BGH zu Nötigung bei Bürgerversammlung und Brandstiftung – Teil 1

BGH zu Nötigung bei Bürgerversammlung und Brandstiftung – Teil 1

Diese aktuelle Entscheidung des BGH und die daraus abzuleitenden Rechtsprobleme, die gleich mehrere Tatbestände betreffen, eignet sich hervorragend für eine Prüfung der strafrechtlichen Fähigkeiten – nicht nur im Examen. In diesem Beitrag geht es in materiell-rechtlicher Hinsicht vor allem um die im Rahmen des § 240 II StGB anzustellende Gesamtwürdigung der Zweck-Mittel-Relation und insgesamt um die folgenden Lerninhalte:

A. Sachverhalt

L, der seit Jahren aktives Mitglied der N-Partei und für diese Partei Stadtverordneter ist, zählt zu den führenden Köpfen der rechten Szene in seiner Heimatstadt F. Er wendet sich mit einer Reihe von Aktivitäten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Dabei kommt es u.a. zu den folgenden Begebenheiten:

Die Stadt F erhält Anfang des Jahres vom Landkreis die Aufforderung, ein Grundstück für die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung zu stellen. In der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung Anfang Februar soll über den Standort des künftigen Wohnheims entschieden werden. Es ist geplant, diese Versammlung wegen des großen allgemeinen Interesses mit einer Bürgerfragestunde zu verbinden, in der die in Frage kommenden Grundstücke vorgestellt und auf Anliegen der Bürger eingegangen werden soll. Um möglichst vielen Interessierten eine Teilhabe zu ermöglichen, findet die Versammlung im größten Saal der Stadt, einem rund 200 Personen fassenden Raum des Gemeindehauses, statt. Tatsächlich ist der Andrang aber so groß, dass eine Vielzahl interessierter Bürger in dem Saal keinen Platz mehr findet. L hatte bereits zuvor - insbesondere über einen elektronischen Nachrichtendienst –zur Teilnahme an der Veranstaltung und zu Protesten aus ihrem Anlass aufgerufen, um „massiven Druck“ auf die Stadtverordneten auszuüben. Obgleich er weiß, dass der Bau einer Flüchtlingsunterkunft bereits beschlossen ist und nur noch der Standort in Frage steht, hofft er, den Abbruch der Stadtverordnetenversammlung insbesondere durch lautstarken Protest Gleichgesinnter zu erreichen und damit letztlich den Bau einer Flüchtlingsunterkunft insgesamt zu verhindern. Rund eine halbe Stunde nach Beginn der Sitzung haben sich an der Rückseite des Gebäudes, wo sich eine bis zum Boden reichende etwa drei Meter hohe Fensterfront befindet, mindestens 50 Personen versammelt. Der L stimmt u.a. ausländerfeindliche Parolen an, welche die um ihn Stehenden lautstark skandieren. Die die vorderste Reihe bildenden Personen schlagen und treten zudem gegen die Fensterscheiben, die darauf zu vibrieren beginnen. L, der ebenfalls in der ersten Reihe steht, schlägt seinerseits gegen die Scheiben und fordert die anderen mit Gesten zum Mit- und Weitermachen auf. Durch das laute Gebrüll sowie die Schläge und Tritte gegen die Fenster ist der Lärm schließlich so groß, dass im Raum keine Kommunikation mehr möglich ist. Die Stadtverordneten und viele anwesende Bürger sind zudem durch das Geschehen verängstigt und fürchten, dass die Scheiben bersten könnten. Auf Anregung der Polizei, die die Sicherheit vor Ort nicht mehr zu gewährleisten vermag, bricht der Versammlungsleiter die Veranstaltung ab und bittet die Besucher, den Saal zu verlassen. Ob die Sitzung an diesem Tag noch ordnungsgemäß zu Ende hätte geführt werden können, vermag er zu diesem Zeitpunkt nicht abzuschätzen. Erst als Polizeiverstärkung eintrifft, wird das Gelände geräumt. Einzelne Zuschauer, die sich im Gebäude befunden haben, müssen unter Polizeischutz den Weg nach Hause antreten. Nach einer einstündigen Unterbrechung wird die Stadtverordnetenversammlung in Abwesenheit von Bürgern mit dem Ergebnis eines Beschlusses über den Standort des zu errichtenden Gebäudes weitergeführt.

