BGH zum Rücktrittshorizont bei Tötungsdelikten

BGH zum Rücktrittshorizont bei Tötungsdelikten

Die “Brücken” des Täters zur Straffreiheit

In einem Strafurteil darf nicht offenbleiben, welche Vorstellungen sich der Täter im relevanten Ausführungs- Zeitpunkt gemacht hat. In materiell-rechtlicher Hinsicht sind die Anforderungen an die Voraussetzungen an den Rücktritt vom unbeendeten Versuch nach Maßgabe von § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB weniger streng als diejenigen, die bei einem beendeten Versuch (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB) zu erfüllen sind. Maßgeblich für die Abgrenzung ist der sog. Rücktrittshorizont des Täters, also das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung.

A. Sachverhalt

Dem P und seinem Bruder wird eines Abends der Einlass in eine Diskothek verwehrt. Weder ein Hinweis auf seine Familie noch darauf, dass man einen Türsteher kenne, verhilft ihm zum Erfolg; er wird von den an diesem Abend eingesetzten Türstehern A, D und N dezidiert – aus Sicht des P aggressiv – abgewiesen. Auf Seiten der Türsteher treten noch O, L und B hinzu. Dem B gelingt es, die sich aufschaukelnde Situation zu deeskalieren, den P etwas zur Seite zu schieben und ihm klar zu machen, dass es für die Diskothek einen „Einlassstopp“ gebe. Der N ist nicht unmittelbar in dieses Gespräch involviert, sondern steht mit etwas Abstand hinter B und O. Als O einen Schritt in Richtung
des Bruders von P macht, schiebt P den B zur Seite, holte ein bis dahin verborgen gehaltenes Klappmesser mit einer Klingenlänge von ca. 7 cm hervor und sticht damit dem N, der - was der P
erkennt - sich keines Angriffs versieht, in den Bereich des unteren Brustkorbes. N geht kurzzeitig in die Knie, kann sich jedoch sogleich wieder aufrichten und taumelt rückwärts in den Innenbereich der Diskothek, wobei er sich die rechte Oberkörperseite hält. Der L, der den Angriff auf N, nicht aber das Messer des P wahrnimmt, macht einen Schritt auf den P zu, umgreift diesen von hinten und versucht, ihn festzuhalten. Gleichzeitig kommt der B von vorne auf den P zu. Dem P, sich gegen die Umklammerung wehrt und dabei mehrfach das Messer gegen den Oberschenkel und den Gesäßbereich des L führt, gelingt es, die rechte Hand, in der er das Messer hält, vollständig zu befreien. Sodann sticht er mit dem Messer in die rechte Brust des weiter direkt vor ihm stehenden B,
wobei er damit rechnet und billigt, diesen tödlich zu verletzen. Der B macht einige Schritte vom P zurück, bleibt aber weiterhin stehen und zeigt keine unmittelbaren Verletzungsfolgen. P sticht weiter auf den ihn immer noch von hinten umklammernden L ein, fügt ihm zwei Stichverletzungen im
Oberschenkel bei, und rechnet damit, diesen tödlich zu verletzen, was er billigend in Kauf nimmt. Der L lässt den P daraufhin los und entfernt sich. P verfolgt ihn mit mehreren Schritten, das Messer weiter in der Hand haltend. Da L zunächst hinter ein Absperrgitter geflohen ist, wendet sich P nunmehr O und B zu. In diesem Moment ergreifen O und der von hinten wieder hinzueilende L jeweils ein großes Absperrgitter, das sie in Richtung des P werfen. P kann ausweichen und wird nicht
getroffen. Sodann umklammert L ein Gitter an einem Ende und hält es vor sich, um den P auf Abstand zu halten. Dieser lässt sich hiervon jedoch nicht abhalten, macht mehrere schnelle Schritte auf L zu, hebt währenddessen das Messer weit nach oben und sticht in einer weit ausholenden Bewegung schnell in Richtung des oberen Brustbereichs des L. Dieser macht eine
Rückwärtsbewegung, sodass das Messer lediglich seine Jacke beschädigt. Der P hält hielt es für möglich und nimmt billigend in Kauf, den L durch den versuchten Stich in die Brust tödlich zu
verletzen. Hauptmotiv für seinen Angriff ist die Wut und Verärgerung über den verwehrten Einlass in den Club sowie die Verletzung seiner Ehre und seines Machtanspruchs. Während des Angriffs des P auf den L kommt es zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem A und dem Bruder des
P: A hat diesen zu Boden gebracht und wirkt weiter auf diesen ein. Der N eilt nunmehr wieder aus dem Innenbereich der Diskothek heraus, kommt zu dem am Boden liegenden Bruder des P und führt eine Trittbewegung in dessen Richtung aus. In diesem Moment kommt P hinzu, hält weiterhin das
Messer in der Hand und sticht nunmehr unvermittelt in Richtung des A, den er am Bauch trifft, dabei dessen T-Shirt durchtrennt und ihm eine blutende Hautverletzung zufügt. Nachdem der P zunächst von einer weiteren Person weggestoßen worden ist, wird die Auseinandersetzung zwischen den Türstehern und dem P fortgesetzt. Der P behält dabei zumindest dahingehend die Oberhand, dass er nicht unmittelbar überwältigt werden kann und nach ca. 15 Sekunden erneut seinem weiterhin von A am Boden fixierten Bruder zu Hilfe eilt und das Messer drohend gegen A erhebt. Dieser lässt
daraufhin vom Bruder des P ab. P und sein Bruder entfernen sich auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo sie von mehreren Türstehern unter Einsatz von Pfefferspray und einer Eisenstange überwältigt und zu Boden gebracht werden. P hat zwar im Rahmen des Tatgeschehens erkannt, dass die N, L und B teilweise noch stehen und aktiv am Geschehen teilnehmen konnten, er ging jedoch nicht davon aus, dass sie sicher überleben würden.

