BGH zur Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung beim Schusswaffengebrauch

BGH zur Erforderlichkeit einer Notwehrhandlung beim Schusswaffengebrauch

Zur Notwehrlage und erforderlichen Notwehrhandlungen

Die mögliche Rechtfertigung des Täters nach § 32 StGB, der in Notwehr gehandelt hat, ist rechtlich wie tatsächlich an einige Voraussetzungen geknüpft, deren Vorliegen sorgfältig geprüft werden müssen. Kann sich das Strafgericht nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, ob eine Notwehrlage tatsächlich vorgelegen hat und/oder die Notwehrhandlung erforderlich gewesen ist, gilt „in dubio pro reo“.

A. Sachverhalt

Eines Abends treffen sich X und R zur Abwicklung eines von R angebahnten Ankaufs einer Pistole für etwa 4.000 € bei einer Straßenbahnhaltestelle mit dem N. Der X führt neben einem entsprechenden Geldbetrag eine Schusswaffe bei sich, um sich im Fall einer Auseinandersetzung zur Wehr setzen zu können. Es kommt zu Unstimmigkeiten mit dem N, weil dieser von X zunächst die Übergabe des Geldes fordert. Nachdem er zwischenzeitlich mit seinem Motorrad davongefahren war, kehrt der N nach einigen Minuten in Begleitung des P zurück. Dieser (P) fordert von X ebenfalls, zuerst den Kaufpreis zu bezahlen. X holt darauf das Geld aus seiner Jackentasche und zeigt es vor. In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang dazu sprüht der N mit einem Pfefferspray in Richtung des X, der davon jedenfalls auch im Gesicht getroffen wird. Unmittelbar nach dem Einsatz des Pfeffersprays entreißt der P dem X das Geld. X, bei dem es sich um einen besonders geübten Schützen handelt, holt anschließend den mitgeführten Revolver aus der Tasche. Dies sehen N und P, drehen sich um und rennen zum Motorrad des N zurück. X läuft ihnen hinterher und fordert sie erfolglos zur Rückgabe des Geldes auf. Da beide weiter flüchten, schießt er nun zweimal in schneller Folge gezielt auf Oberkörperhöhe in Richtung des N und des P, die sich beide zwei bis drei Meter von ihm entfernt befinden, verfehlt sie jedoch beide. Als N auf der Höhe eines Stichwegs ankommt, in den P bereits abgebogen ist, dreht er sich für einen kurzen Augenblick um. Der zu diesem Zeitpunkt etwa 20 bis 25 Meter entfernte X zielt und schießt ein weiteres Mal auf N. Das Projektil trifft ihn an der Körpervorderseite unterhalb des Schlüsselbeins. Trotzdem schafft es der lebensgefährlich verletzte N, in den Weg einzubiegen und weiterzulaufen. X bricht die weitere Verfolgung ab, weil er davon ausgeht, dass er N und P nicht mehr wird einholen können. Bei allen Schüssen nimmt X den Tod der anvisierten Personen – N und P – zumindest billigend in Kauf. Ferner handelte er auch mit dem Willen, sich gegen die Entwendung des Geldes zur Wehr zu setzen.

Wie hat sich X strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I. Versuchter Totschlag, §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB

X könnte sich wegen versuchten Totschlags nach den §§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er auf den Oberkörper von N und P gezielt und mit seinem Revolver geschossen hat.

1. Vorprüfung

Der tatbestandliche Erfolg – der Tod eines Menschen – ist nicht eingetreten; den P hat X verfehlt, N ist durch den letzten Schuss „lediglich“ lebensgefährlich verletzt worden. Der Versuch des Totschlags, eines Verbrechens (§ 12 Abs. 1 StGB), ist strafbar, vgl. § 23 Abs. 1 HS 1 StGB.

2. Tatentschluss

X hatte einen Tatentschluss, also den Vorsatz, einen anderen Menschen zu töten. In Betracht kommt hier bedingter Vorsatz (sog. dolus eventualis). Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Diese subjektiven Voraussetzungen lagen hier jeweils in Bezug auf N und P vor.

3. Unmittelbares Ansetzen

X hat zur Verwirklichung des Tatbestandes auch unmittelbar mit der Abgabe der Schüsse angesetzt.

