Eine lesenswerte und mit reichlich Prüfungsstoff gefüllte Entscheidung – insbesondere zum Notwehrrecht und der sog. Absichtsprovokation
Die Entscheidung befasst sich im Wesentlichen mit den Voraussetzungen der Notwehr im Fall eines Schusswaffengebrauchs, insbesondere mit den Voraussetzungen eines „gegenwärtigen Angriffs“ und dem subjektiven Merkmal des Verteidigungswillens des Täters. Die Konstellation ist in diesem Fall deshalb interessant, da sich Tatopfer und Täter kannten und in einer offen-konfrontativen Situation gegenüberstanden.
A. Sachverhalt
Die D, die jüngste Tochter des X, will den N heiraten. Damit ist X aber nicht einverstanden, der gegenüber einem Imam, der die Eheschließung durchführen soll, erklärt, dass die Hochzeit zunächst nicht stattfinden soll. Gleichwohl wird die Verlobung im Anwesen des X von beiden Familien gefeiert, jedoch lehnt der X anschließend die ihm vorgeschlagenen Hochzeitstermine ab. Darauf legte der Vater des N einen Termin im Frühjahr fest.
Einige Monate später bringt N die D nach einer Feier gegen Mitternacht nach Hause. Dabei kommt es zu einem verbalen Streit des X mit der D, wobei X Beleidigungen ausspricht. Nach dem Vorfall erklärt D dem X, seine letzten Tage seien angebrochen. Dessen Frage, ob sie mit dem Mörder ihres Vaters zusammenleben wolle, bejaht D; danach spricht sie nicht mehr mit ihrem Vater, worunter dieser sehr leidet.
X und seine Familie sind nach diesem Vorfall in Sorge vor einem Racheakt des N und dessen Familie wegen der Beleidigungen. X will den Frieden zwischen den Familien wiederherstellen. Nachdem Vermittlungsversuche unter Einschaltung Dritter scheitern, weil N eine Versöhnung ablehnt, zeigte sich dessen Vater kompromissbereit und stimmt dem Vorschlag eines Treffens mit der Familie des X zu. Dieses Treffen wird aber kurzfristig wieder abgesagt.
Wenige Tage später kauft D ihr Hochzeitskleid, Schmuck, Gold und Haushaltsgegenstände. Das Geld dafür hat sie von N erhalten, wozu auch der X einen Geldbetrag beigesteuert hatte. Beide Familien verabreden sich daraufhin zu einem Treffen in einem Gebetshaus. X beabsichtigt aber nicht, mit der Familie des N über die Hochzeit zu sprechen, sondern will sich den Bedrohungen stellen und sich bei D für die Beleidigungen entschuldigen. Er hält es für möglich, dass es zu einer Versöhnung zwischen den Familien kommen werde. Zwischenzeitlich absolviert der X bei einem Schützenverein Schießübungen mit einem vereinseigenen Luftgewehr. Er beschafft sich auch eine Druckluftpistole.
Bevor X zu dem Familientreffen im Gebetshaus fährt, rät ihm ein Bekannter, auch eine scharfe Schusswaffe mitzuführen, um sich effektiver schützen zu können; dieser übergibt dem X dazu eine halbautomatische Selbstladepistole mit vier Patronen. X fährt zu dem Gebetshaus. Er trägt einen schwarzen Mantel und führt die Druckluftpistole sowie die Selbstladepistole verdeckt darunter im Hosenbund mit. Er ist verunsichert, versucht dies aber durch scheinbar selbstbewusstes Auftreten zu verbergen.