Wie hat sich P strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I. Versuchter Mord, §§ 211 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB (N und L)

P könnte sich jeweils wegen versuchten Mordes von N und L gemäß §§ 211 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB
strafbar gemacht haben, indem er mit dem mitgeführten Messer jeweils auf beide eingestochen hat.

1. Vorprüfung

Der Versuch des Mordes – eines Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB) – ist strafbar (vgl. § 23 Abs. 1 StGB).
Der Erfolg der Tat, also der Tod eines Menschen, ist jeweils in Bezug auf N und L nicht eingetreten.

2. Tatentschluss

P müsste jeweils zur Begehung der Tat entschlossen gewesen sein. Er müsste also Vorsatz hinsichtlich aller Voraussetzungen eines Mordes im Sinne von §§ 212 Abs. 1, 211 StGB gehabt haben und sämtliche subjektiven Voraussetzungen des Tatbestandes müssten von ihm erfüllt sein. Sowohl
hinsichtlich N als auch betreffend L nahm P den Tod der beiden billigend in Kauf (dolus eventualis). P ging nicht sicher davon aus, dass sie aufgrund der ihnen mit dem Messer zugefügten Verletzungen sicher überleben werden. Zudem führte er den Messerstich gegen N in den Bereich von dessen
unteren Brustkorb, wodurch die Möglichkeit einer tödlich wirkenden Verletzung nahe lag. Und betreffend L hielt P es für möglich und nahm billigend in Kauf, diesen durch den versuchten Stich in die Brust tödlich zu verletzen.
Hinsichtlich N hat P zudem die subjektiven Merkmale der Heimtücke erfüllt. N versah sich – was P erkannt hatte – keines Angriffs, rechnete also bei Beginn des mit Tötungsvorsatz geführten Stichs durch P weder mit einem lebensbedrohlichen noch mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff. Seine Wehrlosigkeit bestand darin, dass er in seiner natürlichen Abwehrfähigkeit beeinträchtigt war. Die Arg- und Wehrlosigkeit des N hat P ferner bewusst ausgenutzt.
Betreffend L hat P hingegen das Mordmerkmal der „sonstigen niedrigen Beweggründe“ erfüllt. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe einer Tat „niedrig“ sind, also nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen und in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag als verwerflich und deshalb als besonders verachtenswert erscheinen, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren vorzunehmen; allein ein schweres Missverhältnis zwischen Anlass der Tat und Tötung genügt für sich genommen nicht, sondern maßgebend sind vielmehr die Gesamtumstände, zu denen auch Besonderheiten in der Persönlichkeit des Täters und seine seelische Situation zur Tatzeit gehören. In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte
Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann; dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen. Hauptmotiv des P für seinen Angriff – auch auf L – ist die Wut und Verärgerung über den verwehrten Einlass in den Club sowie die Verletzung seiner
Ehre und seines Machtanspruchs. Allein aus diesen Gründen auf einen anderen Menschen mit Tötungsvorsatz einzustehen, steht sittlich auf tiefster Stufe.

