BGH zum Rücktrittshorizont des Täters beim versuchten Totschlag

BGH zum Rücktrittshorizont des Täters beim versuchten Totschlag

Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts

​Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist dieser sogenannte Rücktrittshorizont maßgeblich für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch. Reichen die hier vom Landgericht getroffenen Feststellungen zum Tatgeschehen aus, um eine Verurteilung u.a. wegen versuchten Totschlages aufrechtzuerhalten? Die Entscheidung des BGH veranschaulicht einmal mehr, welche Anforderungen er in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung an die innere Einstellung des Täters zur Tat erwartet. Solche Sachverhalte sind äußerst prüfungsrelevant, bieten sie nach einer Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen die Möglichkeit, auch auf die Rechtswidrigkeit und Schuld einzugehen.

A. Sachverhalt

​Der T verlässt – ebenso die ihm nicht näher bekannten Personen K, P, J und N – in den frühen Morgenstunden eine Gaststätte, in der er mehrere Biermischgetränke sowie eine geringe Menge Kokain konsumiert hat. Am nahe gelegenen Taxistand kommt es zu einer Diskussion zwischen dem T und dem K, in deren Verlauf sich die beiden zunächst gegenseitig schubsen sowie hin - und herschieben. Sodann zieht T ein mitgeführtes Klappmesser mit einer Klingenlänge von neun Zentimetern und sticht damit sechs Mal auf den Oberkörper des K ein, wobei er dessen Tod billigend in Kauf nimmt. Der P, der auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden ist, jedoch das Messer des T nicht wahrgenommen hat, tritt zwischen die beiden und drückt sie auseinander. Auch der N kommt hinzu und stößt den T weg, sodass dieser zu Boden fällt. Der schwerverletzte K schleppt sich in der Zwischenzeit einige Meter vom Ort des Geschehens fort. Nachdem der T wieder aufgestanden ist, sticht er unvermittelt drei Mal mit Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des P ein. Der in der Nähe befindliche J, der wahrnimmt, dass sich der P vor Schmerzen krümmt, nicht jedoch ein Messer bei T erkannt, will eingreifen, jedoch sticht ihn der T sogleich in Verletzungsabsicht in den linken Oberarm. Hierauf entfernt sich J, wird jedoch von T verfolgt, der dabei ruft: „Ich stech´ euch alle ab!“. Zwischenzeitlich verbringt der N den verletzten P auf die andere Straßenseite. Während der Verfolgung des J trifft der T noch in der Nähe der Gaststätte auf den Q. Dieser redet beschwichtigend auf T ein und kann ihn dazu bewegen, von weiteren Angriffen abzusehen. Das gesamte Geschehen dauert nur wenige Minuten. T kann bereits kurze Zeit nach Beginn der Auseinandersetzung von alarmierten Polizeibeamten am Tatort festgenommen werden. T weist zur Tatzeit eine maximale Blutalkoholkonzentration von etwa 2,4 Promille auf. Sämtliche Beteiligte – K, P und J – werden sogleich notärztlich versorgt und genesen im Krankenhaus.

​Wie hat sich T strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I. Versuchter Totschlag, §§ 212 I, 22, 23 I StGB (gegen K)

T könnte sich wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben, indem er sechs Mal mit seinem Klappmesser auf den Oberkörper des K eingestochen hat.

1. Vorprüfung

​Die Tat ist nicht vollendet; der tatbestandliche Erfolg – der Tod des K – ist hier nicht eingetreten. Der Versuch des Totschlags, eines Verbrechens i.S.v. § 12 I StGB, ist (stets) strafbar, § 23 I StGB.

2. Tatentschluss (subjektiver Tatbestand)

​T müsste zur Tatbegehung entschlossen gewesen sein. Er müsste also Vorsatz hinsichtlich aller Voraussetzungen eines Totschlages im Sinne von § 212 I gehabt haben und sämtliche subjektiven Voraussetzungen des Tatbestandes müssten von ihm erfüllt sein. Der T nahm den Tod des K bei der Ausführung der Messerstiche billigend in Kauf (sog. dolus eventualis). T hatte mithin einen Tatentschluss.