Er zieht seine Schuhe zunächst nicht aus, was der N beanstandet, worauf der X erwidert: „Sprich mich nicht an, was glaubst du wer du bist?“ Nachdem er dann doch seine Schuhe ausgezogen hat, forderte der X den N auf, mit ihm zu einem klärenden Gespräch nach draußen zu kommen. N willigt ein und beide begeben sich auf einen Parkplatz etwa 200 bis 250 m vom Gebetshaus entfernt. Dort stehen sie sich in zwei bis drei Metern Entfernung in der Nähe von Altglas-Containern gegenüber. Der X äußert, dass sie in ein Café gehen sollten, um ein Gespräch zu führen, was N ablehnt. N wird zunehmend verbal aggressiv. Er hatte schon beim Verlassen des Gebetshauses erklärt, dass der X sehr mutig sei zu erscheinen und er nicht gedacht hätte, dass der X es wagen würde, zu dem Treffen zu kommen. Der X fragt darauf erwidernd, ob N gedacht habe, dass er ein Feigling sei. Während sich die Kontrahenten gegenüberstehen, zeigt N mit dem Finger auf X und äußert: „Onkel, ich werde nie vergessen, wie Du mich und meine Familie beleidigt hast, diese Schimpfwörter, nie in meinem Leben, dafür musst du bezahlen.“
Darauf erwartet der X einen Angriff des N, zieht beide Pistolen aus dem Hosenbund und richtet sie jeweils mit dem Lauf nach unten. Der N nimmt eine vor den Glascontainern stehende Glasflasche an sich und äußert zu X, dass dieser auf ihn schießen solle. Er solle aber nicht auf sein Gesicht, sondern in die Herzgegend zielen. Auf die Bemerkung des X, dass er dann tot wäre, erwidert N, dass X schießen solle. N geht auf X zu und schlägt mit der Glasflasche, die er abgebrochen hat, in Richtung des Kopfes des X. Dieser weicht zurück und gibt ungezielt vier Schüsse aus der Selbstladepistole sowie sieben Schüsse aus der Druckluftpistole auf N ab. Dadurch kann er einen Schlag des N mit der Glasflasche abwenden. Zwei Schüsse aus der Selbstladepistole treffen N in den Bauch, die beiden anderen gehen fehl. Ein Geschoss aus der Druckluftpistole trifft N an der Stirn, fünf weitere an den Vorderseiten der Oberschenkel und eines am rechten Ohr. Nachdem N für einen Moment zusammengesackt ist, wendet er sich ab und läuft davon.
X gibt mit ausgestrecktem Arm einen weiteren Schuss aus der Druckluftpistole auf den N ab, um diesen zu verletzen. Das Geschoss trifft den N im Nacken. Nach Abgabe dieses Schusses bleibt X zunächst ratlos stehen, läuft dann in Richtung des Gebetshauses davon und wirft die Pistolen in eine leerstehende Lagerhalle, wo sie später gefunden werden. Der N legt noch 200 m bis zum Gebetshaus zurück und bricht davor zusammen. Er wird kurz darauf gefunden und durch notärztliche Behandlung sowie eine Notoperation im Krankenhaus gerettet. Ohne diese zeitnahe Versorgung wäre er aufgrund der Schussverletzungen gestorben. Wenige Monate später schließen die D und der N standesamtlich die Ehe.
Wie hat sich X nach dem StGB strafbar gemacht?
B. Entscheidung
I. Versuchter Totschlag, §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB
X könnte sich wegen versuchten Totschlages nach den §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit den beiden Pistolen auf N geschossen und diesen damit verletzt hat.
1. Vorprüfung
Die Tat ist nicht vollendet; N ist durch die Schüsse nicht getötet, sondern konnte gerettet werden. Der Versuch eines Verbrechens im Sinne von § 212 StGB ist strafbar, vgl. §§ 23 Abs. 1, 12 Abs. 1 StGB.
2. Tatentschluss
Fraglich ist, ob X einen Tatentschluss gehabt hat, also den Vorsatz, einen anderen Menschen zu töten. In Betracht kommt hier insoweit – lediglich – bedingter Vorsatz (sog. dolus eventualis). Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement).
Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Vorsatzelemente in jedem Einzelfall umfassend zu prüfen und ggfs. durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, die Persönlichkeit des Täters und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände ‒ insbesondere die konkrete Angriffsweise ‒ in den Blick zu nehmen.
Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar (vgl. zum Ganzen etwa BGH, Urteil vom 09.12.2021 – 4 StR 167/21; siehe auch Besprechung dazu unter https://jura-online.de/blog/2022/06/21/bgh-zum-gefaehrlichen-eingriff-in-den-strassenverkehr-durch-steinwerfer/)
Gemessen an diesen Anforderungen hat X den Tod des N bei der Abgabe der Schüsse aus den von ihm mitgebrachten Waffen – der halbautomatischen Selbstladepistole sowie der Druckluftpistole – billigend in Kauf genommen. X hat die Schüsse zwar „ungezielt“ auf N abgegeben, was gegen die Annahme von Eventualvorsatz spricht. Allerdings handelte es sich dabei um vier Schüsse aus der (scharfen) Selbstladepistole sowie sieben Schüsse aus der Druckluftpistole, die X – der mit deren Umgang aufgrund seiner Schießübungen vertraut und in Erwartung eines Angriffs des N war - auf den sich direkt vor ihm befindlichen bzw. auf ihn zukommenden N abgegeben hat. Ferner hatte X vorher erklärt, dass er „kein Feigling“ sei und sich dem verbalaggressiven N entgegengestellt, weswegen bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände – vor allem auch wegen der Verwendung der Waffen aus kurzer Distanz – anzunehmen ist, dass X die tödliche Wirkung der Schüsse auf N gekannt und in Kauf genommen hat.
3. Unmittelbares Ansetzen
X hat zur Verwirklichung des Tatbestandes auch unmittelbar mit der Abgabe der Schüsse angesetzt.
4. Rechtfertigung durch Notwehr, § 32 StGB
Fraglich ist, ob X gerechtfertigt ist. In Betracht kommt eine Rechtfertigung durch Notwehr (§ 32 StGB). Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§ 32 Abs. 2 StGB). Es müsste also eine Notwehrlage bestanden haben und eine Notwehrhandlung des X im Sinne einer „erforderlichen Verteidigung“ gegeben sein.
a) Notwehrlage
Fraglich ist bereits, ob sich der X einem „gegenwärtigen Angriff“ des N gegenüber sah. Dazu der BGH:
„II.1.a)aa) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste (…). Ein gegenwärtiger Angriff ist daher auch ein Verhalten, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlicher nicht hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (…). Für die Gegenwärtigkeit des Angriffs entscheidet der Zeitpunkt der durch einen bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage (…). Bei einem vorsätzlichen Angriff ist dies die Handlung, die dem Versuchsbeginn unmittelbar vorgelagert ist und eine akute Bedrohung darstellt (…). Nur dann ist es dem Verteidiger möglich, dem Angreifer zuvorzukommen, da dieser Moment typischerweise mit dem unmittelbaren Ansetzen des Angreifers verstreicht.
bb) Entscheidend ist, dass der Angreifer durch sein Verhalten eine feindselige Absicht nach außen wahrnehmbar manifestiert hat und sich raum-zeitlich betrachtet in einer Distanz aufhält, in der er ohne weiteres die Rechtsgüter des anderen verletzen kann (…). Das muss erst recht gelten, wenn nur er über eine potenziell tödlich wirkende Distanzwaffe verfügt (…). Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang die objektive Sachlage (…). Es kommt nicht auf die Befürchtungen des Angegriffenen an, sondern auf die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer Rechtsgutsverletzung (…), die zugleich das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung bestimmt (…). Allein die subjektive Befürchtung, ein Angriff stehe unmittelbar bevor, begründet für sich genommen noch keine Notwehrlage (…).
Vorliegend könnte das Ziehen der beiden Pistolen durch X noch nicht als „Angriff“ (auf N) zu würdigen sein, weil der X die Waffen mit den Läufen nach unten gerichtet und zunächst keine weiteren Handlungen vorgenommen hat. Auch haben X und N im Anschluss noch miteinander gesprochen, selbst wenn N den X –provozierend - zur Abgabe eines Schusses aufgefordert hat. In dem avisierten Schlag mit der Glasflasche könnte aber ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff auf X gesehen werden, weil ein Schlag mit der Glasflasche gegen den Kopf des X unmittelbar bevor gestanden hat. Dazu der BGH:
b) [Diese] Würdigung [begegnet] durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
(…)
(1) Nicht der Beginn des Versuchs einer Tötungs- oder Verletzungshandlung, sondern auch eine unmittelbare Vorstufe dazu ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als gegenwärtiger Angriff anzusehen. Das konnte (…) bereits für das Hervorholen der mitgeführten Schusswaffen durch den [X] gelten. Die anschließenden wenigen Äußerungen des [N] und des [X] waren unmittelbar darauf bezogen.
