrund eines Rechtfertigungsgrundes kompensiert sein, dann ist die Tat erlaubt und kann nicht gem. § 240 II StGB verwerflich sein.

Starten wir also mit der Prüfung der Nötigung gem. § 240 StGB:

A könnte sich wegen Nötigung gem. § 240 StGB strafbar gemacht haben, indem er sich auf die Straße setzte und seine Hand mit Sekundenkleber darauf festklebte.

I. Tatbestand

Dann müsste A Gewalt angewendet oder eine Drohung ausgesprochen haben. Vorliegend kommt einzig Gewalt in Betracht. Der Gewaltbegriff bei § 240 StGB ist problematisch und hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Der einst vom BGH vertretene sog. „vergeistigte“ Gewaltbegriff musste aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG aufgegeben werden. Danach reichte bereits die physische Anwesenheit aus, die beim Opfer nur zu einem psychisch vermittelten Zwang führte. Nunmehr muss Gewalt eine körperliche Komponente aufweisen.

Gewalt ist von daher jedenfalls der körperlich wirkende Zwang durch die Entfaltung von Kraft oder durch eine physische Einwirkung sonstiger Art, die nach ihrer Zielrichtung, Intensität und Wirkungsweise dazu bestimmt und geeignet ist, die Freiheit der Willensentschließung oder Willensbetätigung eines anderen aufzuheben oder zu beeinträchtigen.

Fraglich ist nun, ob das Hinsetzen und Festkleben nach der genannten Definition Gewalt darstellen könnte.

Das OLG Karlsruhe hat dies mit der „2. Reihe Rechtsprechung“ des BGH bejaht. Der BGH hat dazu seinerzeit Folgendes ausgeführt:

„Haben die Teilnehmer an einer Straßenblockade dadurch, dass sie sich auf die Fahrbahn begeben, Kraftfahrer an der Weiterfahrt gehindert und deren Fahrzeuge bewusst dazu benutzt, die Durchfahrt für weitere Kraftfahrer tatsächlich zu versperren, so kann diesen gegenüber im Herbeiführen eines solchen physischen Hindernisses eine strafbare Nötigung liegen.“

Der BGH hat es dahingestellt sein lassen, ob die Kraftfahrer, die unmittelbar vor den Sitzenden zum Stehen kommen, durch Gewalt genötigt sind. Er hat darauf abgestellt, dass jedenfalls die nachfolgenden Kraftfahrer aufgrund des körperlichen Hindernisses der vor ihnen stehenden Autos einem körperlichen Zwang ausgesetzt sind. Streng genommen haben sich in diesen Fällen die Täter einer Nötigung in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 240, 25 I Alt. 2 StGB strafbar gemacht. Der Strafbarkeitsmangel der zunächst anhaltenden Autofahrer besteht darin, dass diese gem. § 34 StGB gerechtfertigt sind. Die Tatherrschaft der mittelbaren Täter besteht in dem Herbeiführen und Instrumentalisieren dieses Zustands.

Da die Aktionen des A in allen 3 Fällen zu einem Stau geführt hatten, kann die Gewalt an nachfolgenden Autofahrern bejaht werden.

Darüber hinaus könnte schon das Hinsetzen und Festkleben Gewalt sein, unabhängig davon, wie viele Autofahrer an der Weiterfahrt gehindert werden.

Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 16.8.2023 - 3 ORs 46/23, 161 Ss 61/23) musste sich in Zusammenhang mit § 113 I StGB mit dieser Frage befassen. Bezug nehmend auf die Rechtsprechung des BVerfG zu Blockadeaktionen, bei denen sich die Teilnehmer untereinander anketteten, hat es die Gewalt bejaht, indem es die Wirkung des Festklebens mit der des Ankettens verglichen hat.

Das BVerfG hatte zum Anketten seinerzeit Folgendes ausgeführt:

„Das Tatbestandsmerkmal der Gewalt kann nach der angeführten Entscheidung des BVerfG unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit der Strafandrohung nicht in Fällen bejaht werden, in denen die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist … Die Aktion der Bf. beschränkte sich im vorliegenden Fall jedoch nicht auf die körperliche Anwesenheit vor dem Tor und den dadurch auf die Führer der Kraftfahrzeuge ausgelösten psychischen Zwang, wegen der Gefahr der Verletzung oder Tötung der Demonstranten anzuhalten oder umzukehren. Zusätzlich erfolgte durch die Demonstranten selbst eine körperliche Kraftentfaltung, und zwar durch die Anbringung der in Hüfthöhe mit den Personen verbundenen Metallketten an den beiden Pfosten des Einfahrtstors.“

Dass die Polizeibeamten das durch das Festkleben entstandene Hindernis durch Verwendung eines Lösungsmittels binnen weniger Minuten beseitigen konnten, sprach nach Auffassung des KG Berlin nicht gegen die Gewalt, da es maßgeblich auf die Körperlichkeit des Hindernisses ankomme.

Diese Gewalt führte auch kausal und unmittelbar zum Anhalten der Kraftfahrzeugführer und damit zu einem Nötigungserfolg.

A handelte diesbezüglich auch mit dolus directus 1. Grades und damit vorsätzlich. Der Tatbestand ist verwirklicht.

II. Rechtswidrigkeit

Wie bereits ausgeführt müssen nun zunächst Rechtfertigungsgründe geprüft werden.

Eine Rechtfertigung gem. § 34 StGB musst Du in der Klausur ansprechen, sie kommt aber im Ergebnis nicht in Betracht. Wie in unserer Entscheidungsbesprechung im März ausgeführt, kann im Hinblick auf die Klimakrise und deren Folgen noch eine Dauergefahr bejaht werden, die ausgeführten Handlungen sind aber weder geeignet, diese abzuwenden noch sind sie angemessen, da es geordnete Gerichtsverfahren und Mittel der politischen Mitwirkung und Gestaltung gibt, die in einer Demokratie vorrangig zu wählen sind. Aus ähnlichen Gründen scheitert auch der zivile Ungehorsam als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund.