4. Rechtfertigung durch Notwehr, § 32 StGB

Fraglich ist, ob X gerechtfertigt ist. In Betracht kommt eine Rechtfertigung durch Notwehr (§ 32 StGB). Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§ 32 Abs. 2 StGB). Es müsste also eine Notwehrlage bestanden haben und eine Notwehrhandlung des X im Sinne einer „erforderlichen Verteidigung“ gegeben sein.

a) Notwehrlage

Fraglich ist, ob sich der X einem „gegenwärtigen Angriff“ von N und P gegenübersah. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste. Ein gegenwärtiger Angriff ist daher auch ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht hinnehmbarer Risiken aussetzen würde. Für die Gegenwärtigkeit des Angriffs entscheidet der Zeitpunkt der durch einen bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage. Bei einem vorsätzlichen Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert ist und eine akute Bedrohung darstellt. Nur dann ist es dem Verteidiger möglich, dem Angreifer zuvorzukommen, da dieser Moment typischerweise mit dem unmittelbaren Ansetzen des Angreifers verstreicht. Entscheidend ist, dass der Angreifer durch sein Verhalten eine feindselige Absicht nach außen wahrnehmbar manifestiert hat und sich raumzeitlich betrachtet in einer Distanz aufhält, in der er ohne weiteres die Rechtsgüter des anderen verletzen kann. Das muss erst recht gelten, wenn nur er über eine potenziell tödlich wirkende Distanzwaffe verfügt. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang die objektive Sachlage. Es kommt nicht auf die Befürchtungen des Angegriffenen an, sondern auf die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung, die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmt. Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet noch keine Notwehrlage (vgl. BGH, Urt. v. 30.3.2022 – 2 StR 263/21, Besprechung: hier im Blog.
Gemessen an diesen Anforderungen befand sich X vorliegend bei der Abgabe der Schüsse auf N und P jeweils in einer Notwehrlage. Er sah sich während der gesamten Tatzeit einem rechtswidrigen und noch gegenwärtigen Angriff auf sein Besitzrecht an dem von N und P entwendeten Geld ausgesetzt.

b) Verteidigungswille

Weiter wies X bei der Abgabe der Schüsse auf N und P jeweils auch einen Verteidigungswillen auf. Die Vorschrift des § 32 StGB erfordert in subjektiver Hinsicht einen solchen Willen. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.) hinzutreten. X wollte hier die Entwendung des Geldes abwehren.

c) Notwehrhandlung

Fraglich ist allerdings, ob die Verteidigungshandlung(en) des X auch „erforderlich“ i.S. von § 32 StGB war(en). Zu den Anforderungen an die Erforderlichkeit führt der BGH aus:

„II.2.a) Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Für den lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe in Notwehrsituationen gilt dabei, dass ein solcher zwar nicht von vornherein unzulässig ist, aber nur das letzte Mittel der Verteidigung sein kann. In der Regel ist der Angegriffene gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen.

Reicht dies nicht aus, so muss er, wenn möglich, vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder, wenn diese nicht ausreichen, Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen.“

Gegen die Erforderlichkeit der Verteidigung könnte hier sprechen, dass X zur Abwehr des von N und P nicht mindestens dreimal gezielt auf die Oberkörper der beiden hätte schießen dürfen, da es sich hierbei nicht um das mildeste, ihm in der konkreten Kampflage zur Verfügung stehende Mittel gehandelt hat. Er könnte zwar nicht gehalten gewesen sein, den Waffengebrauch vorher verbal anzudrohen, da N und P seinen Revolver bereits gesehen hätten; allerdings hätte ihm zuzumuten gewesen sein können, vor einem potentiell tödlichen Einsatz zunächst ungezielte Warnschüsse abzugeben und im Anschluss erst auf weniger sensible Körperteile zu schießen, um die Angreifer von der Sicherung der Tatbeute abzuhalten. Solche Schüsse hätten X als besonders geübten Schützen auch möglich gewesen sein können; ein unzumutbares Risiko eines Fehlschlags sei damit nicht einhergegangen. Dazu der BGH:

„Für die ersten beiden, bereits auf die Oberkörper der Fliehenden zielenden Schüsse des [X] hat das Landgericht (…) zutreffend angenommen, dass sie nicht im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich waren.