3. Unmittelbares Ansetzen

P hat zur Tatbegehung auch jeweils unmittelbar angesetzt. Er hat subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschritten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Handlung angesetzt, sodass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergegangen ist. Das Tun des P war also
jeweils so eng mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung verknüpft, dass es bei ungestörten Fortgang unmittelbar zur Verwirklichung des gesamten Straftatbestandes führen sollte oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stand. P hat jeweils auf N und L
eingestochen.

4. Strafbefreiender Rücktritt, § 24 StGB

Fraglich ist, ob P hier jeweils von dem versuchten Totschlag nach § 24 Abs. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten ist. Dafür ist zunächst abzugrenzen, ob der Versuch noch unbeendet oder schon beendet war, weil das Gesetz unterschiedliche Anforderungen an die Rücktrittsleistung stellt. Dazu
der BGH:

„II.1. Nach § 24 Abs. 1 S. 1 1. Alt. StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt. Voraussetzung ist zunächst, dass der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit einem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs rechnet (unbeendeter Versuch), seine Herbeiführung aber noch für möglich hält. Zutreffend gesehen und beachtet
hat das Landgericht, dass es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Anforderungen an die Rücktrittsleistung des Täters darauf ankommt, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt
des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; …). Wenn der Täter nach seinem Kenntnisstand nach der letzten Ausführungshandlung in zutreffender Einschätzung der durch die Tathandlung verursachten Gefährdung des Opfers oder in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit seiner Handlung den Erfolgseintritt für möglich hält, ist der Versuch beendet; rechnet der Täter dagegen nach der letzten Ausführungshandlung nach seinem Kenntnisstand (noch) nicht mit dem Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, und sei es auch nur in Verkennung der durch seine Handlung verursachten Gefährdung des Opfers, so ist der Versuch unbeendet, wenn die Vollendung aus der Sicht des Täters noch möglich ist (st. Rspr.; …). Macht der Täter sich nach der letzten Ausführungshandlung keine Vorstellung über die Folgen seines Tuns oder ist ihm der Erfolg gleichgültig, ist ein beendeter Versuch anzunehmen (st. Rspr. …).“

Aus den nachfolgenden Gründen könnten die Versuche, N und L zu ermorden, jeweils bereits beendet gewesen sein: P hat nach den geführten Stichen einen hierdurch eintretenden Tod seiner Opfer für möglich gehalten. Bei ihm hat sich dieser Rücktrittshorizont auch im weiteren Geschehensverlauf nicht korrigiert. Weder der möglicherweise wahrgenommene Angriff des N auf den A, noch das nachfolgende Einstechen auf weitere Opfer, noch das weitere Einstechen auf L trägt die Annahme, P habe den tödlichen Erfolg seiner Stiche nicht mehr für möglich gehalten, zumal ihm aus einem früher gegen ihn geführten Verfahren bekannt war, dass selbst Messerstichverletzungen im Oberkörperbereich nicht unmittelbar zu einem Leistungseinbruch führen müssen. P hat sich – wie u.a. seine weiteren Angriffe zeigen –keine Gedanken um den möglichen Erfolgseintritt gemacht, dieser war ihm einfach „egal“. Überdies wäre ein Rücktritt des P auch nicht freiwillig gewesen, da er nach der Einwirkung auf A von einer anderen Person weggeschubst wurde und sich schließlich einer zahlenmäßigen Übermacht von Türstehern gegenübersah, die ihn überwältigten. Es ist daher zweifelhaft bzw. nicht ersichtlich, ob der P in dieser Situation noch ungehindert weitere Ausführungshandlungen hätte vornehmen können.

Fraglich ist daher hier, wie der sog. Rücktrittshorizont des Täters zu bestimmen ist. Dazu der BGH:

„2. Maßgebend für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts ist das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung, bei einem - wie hier - mehraktigen Geschehen die subjektive Sicht des Täters nach Ausführung der letzten zu dem Gesamtgeschehen gehörenden Handlung (…). Sind Einzelakte untereinander sowie mit der letzten Tathandlung Teile eines durch die subjektive Zielsetzung des Täters verbundenen, örtlich und zeitlich einheitlichen Geschehens, so beurteilen sich die Fragen, ob der Versuch fehlgeschlagen ist oder ob der strafbefreiende Rücktritt andernfalls allein schon durch das Unterlassen weiterer Tathandlungen (unbeendeter Versuch) oder durch Verhinderung der Tatvollendung (beendeter Versuch) erreicht werden kann, ebenfalls allein nach der subjektiven Sicht des Täters nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung (…).“

Wie das Vorstellungsbild des P bei der Tatausführung hier aussah, ist aber (noch) unklar. Dazu der BGH.