Damit ist die Prüfung der Rechtswidrigkeit gem. § 240 II StGB eröffnet. Die Tat ist rechtswidrig, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Als Zweck ist dabei auf das abgenötigte Opferverhalten abzustellen. Fernziele wie das mit der Blockade verfolgte Anliegen – hier die Verhinderung der Lebensmittelverschwendung und das Bekämpfen des Klimawandels – dürfen im Interesse der Rechtssicherheit nicht in Abwägung mit einbezogen werden (BVerfGE 104,92)

Die Verwerflichkeitsprüfung ist aber Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, sodass an dieser Stelle nun die Grundrechte berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden müssen. Für A streitet die Versammlungsfreiheit gem. Art 8 GG, für die Nötigungsopfer die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG.

Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 20.02.2024 – 2 ORs 35 Ss 120/23) führt dazu Folgendes aus:

„Teil der Gewährleistung des Art. 8 GG ist dabei auch das Recht der Träger des Grundrechts, selbst über Art und Umstände der Ausübung ihres Grundrechts zu bestimmen, also zu entscheiden, welche Maßnahmen sie zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit für ihr Anliegen einsetzen wollen. Vom Selbstbestimmungsrecht ist jedoch nicht die Entscheidung umfasst, welche Beeinträchtigungen die Träger anderer kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Bei der Angemessenheitsprüfung haben die Gerichte daher auch zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht unter hinreichender Berücksichtigung der gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausgeübt worden ist. Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist. In diesem Rahmen sind insbesondere auch Art und Maß der Auswirkungen auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente sind unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten und der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen auf die Feststellung der Verwerflichkeit einwirkenden Bezug zum Versammlungsthema haben.“

Ob eine Blockade rechtswidrig ist, hängt also vornehmlich auch von folgenden Umständen ab, die Du in der Klausur ansprechen musst, sofern der Sachverhalt Anhaltspunkte dazu gibt:

  • Wird die Blockade rechtzeitig angekündigt?

  • Dauert sie nur wenige Minuten?

  • Gibt es eine Ausweichmöglichkeit, auf die rechtzeitig hingewiesen wird?

  • Steht die Aktion in einem inneren Zusammenhang mit dem Thema, um das es geht?

Wie immer kannst Du bei einer Abwägung widerstreitender Grundrechte mit einer überzeugenden Argumentation vieles vertreten.

Das OLG Karlsruhe hat das Urteil des AG Freiburg aufgehoben, da das Gericht zu wenig Feststellungen zu den vorgenannten Aspekten getroffen hatte. Für die erneute Verhandlung hat das OLG (Urteil vom 20.02.2024 – 2 ORs 35 Ss 120/23) auf Folgendes hingewiesen:

„In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass ungeachtet der noch im Einzelnen zu treffenden Feststellungen jedenfalls bei einer unangekündigten Blockade einer Hauptverkehrsstraße über einen nicht unerheblichen Zeitraum hinaus, die mangels hinreichender Ausweichmöglichkeiten zu einem erheblichen Rückstau mit erheblicher Zeitverzögerung für die davon betroffenen Personen führt, angesichts des nur teilweisen Bezugs der von der Blockade betroffenen Personen zu den von dem Angeklagten und seinen Mitstreitern verfolgten Zielen die Verneinung der Verwerflichkeit eher fernliegen dürfte.“

Sofern die Rechtswidrigkeit bejaht werden kann, steht einer Strafbarkeit gem. § 240 StGB nichts im Wege, da Schuldausschließungsgründe nicht ersichtlich sind.

C. Prüfungsrelevanz

Die Blockadeaktionen beschäftigen seit Monaten die Gerichte und werden Dich in absehbarer Zeit auch in Deinen Klausuren beschäftigen. Die bei § 240 StGB anzusprechenden Probleme sind im objektiven Tatbestand der Gewaltbegriff, bei der Rechtswidrigkeit mögliche Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 34 StGB sowie die positiv festzustellende Rechtswidrigkeit, bei der es wie gesehen vor allem um eine Abwägung widerstreitender Grundrechte geht.

Neben einer Strafbarkeit gem. § 240 StGB kommt je nach Fallgestaltung auch eine Strafbarkeit gem. § 113 I StGB in Betracht, da das Festkleben Vollstreckungsbeamte an der Ausführung ihrer Tätigkeit hindert. Das KG Berlin (Beschluss vom 16.8.2023 - 3 ORs 46/23, 161 Ss 61/23) hat dazu Folgendes ausgeführt:

„Eine Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 I StGB kommt auch dann in Betracht, wenn sich der Täter bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung auf der Fahrbahn mit Sekundenkleber oder Ähnlichem festklebt, um die von ihm erwartete alsbaldige polizeiliche Räumung der Fahrbahn nicht nur unwesentlich zu erschweren. … Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, muss in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten….Dass Polizeibeamte das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit – hier unter Verwendung eines Lösungsmittels – zu beseitigen in der Lage sind, steht dem Merkmal der Gewalt nicht grundsätzlich entgegen und nimmt ihm in Bezug auf den Vollstreckungsbeamten nicht ohne Weiteres die körperliche Spürbarkeit.“

Da zum einen die Autofahrer genötigt und zum anderen Vollstreckungsbeamte an der Ausführung der Diensthandlung gehindert werden, mithin also unterschiedliche Rechtsgutsträger betroffen sind, stehen die Taten zueinander in Tateinheit.

(Urteil vom 20.02.2024 – 2 ORs 35 Ss 120/23)