(…)

Zumindest Schüsse (…) auf weniger sensible Körperregionen wären dem [X] hier möglich gewesen, ohne dabei die Erfolgschancen seiner Verteidigung in relevantem Umfang zu schmälern, da er sich bei Abgabe der Schüsse nur zwei bis drei Meter hinter den Fliehenden befand und er zudem im Umgang mit einer Schusswaffe erfahren war. Seine sofortigen Schüsse auf die Oberkörper entsprachen daher nicht der mildesten ihm zu Gebote stehenden Abwehrmöglichkeit.“

Die Beurteilung der Erforderlichkeit in Bezug auf den 3. Schuss könnte aber abweichen. Dazu der BGH:

„2. [Das Landgericht] hat die drei Schüsse rechtlich einheitlich gewürdigt. Da diese unter sich ändernden Bedingungen abgegeben wurden, hätte es jedoch einer differenzierenden Betrachtung und in deren Konsequenz zusätzlicher Feststellungen bedurft.

(…)

b) Für den dritten Schuss hat das Landgericht (…) nicht in den Blick genommen, dass sich im Verlauf des Tatgeschehens Umstände geändert haben, die für die Voraussetzungen der Notwehr wesentlich sind. Ausgehend hiervon hat es unzureichende Feststellungen getroffen, die es dem Senat nicht erlauben, die mögliche Erforderlichkeit des Schusses als Notwehrhandlung zu überprüfen. Das Landgericht hat über dieses Kriterium zudem nicht wie geboten anhand der konkreten tatsächlichen Umstände entschieden.

Zu beurteilen ist die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung auf der Grundlage einer objektiven ex ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung. Der Angegriffene ist grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Er muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (…).

aa) Ausgehend hiervon erlauben es die vorhandenen Feststellungen jedoch schon nicht zu beurteilen, ob der dritte Schuss eine Beseitigung der Gefahr überhaupt ermöglichte, mithin ob er zur Abwehr des Angriffs auf das Besitzrecht des [X] geeignet war. Dies unterliegt Zweifeln, weil der dritte Schuss - anders als die ersten beiden Schüsse - allein auf den [N] abgegeben wurde. Trug der P, der die Geldscheine entrissen hatte, sie auch bei Abgabe des dritten Schusses noch bei sich, so erscheint fraglich, inwiefern eine Unterbindung der Flucht des [N] noch zur Abwehr des Angriffs hätte beitragen können. Dazu hätte das Handeln des [X] schließlich die Aussicht bieten müssen, eine Beutesicherung durch den bereits vorauseilenden [P] noch zu verhindern. Das Landgericht hat nicht festgestellt, ob sich das Geld bei Abgabe des dritten Schusses noch [P] oder aber beim [N] befand.

Dies hätte hier jedoch allenfalls dann offen bleiben dürfen, wenn aus der gebotenen ex ante-Sicht gar nicht erkennbar gewesen sein sollte, welcher der Fliehenden das entwendete Geld mit sich führte, denn dann wäre aus dieser Perspektive jeder Schuss als chancenerhöhend für die Abwehr anzusehen gewesen, unabhängig davon, auf wen von beiden er abgegeben wurde. Auch über diese Frage geben die Urteilsgründe aber keine Auskunft.

Im Einzelnen:

(1) Für die gebotene ex ante-Betrachtung ist entscheidend, wie sich die Lage aus Sicht eines objektiven und umfassend über den Sachverhalt orientierten Dritten in der Tatsituation des [Täters] nach der unter Beachtung des Zweifelssatzes zu bildenden tatrichterlichen Überzeugung darstellt (…). Geprägt wird die „Tatsituation“ eines Verteidigers dabei auch durch den ihm in diesem Moment zugänglichen Erkenntnishorizont; maßgeblich ist nicht die Sicht eines allwissenden Beobachters, sondern die Perspektive des sorgfältig beobachtenden Verteidigers (…). Für den [X] war diese Perspektive naheliegend insofern limitiert, als ihm das Geld in einem plötzlich beginnenden, dynamischen Geschehen entrissen und zudem gegen ihn Reizgas eingesetzt worden war. Die Jugendkammer ist zwar davon ausgegangen, dass dies die Sehfähigkeit des [X] „nicht signifikant“ verschlechtert hatte, konnte aber nicht ausschließen, dass er jedenfalls „im Gesicht getroffen und dementsprechend beeinträchtigt“ war.