3. Unmittelbares Ansetzen (objektiver Tatbestand)

T hat zur Tatbegehung auch unmittelbar angesetzt. Er hat subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-gehts-los“ überschritten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Handlung angesetzt, sodass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergegangen ist. Das Tun des T war also so eng mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung verknüpft, dass es bei ungestörten Fortgang unmittelbar zur Verwirklichung des gesamten Straftatbestandes führen sollte oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stand. T hat sechs Mal mit seinem Messer auf den Oberkörper des K eingestochen, bevor P sich zwischen T und K gestellt hat. Damit hatte T nach seiner Vorstellung die Handlungsschritte für die Tatbestandsverwirklichung, also die Tötung des K, bereits vorgenommen.

4. Rücktritt, § 24 I StGB

Fraglich ist, ob T vom Versuch des Totschlags gemäß § 24 I StGB strafbefreiend zurückgetreten ist. Dafür könnte sprechen, dass T seinen Tatplan, den K zu töten, nicht verwirklicht hat. Dagegen könnte sprechen, dass er nicht „freiwillig” die weitere Tatausführung aufgegeben hat, sondern durch das Einschreiten von P und N daran gehindert wurde, weiter auf den K einzustechen. Dazu der BGH:

„II.1. Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Voraussetzung ist zunächst, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet (unbeendeter Versuch), seine Herbeiführung aber noch für möglich hält. Scheitert – wie vorliegend – der Versuch, so kommt es darauf an, ob der Täter nach anfänglichem Misslingens des vorgestellten Tatablaufs sogleich zu der Annahme gelangt, er könne ohne zeitliche Zäsur mit den bereits eingesetzten oder bereitstehenden Mitteln die Tat noch vollenden. Nur dann liegt kein fehlgeschlagener, sondern ein unbeendeter Versuch vor, von dem der Täter noch durch freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung zurücktreten kann. Maßgebend ist dabei das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung (sog. „Rücktrittshorizont“; st. Rspr…) und zwar selbst dann, wenn diese auf einer Fehlvorstellung beruht (…) oder wenn der Täter nach der Tatausführung Umstände erkennt, die seine bisherigen Vorstellungen erschüttern (zur sog. „Korrektur des Rücktrittshorizonts“ …). Bei einem mehraktigen Geschehen, innerhalb dessen der Täter verschiedene Handlungen vornimmt, die auf die Herbeiführung eines strafrechtlichen Erfolges gerichtet sind, kommt es auf das subjektive Vorstellungsbild des Täters nach jedem Einzelakt an (…). Bilden jedoch die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen, so ist für die Bestimmung des Rücktrittshorizonts allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (…).”

“2. Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Es verhält sich – auch nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe – nicht zum Rücktrittshorizont des [T]. Die festgestellte objektive Sachlage gestattet keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters, so dass auch nicht ausnahmsweise von entsprechenden Ausführungen hätte abgesehen werden können (…).

a) Allein das körperliche Trennen des Täters von dem Tatopfer durch einen Dritten – hier durch den [P] und dann durch [N] – schließt einen strafbefreienden Rücktritt nicht zwingend aus (…). Im Rahmen eines – wie hier – mehraktigen Geschehens können die Einzelakte untereinander und mit der letzten Tathandlung ein durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenes, örtlich und zeitlich einheitliches Geschehen bilden mit der Folge, dass für die Beurteilung der Frage, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ein strafbefreiender Rücktritt durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich ist (…). Unbeschadet der rechtlich nicht zu beanstandenden Annahme mehrerer zueinander in Tatmehrheit stehender Delikte (…) hätte sich das Landgericht daher im vorliegenden Fall angesichts der engen zeitlichen Abfolge von Einzelakten (wenige Minuten) an einer überschaubaren Örtlichkeit, des Ausrufs des [T], er werde alle „abstechen“, und der Feststellung, der [T] habe sich von [einer weiteren Person] beschwichtigen und „von weiteren Angriffen abhalten“ lassen, zu einer vertiefteren Auseinandersetzung mit der Mehraktigkeit des Geschehens und seiner Bedeutung für den (subjektiven) Rücktrittshorizont des [T] gedrängt sehen müssen und sich nicht mit der (objektiven) Feststellung begnügen dürfen, die Tatopfer seien vom [T] weggezogen worden. Entsprechende Erörterungen lassen die Urteilsgründe indes vermissen.

b) Ein strafbefreiender Rücktritt kann auch nicht deswegen ausgeschlossen werden, weil sich der [T] von den zunächst [Angegriffenen] ab- und einem jeweils Dazwischentretenden zuwandte und diesen angriff.