(2) Ferner sind nicht die Befürchtungen des [X] von Bedeutung, sondern der objektive Befund und die Absichten des Angreifers. Zu den Absichten des [N], der vom Landgericht als Angreifer angesehen wurde, hat das Landgericht aber keine Feststellungen getroffen. Dessen Äußerungen: „Onkel, ich werde nie vergessen, wie Du mich und meine Familie beleidigt hast, diese Schimpfwörter, nie in meinem Leben, dafür musst du bezahlen“, in denen der [X] nach den Feststellungen des Landgerichts einen Hinweis auf einen bevorstehenden körperlichen Übergriff des Nebenklägers gesehen hat, waren objektiv noch kein gegenwärtiger Angriff im Sinne des Notwehrrechts. Ein lediglich verbaler Streit ist solange kein gegenwärtiger Angriff auf die körperliche Integrität, wie der Rahmen des Wortgefechts nicht überschritten wird (…).
Die allein daraus abgeleitete Befürchtung des [X], ein Angriff des [N] stehe unmittelbar bevor, weshalb er die Schusswaffen zog, ist nach den genannten Rechtsgrundsätzen für die Bewertung des objektiven Elements des Rechtfertigungsgrundes nach § 32 Abs. 1 StGB nicht maßgebend.“
Ein „gegenwärtiger Angriff“ hat (nach derzeitigem Stand) also demnach hier noch nicht vorgelegen.
b) Verteidigungswille
Weiter ist fraglich, ob der X bei Abgabe der Schüsse auf N einen Verteidigungswillen aufgewiesen hat. Die Vorschrift des § 32 StGB erfordert in subjektiver Hinsicht einen solchen Willen. Die subjektiven Voraussetzungen der Notwehr sind daher erst dann erfüllt, wenn der Gegenangriff zumindest auch zu dem Zweck geführt wurde, den vorangehenden Angriff abzuwehren. Dabei ist ein Verteidigungswille auch dann noch als relevantes Handlungsmotiv anzuerkennen, wenn andere Beweggründe (Vergeltung für frühere Angriffe, Feindschaft etc.) hinzutreten. Erst wenn diese anderen Beweggründe so dominant sind, dass hinter ihnen der Wille, das Recht zu wahren, ganz in den Hintergrund tritt, kann von einem Abwehrverhalten keine Rede mehr sein (BGH, B. v. 16.06.2021 – 1 StR 126/21, https://jura-online.de/blog/2022/03/09/bgh-zur-notwehr-bei-auseinandersetzung-im-drogenmilieu/).
Für die Annahme eines solchen Verteidigungswillens bei X könnte sprechen, dass es dem X nicht darum ging, seinerseits von vornherein einen Angriff auf den N zu verüben und diesen dabei zu verletzen oder gar zu töten, sondern die vier Schüsse aus der Selbstladepistole auf den Nebenkläger abgab, um sich gegen dessen Angriff mit der Glasflasche zu verteidigen. Dem könnte auch nicht entgegen stehen, dass X nicht nur Schüsse aus der Selbstladepistole, sondern auch weitere aus der Druckluftpistole abgegeben hat, weil der N trotz des Bauchschusses in der Kampflage überraschend wenig Trefferwirkungen gezeigt hat und der X im Umgang mit Schusswaffen eher wenig geübt gewesen ist. Dazu der BGH:
„II.2.b) Das trägt nicht. Die äußeren Umstände besagen wenig über die innere Willensrichtung des [X]. Sie ergeben nicht ohne Weiteres das Bild einer Verteidigungshandlung, weil der [X] den [N] veranlasst hatte, aus dem Gebetshaus zu einer Stelle zu gehen, an der er ihm allein gegenüberstand, ferner, weil zunächst nur er bewaffnet war, außerdem, weil er die Pistolen zog, als der Streit noch rein verbal ausgetragen wurde, überdies, weil er neben der scharfen Schusswaffe zusätzlich die Luftpistole zog, die zur Abwehr eines körperlichen Angriffs nicht ebenso geeignet war, und schließlich, weil er beide Waffen verwendete, eine Vielzahl von Schüssen frontal auf den [N] abgab und diesem sogar noch nachschoss, als er bereits floh. Die Bitte um Entschuldigung, die der [X] (…) ursprünglich gegenüber dem [N] erklären wollte, um die Wiederherstellung des Friedens zwischen den Familien zu versuchen, war in der gesamten Phase des festgestellten Geschehens nicht einmal angedeutet worden. Die Urteilsgründe lassen insoweit nicht erkennen, dass das Landgericht das Tatbild im Ganzen seiner Schlussfolgerung auf eine Verteidigungsabsicht des [X] bei der frontalen Schussabgabe zu Grunde gelegt hat.“
X hatte demnach (nach derzeitigem Stand) auch keinen Willen, sich gegen den N zu verteidigen.