(2) Aus der beschriebenen Perspektive bildete die Verhinderung der Flucht des [N] schon dann eine geeignete Abwehrhandlung, wenn der Verbleib des Geldes nicht erkennbar gewesen sein sollte. Denn aus dieser Sicht wäre dann von der Möglichkeit auszugehen gewesen, dass der [N] das Geld mit sich führte, so dass der Schuss auf ihn eine Chance zum Erhalt der von den Angreifern noch nicht endgültig gesicherten Beute begründen konnte. Eine für den [X] nur ex post zu erlangende Kenntnis davon, dass sich das Geld beim [P] befand, würde dies nicht in Frage stellen; dies fällt vielmehr in das Risiko der Angreifer (…).

(3) Ob aus der umschriebenen Perspektive erkennbar war, wo sich das Geld befand, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen. Erschließbar ist dies auch nicht daraus, dass das Landgericht einen Verteidigungswillen des [X] bejaht hat. Dies gilt schon deswegen, weil das Landgericht auch bei der Prüfung des Verteidigungswillens dem Verlauf des Tatgeschehens nicht wie geboten Rechnung getragen hat. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff des Verteidigers zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren (..). Dies stünde in Frage, sollte der [X] den dritten Schuss auf den Nebenkläger in der Vorstellung abgegeben haben, dass dieser das Geld gar nicht bei sich trug. Einen solchen Zusammenhang hat die Jugendkammer jedoch nicht erkennbar bedacht; vielmehr hat sie einen Verteidigungswillen zugunsten des [X] lediglich nicht auszuschließen vermocht und sich dabei allein auf eine vom [X] behauptete Rückgabeaufforderung gestützt, die dieser bereits vor Abgabe der ersten beiden Schüsse an den [N] und den [P] gerichtet haben will. Damit hat die Jugendkammer keine Feststellung dahingehend getroffen, dass aus der Position des Verteidigers eine Erkenntnismöglichkeit oder beim [X] gar eine positive Vorstellung dazu bestanden hätte, welcher der beiden Fliehenden das Geld bei sich führte. Somit bleibt auch in diesem Zusammenhang offen, ob er durch den Schuss den Angriff überhaupt noch abwehren konnte.

bb) Bei seiner Einschätzung der Erforderlichkeit des dritten Schusses hat das Landgericht zudem die zwischenzeitliche Änderung der äußeren Umstände außer Betracht gelassen.

Die maßgebliche „Kampflage“ (…) stellte sich bei Abgabe des dritten Schusses ganz anders dar als bei den vorangegangenen Schüssen: Der [N] war vom [X] nun bereits 20 bis 25 Meter entfernt, der [P] zuvor schon in einen Stichweg abgebogen. Ex ante lag damit nahe, dass ein Entkommen des [N] aus dem Schussfeld nun unmittelbar bevorstand und dem [X] nur noch Gelegenheit zu einem letzten Schuss verblieb, um dies zu verhindern. Da die beiden gezielten, ihn allerdings verfehlenden Schüsse den [N] von seiner Flucht nicht abgehalten hatten, konnte dies realistisch nur noch durch einen Treffer gelingen.

Diese Änderung der Gegebenheiten hätte das Landgericht berücksichtigen müssen bei seiner Annahme, wonach ein solcher Treffer für den [X] auch beim dritten Schuss bei einem Zielen auf die Beine noch immer mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreichbar gewesen wäre wie bei einem Zielen in Richtung des Oberkörpers. Die Jugendkammer hat Schüsse auf die Beine gerade deshalb für möglich erachtet, weil der [X] ein geübter Schütze ist. Sie ist also offenbar davon ausgegangen, dass die sich bewegenden Beine eines Fliehenden schwieriger zu treffen sind als sein Oberkörper. Dann hätte sie allerdings in ihren prognostischen Vergleich der Erfolgwahrscheinlichkeiten einstellen müssen, dass der [X] den dritten Schuss unter weit ungünstigeren Bedingungen abgab als die ersten beiden Schüsse, bei denen er seine Ziele schon verfehlt hatte: Was aus einer Entfernung von lediglich zwei bis drei Meter gelingen konnte, muss aus rund zehnfacher Distanz keineswegs genauso erreichbar gewesen sein. Befanden sich die Fliehenden bei den ersten beiden Schüssen noch in einem weiten Schussfeld, so bestand beim dritten Schuss zudem wahrscheinlich keine Wiederholungsmöglichkeit mehr. Zu bedenken gewesen wäre bei der Beurteilung schließlich auch, dass an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen (…).“

Die Verteidigungshandlung des X war demnach bei Abgabe der ersten beiden Schüsse auf N und P nicht „erforderlich“ im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB, weswegen X insoweit nicht gerechtfertigt ist. Ob dies auch für die Abgabe des 3. Schusses auf N gilt, bedarf der weiteren (tatgerichtlichen) Aufklärung.