So lange der Täter mit dem Versuch der Tatbegehung lediglich innehält, also keinen Entschluss zum endgültigen Verzicht auf deren Durchführung getroffen hat, weil er (zunächst) ein anderes Tatziel erreichen will, ist die Tat noch nicht aufgegeben (…). Eine solche Konstellation ist hier mit Blick auf den Ausruf des [T], er werde alle „abstechen“, nicht gänzlich ausgeschlossen.

c) Auch der Umstand, dass sich der [K] während des Geschehens weggeschleppt hatte und der [P] auf die andere Straßenseite gebracht worden war, lässt keine sicheren Rückschlüsse auf die innere Einstellung des [T] zu. Denn das Landgericht hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob der [T] dies überhaupt wahrnahm und er folglich davon ausgehen musste, sein Tatziel mit den vorgestellten Mitteln nicht mehr erreichen zu können.“


​Ob dem T daher die strafbefreiende Wirkung eines Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 I StGB zu Gute kommt, bedarf hier weiterer Sachaufklärung im Hinblick auf seinen sog. Rücktrittshorizont.

Hinweis: vgl. zum Rücktrittshorizont bei Tötungsdelikten auch BGH, Beschl. v. 03.02.2022 – 2 StR 317/21, BGH zum Rücktrittshorizont bei Tötungsdelikten.

5. Zwischenergebnis

​T hat sich (nach derzeitigem Stand) nicht wegen versuchten Totschlags betreffend K strafbar gemacht.

II. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB (gegen K)

T hat sich aber wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des K gemäß den §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht, indem er mit seinem mitgeführten Klappmesser mit (Klingenlänge: neun Zentimeter) sechs Mal auf den Oberkörper des K eingestochen hat. Damit hat T den K i.S.v. § 223 I StGB „körperlich misshandelt“ (jede üble und unangemessene Einwirkung auf den Körper des Verletzten, die dessen körperliches Wohlbefinden mehr als bloß unerheblich beeinträchtigt) und „an der Gesundheit geschädigt“ (jedes Hervorrufen oder Steigern eines vom Normalzustand der körperlichen Funktionen des Opfers nachteilig abweichenden Zustandes). Bei dem von T verwendeten Messer handelt es sich um ein „gefährliches Werkzeug“ (§ 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB). Ferner hat er die Körperverletzung durch die Stiche auf den Oberkörper des K „mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung“ i.S.v. § 224 I Nr. 5 StGB begangen. Zwar muss die entsprechende Tathandlung nicht dazu führen, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die jeweilige Einwirkung durch den Täter nach den Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist danach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im Einzelfall. Um die gegenüber der einfachen Körperverletzung nach § 223 I StGB höhere Strafandrohung begründen zu können, kommt es maßgebend auf die Gefährlichkeit der Behandlung, nicht aber auf die eingetretenen Verletzungen an. Das ist bei mehreren Messerstichen in den Oberkörper eines Menschen, in dem sich lebenswichtige Organe befinden, unzweifelhaft der Fall.

T handelte bei der Tatausführung vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft. Seine Blutalkoholkonzentration von ca. 2,4 Promille führt nicht zum Ausschluss der Schuld nach § 20 StGB (erst ab 3 Promille).

Hinweis: Bei der Strafzumessung im Rahmen von § 224 I StGB darf nicht übersehen werden, dass für einen „minder schweren Fall“ (a.E.) ein im Vergleich zum Regelstrafrahmen (sechs Monate bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe) deutlich abgesenkter Strafrahmen vorgesehen ist (drei Monate bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe). Für die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall angenommen werden kann, ist maßgebend, ob das gesamte Tatbild einschließlich aller subjektiven Momente und der Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle so sehr abweicht, dass die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten erscheint; hierzu ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (vgl. BGH, Urt. v. 22.01.2015 – 3 StR 412/14, Rn. 18). Sieht das Gesetz einen solchen besonderen Strafrahmen für minder schwere Fälle vor und ist zudem auch ein gesetzlich vertypter Milderungsgrund gegeben (etwa nach § 23 II StGB, § 21 StGB oder § 13 II StGB), muss bei der Strafrahmenwahl im Rahmen einer Gesamtabwägung zudem zunächst geprüft werden, ob die allgemeinen Milderungsgründe die Annahme eines minder schweren Falles tragen. Ist danach das Vorliegen eines minder schweren Falles abzulehnen, so sind zusätzlich die den gesetzlich vertypten Strafmilderungsgrund verwirklichenden Umstände in die gebotene Gesamtabwägung einzubeziehen. Erst wenn die Anwendung des milderen Strafrahmens danach weiterhin nicht gerechtfertigt ist, darf bei der konkreten Strafzumessung der (allein) wegen des gegebenen gesetzlich vertypten Milderungsgrundes gemilderten Regelstrafrahmen zugrunde gelegt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 13.09.2022 − 2 StR 236/22).