c) Einschränkung des Notwehrrechts
Fraglich ist auch, ob ein etwaiges Notwehrrecht des X nicht beschränkt gewesen wäre, weil X durch sein (Vor-)Verhalten den N zu dem beabsichtigten Angriff provoziert haben könnte. Dazu der BGH:
„III. (…) Eine schuldhafte Provokation kann zur Einschränkung des Notwehrrechts führen, wenn bei vernünftiger Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls der Angriff als adäquate und voraussehbare Folge der Pflichtverletzung des Angegriffenen erscheint. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt eine Notwehreinschränkung voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht (…). Erforderlich ist zudem ein motivationaler Zusammenhang. Mithin sind gegebenenfalls Feststellungen und Wertungen dazu zu treffen, ob und inwieweit die Pflichtverletzung des Angegriffenen zum Verhalten des Angreifers beigetragen hat (…).“
d) Zwischenergebnis
Die Voraussetzungen einer Notwehr nach § 32 StGB liegen (nach derzeitigem Stand) nicht vor.
5. Zwischenergebnis
X hat sich (nach derzeitigem Stand) wegen versuchtem Totschlag strafbar gemacht.
Hinweis: Der 2. Strafsenat des BGH hat das Urteil des Landgerichts, mit dem der X nicht auch wegen versuchten Totschlages (bzw. wegen versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen) verurteilt worden ist, auf die Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine große Strafkammer eines anderen Landgerichts zurückverwiesen. Dazu der BGH:
„II.3.a) Der Senat kann nicht feststellen, dass sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als rechtlich zutreffend erweist. Da das Landgericht die Fragen des Vorliegens eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs und eines Handelns des [X] in Verteidigungsabsicht nicht rechtsfehlerfrei beantwortet hat, kann auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen auch nicht sicher davon ausgegangen werden, dass die Schussabgabe vor der Flucht des [N] aufgrund von Putativnotwehr ohne Tötungs- oder Verletzungsvorsatz abgegeben wurden (§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog); erst recht wäre die Anschlussfrage nach einem fahrlässigen Handeln des [X] (§ 16 Abs. 1 Satz 2 StGB analog) nicht vom Revisionsgericht zu beantworten.
X war bereits zuvor u.a. wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Dieses Urteil hatte der 2. Strafsenat auf die Revision des X allerdings wieder aufgehoben und ebenfalls zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (s. Beschluss vom 17.12.2019 - 2 StR 340/19).
II. Versuchter Mord, §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB
X hat sich (nach derzeitigem Stand) nicht auch wegen versuchten Mordes nach den §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht, indem er die Schüsse aus den Pistolen auf N abgegeben hat. X hat nicht aus „niedrigen Beweggründen“ töten wollen. Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe zu einer Tat „niedrig“ sind und – in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag – als verachtenswert erscheinen, hat aufgrund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters, der Persönlichkeit des Täters und seiner Beziehung zum Opfer, zu erfolgen. In subjektiver Hinsicht ist erforderlich, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit der Beweggründe ausmachen, in sein Bewusstsein aufgenommen hat und er, soweit bei der Tat gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen eine Rolle spielen, in der Lage war, diese gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.
X war zu dem Treffen gefahren, weil er sich den Bedrohungen stellen und sich bei D für die Beleidigungen entschuldigen wollte. Ferner hielt er es für möglich, dass es zu einer Versöhnung zwischen den Familien kommen werde. Selbst wenn er gegenüber dem N nicht als „Feigling“ erscheinen wollte und diesem gegenüber gezielt bewaffnet gegenüber trat, spricht nichts dafür, dass die Billigung der Tötung von Rücksichtslosigkeit begleitet und N zum bloßen Objekt des Tötungsgeschehens gemacht werden sollte. Aufgrund der Gesamtumstände erweist sich die versuchte Tötung unter normativen Deutungsmustern wegen der „Vorgeschichte“ noch als begreiflich und menschlich nachvollziehbar.
III. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB
X hat sich aber wegen gefährlicher Körperverletzung nach den §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB strafbar gemacht, indem er mit den Pistolen – „Waffen“ i.S. von § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StGB – auf N geschossen und diesen mehrfach am Körper bzw. bei dessen Flucht im Nacken getroffen, ihn damit also körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt hat. Auch handelte es sich dabei um eine „das Leben gefährdende Behandlung“ im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB, weil N aufgrund der Vielzahl der Schussverletzungen ohne zeitnahe medizinische Versorgung gestorben wäre, also in Lebensgefahr geraten war. Bei der Abgabe der ersten Schüsse aus den Pistolen hat N die Verletzung des N jedenfalls billigend in Kauf genommen, den letzten Schuss hat er mit Verletzungsabsicht abgegeben.
Hinweis: Das Landgericht hat – konsequenter Weise, weil es im Übrigen von einer Rechtfertigung des X durch Notwehr ausgegangen war – lediglich den letzten Schuss als gefährliche Körperverletzung gewürdigt und den X deswegen (in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Führen „einer halbautomatischen Schusswaffe“ und einer Schusswaffe) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Der 2. Strafsenat hat das Urteil auch insoweit aufgehoben, „weil nicht auszuschließen ist, dass das neue Tatgericht dies als Teil einer einheitlichen Handlung im strafrechtlichen Sinn bewerten könnte (§ 52 StGB)“. Sollte X also wegen der ersten Schüsse auf N (auch) im Hinblick auf die gefährliche Körperverletzung gerechtfertigt sein, könnte sich dies auf den letzten Schuss auf N erstrecken, weil die Abgabe aller Schüsse als Teil einer einzigen Verletzungshandlung gesehen werden kann.
IV. Ergebnis
X hat sich (nach derzeitigem Stand) wegen versuchten Totschlages (§§ 211, 22, 23 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht.
C. Prüfungsrelevanz
Die Entscheidung befasst sich im Wesentlichen mit den Voraussetzungen der Notwehr im Fall eines Schusswaffengebrauchs, insbesondere mit den Voraussetzungen eines „gegenwärtigen Angriffs“ und dem subjektiven Merkmal des Verteidigungswillens des Täters. In der hiesigen Konstellation war der Täter nicht unerwartet und überraschend von dem späteren Tatopfer bzw. Verletzten angegriffen worden, sondern Täter und Verletzter, die sich kannten, standen sich über einen gewissen Zeitraum in einer offen-konfrontativen Situation gegenüber. Hinzu kommt, dass sich der Täter im Zeitpunkt der Abgabe der Schüsse aus den beiden Waffen, die er bei sich führte, erst einer unmittelbaren gefährdenden Einwirkung auf seine körperliche Integrität gegenübersah (Schlag gegen den Kopf mit einer Glasflasche), diese also noch nicht begonnen hatte, sondern lediglich im Stadium ihres Entstehens war.
Der Strafsenat des BGH betont, dass es für die Beurteilung, ob es sich dabei um einen „gegenwärtigen Angriff“ handelt, nicht auf die subjektiven Vorstellungen des Täters, sondern auf die objektive Lage aus der Sicht des Angreifers ankommt; bloße „Befürchtungen“ begründen hingegen keine Notwehrlage.
Problematisch war auch die Annahme eines Verteidigungswillens des Täters, wenn dieser die Konfrontation mit dem Verletzten gezielt gesucht hat, mit beiden Waffen auf den Angreifer geschossen hat (anstatt nur mit einer) und selbst auf das dann flüchtende Tatopfer noch einen Schuss abgegeben hat.
Letztlich kam hier auch noch eine Einschränkung des Notwehrrechts durch eine schuldhafte Provokation des Angreifers durch den Täter in Betracht. Eine sog. Absichtsprovokation, bei der der Täter das Tatopfer mit der Intention provoziert, um ihn unter Berufung auf § 32 StGB verletzen zu können, stand allerdings nicht in Rede. Zu einer solchen Konstellation hat der BGH ausgeführt:
„Eine Absichtsprovokation begeht, wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen. In einem solchen Fall ist dem Täter Notwehr – jedenfalls grundsätzlich – versagt, weil er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will (…). Erfolgt die Provokation (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat (…).
Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, darf er von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt (…).“
Insgesamt handelt es sich um eine lesenswerte und mit reichlich Prüfungsstoff gefüllte Entscheidung (BGH, Urteil vom 30.03.2022 – 2 StR 263/21).
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