Hinweis: Der Angegriffene darf sich grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt, was auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel einschließt. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang muss er sich nicht einlassen. [Vgl. dazu unseren Blog hier.]

d) Zwischenergebnis

X ist betreffend die Abgabe der ersten beiden Schüsse – jeweils „eine Tat“ i.S.v. § 52 Abs. 1 StGB – nicht durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt; für den 3. Schuss steht dies derzeit noch nicht fest.

5. Zwischenergebnis

X hat sich (nach derzeitigem Stand) in zwei Fällen wegen versuchten Totschlags (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht. Die beiden Taten (und ggfs. die dritte) stehen zueinander in Tateinheit.

Hinweis: Der 5. Strafsenat des BGH hat das Urteil des Landgerichts, mit dem der X u.a. wegen versuchten Totschlags (in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und versuchten Erwerbs einer erlaubnispflichtigen Schusswaffe) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist, mit den Feststellungen – insgesamt – aufgehoben und die Sache an eine andere (Schwurgerichts-)Kammer des Landgerichts zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dazu der BGH:*

„III.1. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Das gilt aufgrund der vom Landgericht angenommenen Tateinheit auch für die ersten beiden - auf Grundlage der bisherigen Feststellungen - mit Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse, obgleich das Landgericht insoweit eine Rechtfertigung durch Notwehr rechtsfehlerfrei abgelehnt hat und die Feststellungen isoliert betrachtet eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags getragen hätten. Die Sache bedarf daher insgesamt der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung.“

Im Rahmen der erneuten Verhandlung sind zudem weitergehende Feststellungen wie folgt zu treffen:

„III.2.a) Das neue Tatgericht wird ggfs. Feststellungen dazu zu treffen haben, bei welchem Angreifer sich das entwendete Geld zum Zeitpunkt der Abgabe des dritten Schusses befand. Für den Fall, dass nicht der [N], sondern der [P] es bei sich trug, bedarf es auch Feststellungen dazu, ob dies für einen sorgfältig beobachtenden Verteidiger erkennbar war. Sollten Feststellungen möglich sein zur konkreten Vorstellung des [X], so käme auch ihr Relevanz zu: Sollte das Tatgericht zu der Überzeugung gelangen, dass der [X] positiv von einem Besitz des [P] ausging, so kann dies die erneute Annahme eines auch beim Schuss auf den [N] noch fortbestehenden Verteidigungswillens in Frage stellen (…). Sollte der [X] dagegen irrtümlich einen gar nicht bestehenden Besitz des [N] angenommen haben, könnte dies unter dem Gesichtspunkt der irrigen Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts als ein den Vorsatz ausschließender Irrtum über Tatumstände nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB Bedeutung erlangen (…).“

Für die nach § 46 StGB vorzunehmende Strafzumessung weist der BGH vorsorglich auf folgendes hin:

III.2.b) Sollte das neue Tatgericht bei einer ggfs. zuzumessenden Strafe für versuchten Totschlag erneut eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 23 Abs. 2, 49 Abs. 1 StGB wegen der Nähe zur Tatvollendung versagen, so wird es zu beachten haben, dass es diesen Umstand bei der weiteren Konkretisierung der Strafe kein weiteres Mal ungemindert in Ansatz bringen darf (…). Dies gilt auch für eine Berücksichtigung bei der Entscheidung über die Annahme eines minder schweren Falls nach § 213 Alt. 2 StGB.“

II. Gefährliche Körperverletzung, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB

Ob sich X in Bezug auf den 3. Schuss, den er auf den N abgegeben hat, wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht hat, hängt (ebenfalls) davon ob, er diese Tat durch Notwehr nach § 32 StGB gerechtfertigt ist oder nicht; diese Beurteilung ist offen (s.o.).

