Neues Kaufrecht und Vertrag über digitale Produkte: Die wichtigsten klausurrelevanten Änderungen (Teil 1/4)

Neues Kaufrecht und Vertrag über digitale Produkte: Die wichtigsten klausurrelevanten Änderungen (Teil 1/4)

Teil 1: Überblick und Erklärung der europäischen Richtlinien

Vorwort und Überblick

Der deutsche Gesetzgeber musste zwei europäische Richtlinien umsetzen und neue Vorschriften schaffen, die für ab dem 01.01.2022 geschlossene Verträge gelten. Diese Neuregelungen betreffen zum einen das überaus klausurrelevante Kaufrecht. Zum anderen ist mit den §§ 327 ff. BGB n.F. im Allgemeinen Vertragsrecht ein neuer Abschnitt geschaffen worden, der sich mit Verträgen über „digitale Produkte“ befasst. Viele sprechen im Hinblick auf diese umfangreichen neuen Vorschriften von einem „Neuen Schuldrecht“ oder der „größten Schuldrechtsreform seit 20 Jahren“. Das lässt sich zwar gut verkaufen und weckt Interesse (wenn nicht sogar Angst) bei Studierenden, geht aber deutlich zu weit. Dogmatische Verwerfungen oder gar ein Strukturwandel im bisherigen Schuldrecht lassen sich jedenfalls nicht feststellen. Bleibe also gelassen: so heiß, wie die Suppe serviert wird, musst Du sie zum Glück nicht essen.

Wir wollen Dir einen ersten Überblick über die Gesetzesänderungen verschaffen und Dir einen guten Einstieg in die (leider aber zwingend erforderliche) Lektüre der geänderten bzw. neuen Vorschriften verschaffen.

Zunächst einmal wichtig – da klausurrelevant – sind für Dich die Neuerungen im allgemeinen Kaufrecht. Und die sind zum Glück sehr überschaubar. Der Gesetzgeber hat den Sachmangelbegriff in § 434 BGB komplett neu gefasst. Die Sache ist nun mangelfrei, wenn sie bei Gefahrübergang den subjektiven und den objektiven Anforderungen sowie bestimmten Montageanforderungen entspricht (§ 434 I BGB n.F.). Was darunter im Einzelnen zu verstehen ist, lassen Dich die Absätze 2 bis 5 des § 434 BGB n.F. wissen. Wirklich neu ist eigentlich nur die Tatsache, dass es – anders als nach bisheriger Rechtslage – einen Gleichrang von subjektivem und objektivem Fehlerbegriff gibt. Das wirkt sich aber immer dann nicht aus, wenn eine wirksame negative Beschaffenheitsvereinbarung zwischen Verkäufer und Käufer vorliegt. Eine solche negative Beschaffenheitsvereinbarung ist lediglich bei Verbrauchsgüterkäufen strengen Regeln unterworfen. Und die finden sich in § 476 I 2 BGB. Der Unternehmer-Verkäufer muss dem Verbraucher-Käufer danach künftig vor dem Abschluss des Kaufvertrages „eigens davon in Kenntnis setzen, dass ein bestimmtes Merkmal der Ware (so heißt jetzt übrigens die bewegliche Sache beim Verbrauchsgüterkauf) von den objektiven Anforderungen abweicht“, also schlechter ist, als es der Käufer eigentlich erwarten darf. Und darüber hinaus muss der Unternehmer-Verkäufer die geringwertige Qualität der Ware auch noch „ausdrücklich und gesondert vereinbaren“. Und welcher Verbraucher wird sich darauf wohl einlassen? Richtig, keiner. 

Und so wird das wohl auch regelmäßig in Klausuren sein: Entweder eine negative Beschaffenheitsvereinbarung fehlt ganz, oder sie entspricht nicht den besonderen Anforderungen des § 476 I 2 BGB. Und dann gilt eben der „normale“ Mangelbegriff des § 434 BGB und die Tür zu den Gewährleistungsrechten des Käufers ist geöffnet. Der Rest ist für Dich dann „Dienst nach Vorschrift“. Beim primären Nacherfüllungsanspruch gibt es in § 439 BGB n.F. kleinere Änderungen, die Dir aber allesamt keine Schweißperlen auf die Stirn treiben müssen. Und auch die Änderungen der Vorschriften zum Lieferantenregress (§§ 445a, 445b, 445c BGB n.F.) sind so marginal, dass Du Dich nicht in den Schlaf weinen musst. Kurz gesagt: Das kriegst Du hin!

Die besonderen Vorschriften zum Verbrauchsgüterkaufrecht (§§ 474 ff. BGB) fallen etwas umfangreicher aus, daher behandeln wir sie in einem gesonderten Beitrag zu den Gesetzesänderungen – sie sind aber ebenfalls nicht dramatisch. Lies sie einfach mal! Für einen ersten Überblick sei an dieser Stelle nur so viel gesagt: Wirklich wichtig sind eigentlich nur die Änderungen in § 476 BGB n.F. (und die kennst Du ja jetzt schon) und in § 477 BGB n.F. (Verlängerung des Zeitraums der Beweislastumkehr von 6 Monaten auf ein Jahr). Etwas sperrig zu verstehen sind die §§ 475a, 475b, 475c BGB. Das liegt daran, dass man sie nur zusammen mit den §§ 327 ff. BGB n.F. begreifen kann. Die sind zwar lang, dafür aber aufgrund ihrer hohen Regelungsdichte auch gut zu verstehen. Lies Dir die §§ 327 ff. BGB n.F. erst einmal in Ruhe durch. Dann stellst Du fest, dass die Regelungen zum Vertrag über „digitale Produkte“ eigentlich ganz ähnlich konzipiert sind wie diejenigen zum Kaufvertrag. Im Kern geht es um die Fragen, wann ein solches Produkt mangelhaft ist (§§ 327d ff. n.F.) und welche Rechte des Verbrauchers durch einen Mangel ausgelöst werden (§§ 327i ff. BGB n.F.). Mehr nicht? Nein, eigentlich nicht. 