„Die Urteilsgründe lassen (…) besorgen, dass das Landgericht seiner rechtlichen Würdigung insofern nicht den gesamten festgestellten Geschehensablauf zugrunde gelegt hat, als es nur auf das Geschehen bis zum Wegschubsen des [P] durch eine nicht identifizierbare Person abgestellt hat. Die Urteilsfeststellungen hätten indes Anlass gegeben, auch das nach diesem Zeitpunkt liegende Geschehen näher in den Blick zu nehmen und zu erörtern, bei der die Auseinandersetzung zwischen den Türstehern und dem [P] fortgesetzt und der [P] hierbei nicht überwältigt wurde, er vielmehr sodann mit erhobenem Messer in Richtung des A eilte und - nachdem dieser von seinem Bruder abließ - sich entfernte. Hierzu lassen die Urteilsgründe eine Erörterung vermissen, obgleich diese nach Lage der Dinge geboten gewesen wäre. Weder gestattet die bislang festgestellte objektive Sachlage einen sicheren Rückschluss auf die innere Einstellung des [P] (hier etwa darauf, dass das nicht erörterte Geschehen für den maßgeblichen Rücktrittshorizont des [P] ohne Bedeutung gewesen sein könnte), so dass ausnahmsweise von entsprechenden Erörterungen hätte abgesehen werden können (…), noch war eine Erörterung deswegen entbehrlich, weil die Strafkammer zu dieser Auseinandersetzung zwischen den Türstehern und dem [P] bislang keine näheren Feststellungen zu treffen vermochte. Denn die von der Strafkammer angenommene gedankliche Indifferenz des [P] gegenüber den von ihm bis dahin zumindest in Kauf genommenen Konsequenzen muss - als innere Tatsache - positiv festgestellt werden; können konkrete Feststellungen nicht getroffen werden, darf dies mit der positiven Feststellung der gedanklichen Indifferenz nicht gleichgesetzt werden, da es insoweit noch Raum für die Anwendung des Zweifelssatzes gibt (…).“

Ob dem P daher jeweils die strafbefreiende Wirkung eines Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 Abs. 1 StGB zu Gute kommt, bedarf sowohl betreffend N als auch betreffend L hier weiterer Sachaufklärung.

Hinweis: Im Übrigen wäre zu prüfen, ob ein etwaiger Rücktritt des P vom Versuch „freiwillig“ erfolgt ist. „Freiwilligkeit“ liegt vor, wenn der Täter „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist und die Ausführung seines Verbrechensplans noch für möglich gehalten hat, er also weder durch eine äußere Zwangslage daran gehindert noch durch seelischen Druck unfähig geworden ist, die Tat zu vollbringen. Dabei ist maßgebliche Beurteilungsgrundlage nicht die objektive Sachlage, sondern die Vorstellung des Täters hiervon; die äußeren Gegebenheiten sind jedoch insoweit von Bedeutung, als sie Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters ermöglichen. Dazu vorliegend der BGH:

„II.3. (…) auch die weiteren Erwägungen der Strafkammer zur Freiwilligkeit des Rücktritts leiden insoweit an demselben Rechtsfehler, als sie auf das Wegschubsen des [P] einerseits und dessen spätere Überwältigung andererseits abstellen, den zwischen diesen Ereignissen liegenden Zeitraum aber nicht hinreichend in den Blick nehmen. Dass sich der [P] im Rahmen der in diesem Zeitfenster ereignenden Auseinandersetzung, bei der [er] noch die „Oberhand“ behielt, oder als deren Ergebnis aus freien Stücken entschlossen hat, von einem noch möglichen Angriff auf seine Tatopfer abzusehen, ist nicht gänzlich ausgeschlossen.“

Siehe zum Merkmal der „Freiwilligkeit“ beim Rücktritt vom versuchten Mord etwa auch diesen Beitrag.

1. Zwischenergebnis

P hat sich (nach derzeitigem Stand) nicht wegen versuchten Mordes von N und L strafbar gemacht.

2. Versuchter Totschlag, §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB (B)

Aus den zuvor genannten Gründen hat sich P auch nicht wegen versuchten Totschlags nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er auf den B (ebenfalls mit dem Messer) eingestochen hat. Insoweit gilt gleichermaßen, dass es für die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts i.S.v. § 24 StGB auf den – hier noch nicht abschließend festgestellten – Rücktrittshorizont des P ankommt.

3. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und Nr. 5 StGB

P hat sich ferner jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er mit dem Messer auf N, L, B und A eingestochen und diese verletzt hat. N, L, B und A wurden dadurch körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Bei dem von P eingesetzten Messer handelt es sich um ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB. Soweit P den N damit in den Bereich des unteren Brustkorbes gestochen hat, den B in die rechte Brust und den A in den Bauch, hat er die Körperverletzung zudem mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangen. In allen vier Fällen handelte P ferner vorsätzlich.

P hat sich betreffend N, L, B und A hier (auch) wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.

4. Ergebnis

Ob sich P wegen versuchten Mordes in zwei Fällen (N und L) sowie wegen versuchten Totschlags (B) strafbar gemacht hat, bedarf noch weiterer Sachaufklärung. Jedenfalls hat er sich in vier Fällen – betreffend N, L, B und A – wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht. Ggfs. stehen die versuchten Delikte jeweils in Tateinheit mit der Qualifikation des Körperverletzungsdelikts (vgl. § 52 StGB).

Hinweis: Das Landgericht, dessen Urteil der nach Jugendstrafrecht abzuurteilende P mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts (sog. Sachrüge) gestützte Revision angegriffen hat, hat P wegen versuchten Mordes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verurteilt und das Messer eingezogen. Der 2. Strafsenat des BGH hat dieses Urteil des Landgerichts – soweit P wegen der Taten zum Nachteil von N, L und B verurteilt worden ist und im Strafausspruch – aufgehoben und an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

1. Prüfungsrelevanz

Die Vorschrift des § 24 StGB über den Rücktritt ist von hoher Relevanz für Ausbildung, Prüfung und Praxis. Sie bestimmt darüber, ob einem Täter eine „goldene Brücke“ in die Straffreiheit gewehrt werden kann, wenn er nach dem unmittelbaren Ansetzen zur Tatausführung diese freiwillig wieder aufgibt. Dieser persönliche Strafaufhebungsgrund soll dem Täter sowohl die Rückkehr in die Legalität ermöglichen, als ihn auch zur Umkehr bewegen, wodurch dem Opferschutzgedanken Rechnung getragen wird.

In materiell-rechtlicher Hinsicht sind die Anforderungen an die Voraussetzungen an den Rücktritt vom unbeendeten Versuch nach Maßgabe von § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB weniger streng als diejenigen, die bei einem beendeten Versuch (vgl. § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB) zu erfüllen sind. Maßgeblich für die Abgrenzung ist der sog. Rücktrittshorizont des Täters, also das subjektive Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung. Die Entscheidung des 2. Strafsenats des BGH liegt auf der Linie der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung und wendet diese auf den Einzelfall an.

In einem Strafurteil darf daher auch nicht offenbleiben, welche Vorstellungen sich der Täter im relevanten Ausführungs- Zeitpunkt gemacht hat. Kommt etwa bei einem unbeendeten Versuch der räuberischen Erpressung ein Rücktritt durch freiwilliges Abstandnehmen von der Tat in Betracht, muss das Gericht Feststellungen dazu treffen, ob der Täter davonausging, er könne das von ihm angestrebte Nötigungsziel durch weitere Aufrechterhaltung oder ggfs. Verschärfung seines Bedrohungsszenarios noch erreichen, und warum die Tat nicht vollendet wurde (vgl. BGH, B. v. 14.09.2022 – 5 StR 221/22).

Eine weitere „Brücke“ in die Straffreiheit wird dem Täter auch dann eröffnet, wenn die Tat zwar ohne sein Zutun nicht vollendet wird, er sich aber freiwillig und ernsthaft bemüht, die Vollendung zu verhindern (vgl. § 24 Abs. 1 S. 2 StGB). Das zusätzliche Tatbestandsmerkmal der „Ernsthaftigkeit“ erfordert ein Ausschöpfen der aus Sicht des Täters ausreichenden Verhinderungsmöglichkeiten; er muss alles tun, was in seinen Kräften steht, mithin die am besten geeignete („optimale“) Rettungsmaßnahme ergreifen (vgl. BGH, Beschl. v. 23.8.2022 – 1 StR 270/22). Stehen zudem Menschenleben auf dem Spiel, genügt keine „irgendwie geartete Rettungsaktivität“; erforderlich ist vielmehr ein solches Bemühen, das sich in der Vorstellung des Täters als ein Abbrechen des in Gang gesetzten Kausalverlaufs darstellt.

Es handelt sich um eine lesenswerte und für die Prüfungsvorbereitung gut geeignete Entscheidung!

(BGH, Beschluss vom 03.02.2022 – 2 StR 317/21)

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