III. Versuchte gefährliche Körperverletzung, §§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB

X hat sich aber – in zwei tateinheitlichen Fällen – wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung nach den §§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, in dem er auf N und P geschossen hat (erster und zweiter Schuss). Eine Rechtfertigung durch Notwehr scheidet insoweit aus (s.o.).

IV. Ergebnis

X hat sich (nach derzeitigem Stand) zumindest wegen versuchtem Totschlag in zwei tateinheitlichen Fällen nach §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht (erster und zweiter Schuss). Die insoweit jeweils ebenfalls verwirklichte versuchte gefährliche Körperverletzung (§§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5, 22, 23 Abs. 1 StGB) tritt dahinter im Wege der Subsidiarität zurück; einer Klarstellung bedarf es nicht.

Ob sich X daneben noch wegen eines weiteren versuchten Totschlags – in Tateinheit mit (vollendeter) gefährlicher Körperverletzung – strafbar gemacht hat (dritter Schuss), bedarf der weiteren Aufklärung.

Hinweis: Die zeitlich verzögerte Abgabe der beiden Schüsse auf N führt – die Strafbarkeit des X unterstellt – nicht zur Annahme einer natürlichen Handlungseinheit bzw. nur einer Tat im Rechtssinne. Richtet sich der Angriff des Täters (hier X) gegen ein und dasselbe Opfer (N), kann eine natürliche Handlungseinheit dann bejaht werden, wenn zwischen einer Mehrzahl gleich gearteter Betätigungen ein derart unmittelbarer Zusammenhang besteht, dass sich das gesamte Vorgehen des Täters bei objektiver Betrachtung als ein einheitliches zusammengehöriges Tun darstellt und die einzelnen Handlungen durch ein gemeinsames subjektives Element miteinander verbunden sind; zeitliche Abstände zwischen den Einzelakten können der Annahme natürlicher Handlungseinheit aber entgegenstehen, sofern die Zäsur erheblich ist und nach außen bei wertender Betrachtung einen augenfälligen Einschnitt bewirkt.

Vorliegend ist ein solcher unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Zusammenhang, aus objektiver wie subjektiver Sicht bestehen muss, nicht gegeben. Nachdem X die ersten beiden Schüsse auf die flüchtenden N und P abgegeben und sie verfehlt hat, sind beide weiter gelaufen und P war bereits in einen Stichweg eingebogen, als X erneut einen (dritten) Schuss auf N, der sich kurz umgedreht hatte, abgab. Es lag hier also ein „Szenenwechsel“, getragen von einem neuen Willen, wieder auf N zu schießen, vor.

C. Prüfungsrelevanz

Die mögliche Rechtfertigung des Täters nach § 32 StGB, der in Notwehr gehandelt hat, ist rechtlich wie tatsächlich an einige Voraussetzungen geknüpft, deren Vorliegen sorgfältig geprüft werden müssen. Kann sich das Strafgericht nicht mit hinreichender Sicherheit davon überzeugen, ob eine Notwehrlage tatsächlich vorgelegen hat und/oder die Notwehrhandlung erforderlich gewesen ist, gilt „in dubio pro reo“: „Wenn sichere Feststellungen zu Einzelheiten des inneren oder äußeren Geschehens trotz Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel und Beweisanzeichen nicht getroffen werden können, so darf sich das nicht zu Lasten [Täters] auswirken. Es ist vielmehr von der für den [Täter] günstigsten Möglichkeit auszugehen, die nach den gesamten Umständen in Betracht kommt (…). Dies gilt auch dann, wenn (…) aus tatsächlichen Gründen die Voraussetzungen des § 32 StGB nicht eindeutig auszuschließen sind, weil nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme begründete Zweifel bleiben, ob die Tat gerechtfertigt ist oder nicht“ (vgl. BGH, Urteil vom 26. 8. 2004 - 4 StR 236, Rn. 6). Bevor es aber zur Anwendung des sog. Zweifelssatzes als Entscheidungsregel (BGH, BGH, Urteil vom 9. 6. 2005 - 3 StR 269/0) kommt, muss das Strafgericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen zunächst auf alle Tatsachen und Beweismittel erstreckt haben, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (vgl. § 244 Abs. 2 StPO).

Eine sehr lesenswerte und für die Ausbildung und Prüfungsvorbereitung gut geeignete Entscheidung!

(BGH, Beschluss vom 25.10.2022 – 5 StR 276/22)