III. Versuchter Totschlag, §§ 212 I, 22, 23 I StGB (gegen P)

Ob sich T auch wegen versuchten Totschlags ( §§ 212 I, 22, 23 I StGB) strafbar gemacht hat, indem er drei Mal mit Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des P eingestochen hat, hängt ebenfalls – wie bei der Tat zum Nachteil des K – von weiteren Feststellungen zu seinem Rücktrittshorizont ab (s.o.).

IV. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB (gegen P)

Jedenfalls hat sich T durch die gegen P bzw. dessen Oberkörper geführten Stiche wegen gefährlicher Körperverletzung nach den §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht (s.o.).

V. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB (gegen J)

Das Gleiche gilt für den gegen J bzw. dessen Oberarm in Verletzungsabsicht geführten Messerstich, wenngleich es insoweit an einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 I Nr. 5 StGB) fehlt.

VI. Ergebnis

T hat sich (nach derzeitigem Stand der Sachaufklärung) wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen strafbar gemacht. Die Delikte stehen zueinander im Verhältnis in Tatmehrheit (vgl. § 53 StGB).

Hinweis: Das Landgericht hatte den T im November 2020 wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit versuchtem Totschlag (bei Ablehnung einer Straffreiheit durch Rücktritt gemäß § 24 StGB), zu acht Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des T hatte Erfolg, so dass der 2. Strafsenat des BGH dieses Urteil mit Beschluss aus März 2023 aufgehoben zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen hat. Wegen der „im Revisionsverfahren entstandenen Verzögerung“ hat der Senat darauf hingewiesen, dass das neue Tatgericht dem ggfs. Rechnung zu tragen habe (etwa im Zusammenhang mit der Strafzumessung, § 46 StGB).

C. Prüfungsrelevanz

Die Voraussetzungen für einen Rücktritt vom (unbeendeten) Versuch nach § 24 I S. 1 Alt. 1 StGB – und damit der Weg über die „goldene Brücke“ in die Straffreiheit – führen zu dem Vorstellungsbild des Täters, dem sog. Rücktrittshorizont: Der Täter darf zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnen, seine Herbeiführung aber noch für möglich halten. Bei einem mehraktigen Geschehen kommt es dafür auf jeden Einzelakt an.

Der 2. Strafsenat führt mit seiner Entscheidung die bisherige Linie bzw. gefestigte Rechtsprechung des BGH fort und überlässt die Frage, ob der Täter hier jeweils noch mit der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolges rechnen konnte (Tod eines Menschen), einer erneuten Entscheidung nach wiederholter Beweisaufnahme. Dabei dürfte sicherlich zu berücksichtigen sein, dass bei gefährlichen Gewalthandlungen und schweren Verletzungen, insbesondere bei tief in den Brust- oder Bauchraum eingedrungenen Messerstichen, deren Wirkungen der Täter wahrgenommen hat, auf der Hand liegt, dass der Täter auch Kenntnis der tatsächlichen Umstände hat, die den Erfolgseintritt nach der Lebenserfahrung nahelegen – womit es sich dann also um einen sog. beendeten Versuch handeln würde (s. dazu BGH, Beschl. v. 27.04.2021 – 2 StR 12/21). Ein unbeendeter Versuch kommt hingegen auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seinem Handeln den Erfolgseintritt zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne den Erfolg doch nicht herbeiführen und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Herbeiführung des Erfolges absieht (sog. Korrektur des Rücktrittshorizonts, BGH, Beschl. v. 08.07.2008 - 3 StR 220/08).

Für Prüfungen im Strafrecht bieten sich Sachverhalte, die – wie hier – Anlass zur Erörterung eines möglichen Rücktritts vom Versuch (§ 24 StGB) geben, gerade zu an, auch weil zunächst auf die Tatbestandsvoraussetzungen sowie Rechtswidrigkeit und Schuld eingegangen werden muss und damit eine umfassende materiell-rechtliche Überprüfung eines tatsächlichen Geschehenes vorgenommen werden kann.

(BGH, Beschluss vom 29.03.2023 – 2 StR 147/21)