Und wann kommen die ersten Klausuren zu den neuen Vorschriften auf Dich zu? Das wissen wir auch nicht genau, aber man darf wohl vorsichtig davon ausgehen, dass Fälle zu den §§ 327 ff. BGB n.F. noch etwas auf sich warten lassen, weil sie ja erst noch geschrieben werden müssen. Beim Kaufrecht konntest Du schon bislang nicht „auf Lücke lernen“ und das gilt auch weiterhin. Aber Du weißt ja jetzt, dass die Änderungen im Kaufrecht überschaubar sind und es Dir deshalb auch dann gelingen wird, den Fall zu lösen, wenn er (schon) nach den neuen Vorschriften zu begutachten ist. 

Und wie geht es jetzt für Dich weiter? Unser Vorschlag: Du nimmst Dir die neuen Vorschriften zur Hand und liest diesen Aufsatz einfach weiter. Der führt Dich Schritt für Schritt in die neuen Vorschriften ein. 

I. Die europäischen Richtlinien (WKRL und DIRL)

Bevor wir uns den neuen Vorschriften im BGB widmen, müssen wir ein paar Worte zu den europäischen Richtlinien verlieren, auf denen sie fußen. Die erste dieser beiden Richtlinien ist die Warenkaufrichtlinie, oder kurz: WKRL. Die ersetzt die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie aus dem Jahr 1999, welche zu der grundlegenden Schuldrechtsmodernisierung mit Wirkung ab 01.01.2002 geführt hatte. Die WKRL folgt dem Grundsatz derVollharmonisierung; das bedeutet, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie kein höheres Verbraucherschutzniveau als dasjenige der Richtlinie vorsehen dürfen, sofern dies nicht durch die Richtlinie ausdrücklich zugelassen wird. Dies unterscheidet die WKRL von der VGKRL, die es den einzelnen Mitgliedstaaten freistellte, ein höheres als das durch die Richtlinie vorgeschriebene Verbraucherschutzniveau in das jeweilige nationale Recht zu integrieren. Die WKRL bringt bedeutende Änderungen und Ergänzungen sowohl im allgemeinen Kaufrecht als auch im Verbrauchsgüterkaufrecht mit sich. Die schauen wir uns gleich näher an. 

Aber für welche Verträge gelten die neuen Vorschriften denn überhaupt? Die Antwort lautet: Auf solche Kaufverträge über „Waren“, die ab dem 01.01.2022 geschlossen werden (Art. 24 II WKRL). Auf Kaufverträge, die vor diesem Datum geschlossen worden sind, bleiben gem. Art. 229 § 58 EGBGB die alten Vorschriften anzuwenden. Wir werden also noch für eine gewisse Zeit vor der Herausforderung stehen, sowohl das alte als auch das neue Kaufrecht kennen und anwenden zu müssen.

Die zweite europäische Richtlinie, die der deutsche Gesetzgeber mit Wirkung zum 01.01.2022 umgesetzt hat, ist die europäische Richtlinie über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen. Viel zu lang, wir nennen sie kurz und knapp: DIRL. Mit den §§ 327 ff. BGB wurde in Umsetzung der DIRL ein neuer Titel in den Allgemeinen Teil des Schuldrechts eingefügt. Stellt der Unternehmer dem Verbraucher „digitale Produkte“, so der neue Begriff des Gesetzes, bereit, unterliegt er einem eigenen Leistungsstörungsregime. Auch die §§ 327 ff. BGB finden grundsätzlich nur auf solche Verbraucherverträge Anwendung, die ab dem 01.01.2022 geschlossen worden sind (Art. 24 II DIRL). Darüber hinaus gelten viele dieser Vorschriften aber auch für vorher abgeschlossene Verträge, bei denen die Bereitstellung der digitalen Produkte erst ab dem 01.01.2022 erfolgt (Art. 229 § 57 EGBGB). Auch die DIRL ist vollharmonisierend soweit in der Richtlinie nichts anderes bestimmt ist. Das nationale Recht darf also grundsätzlich (Ausnahme: Art. 11 II DIRL) weder zu Gunsten noch zu Ungunsten des Verbrauchers von den Vorgaben der DIRL abweichen.

Und in welchem Verhältnis stehen die WKRL und die DIRL zueinander? Die beiden Richtlinien – und die zu ihrer Umsetzung geschaffenen nationalen Gesetzesvorschriften – sollen einander zwar ergänzen, schließen sich aber zugleich in ihren jeweiligen Anwendungsbereichen aus. Heißt im Klartext: Die neuen Vorschriften sind inhaltlich aufeinander abgestimmt, ihr Anwendungsbereich überschneidet sich aber nicht. Man muss also im jeweiligen Einzelfall genau hinsehen, welche dieser Vorschriften anzuwenden sind.

So, genug der allgemeinen Einleitung. Ein erstes Schaubild haben wir bereits mit Inhalt gefüllt. Das sieht wie folgt aus: 

Grafik zur Darstellung der Umsetzung des neuen WKRL und DIRL

Das war Teil 1 zu den aktuellen (klausurrelevanten) Gesetzesänderungen.

Das ganze Thema kannst Du Dir übrigens auch in unserem Crashkurs ganz entspannt anschauen:

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