Im Mai des Jahres hat sich das Gerücht verbreitet, dass der polnische Bürger P, der in der Nähe einer Bekannten des L wohnt, Kinder missbrauche. Auf eine Strafanzeige leitet die Polizei Ermittlungen ein, die keinerlei Hinweise auf pädophile Straftaten ergeben. Dennoch halten sich in der Nachbarschaft entsprechende Gerüchte. Der L und einige Gleichgesinnte beschließen daraufhin, selbst zu Strafmaßnahmen zu greifen. Zu diesem Zweck maskiert sich L und begibt sich zum Fahrzeug des P, an dem er mit einer Axt sämtliche Scheiben zertrümmert. Später gießt ein Bekannter des L in dessen Beisein durch eine der zertrümmerten Scheiben Spiritus in das Auto, wobei ihm L rät, er solle nicht alles auf einmal verwenden, weil der Spiritus sonst verfliege und nicht mehr so brenne. Der Bekannte steckt ein dann Taschentuch in die Spiritusflasche, zündet diese an und wirft sie durch eine der zertrümmerten Fensterscheiben in das Auto, woraufhin das Fahrzeug in Flammen aufgeht und komplett ausbrennt.

Da das geplante Flüchtlingswohnheim im Sommer noch nicht fertiggestellt ist, sollen etwa 150 erwartete Flüchtlinge übergangsweise in einer Turnhalle untergebracht werden. Dies lehnt L ab, muss aber feststellen, dass politische Bemühungen bei der Stadtverordnetenversammlung keinen Erfolg zeigen. Deshalb beschließt er, die Sporthalle in Brand zu setzen und damit zumindest so zu beschädigen, dass eine Unterbringung von Flüchtlingen dort nicht möglich ist. Gemeinsam mit vier weiteren Personen macht er sich an die Umsetzung des Vorhabens. Zunächst entwendet er zusammen mit zwei anderen vom Hof eines Autohauses mehrere Autoreifen, zwei Holzpaletten und eine Mülltonne, die er bei einem der Mittäter lagert. Am Tatabend holt er diese Gegenstände dort ab, bittet zwei Bekannte, Spähdienste zu übernehmen, und begibt sich mit zwei Mittätern zur Halle. Dort laden sie die Materialien ab und verbringen sie über den Zaun vor den Eingang des Gebäudes, wo sie L auf einem als Fußabtreter fungierenden Gitterrost unterhalb des Dachüberstandes aufschichtet. In die offene Mülltonne platziert er eine Propangasflasche, deren Ventil geschlossen ist, übergießt alles mit Benzin und Öl und zündet es an. Binnen weniger Minuten entflammt das Brandgut. Aufgrund der großen Hitzeentwicklung öffnet sich das Sicherheitsventil der Gasflasche, so dass durch das austretende Gas pulsierende Flammenballen zum Dach hochschießen, das dadurch in Brand gerät. Die große Hitze lässt die Fassade schmelzen. Auch wird das Fenster der Stahltür zerstört. Dadurch können die Flammen ins Halleninnere eindringen. Binnen kurzer Zeit brennt die Halle komplett aus. Ihr Wiederaufbau kostet 3,9 Millionen Euro.

Wie hat sich L strafbar gemacht?

Hinweis: Aufgrund der Fülle an zu prüfenden Themen, beschäftigen wir uns in diesem Beitrag zunächst einmal nur mit dem I. Tatkomplex, also der “Bürgerversammlung”.

B. Entscheidung

I. Tatkomplex „Bürgerversammlung“

L könnte sich wegen einer versuchten Nötigung (§§ 240 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht haben, indem er durch seine verbalen und tätlichen Drohgebärden vor der Fensterfront des Versammlungsraums die Beschlussfassung über den Standort der Flüchtlingsunterkunft zu verhindern suchte.

1. Vorprüfung

Die Vollendung der Nötigung ist ausgeblieben. Den für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 240 Abs. 1 StGB notwenigen Taterfolg – ein Handeln, Dulden oder Unterlassen seitens eines anderen – hat L nicht herbeigeführt. Zwar hat L es erstrebt, die Abstimmung über den Standort der Unterkunft zu verhindern, also ein Unterlassen der Stadtverordneten(-versammlung). Diese hat aber stattgefunden.

Der Versuch einer Nötigung ist strafbar, § 240 Abs. 3 StGB.

2. Tatentschluss

L müsste Vorsatz hinsichtlich der Verwirklichung des Tatbestandes, also aller objektiven und subjektiven Merkmale des § 240 StGB gehabt haben (Tatentschluss). L müsste also zumindest billigend in Kauf genommen haben, dass er einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel (Tathandlung) zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung (Taterfolg) nötigt.

Vorliegend könnte vom Vorsatz des L eine Drohung mit einem empfindlichen Übel umfasst gewesen sei. Eine Drohung ist die Ankündigung eines künftigen Übels, die durch ausdrückliche Äußerung sowie stillschweigend durch entsprechendes Verhalten geschehen kann. Dazu der BGH im hiesigen Fall:

„III.2.a.bb.(1) In dem anhaltenden Treten und Schlagen gegen die Scheiben, die hierdurch vibrierten und bei den Betroffenen die Befürchtung auslösten, sie könnten zerbersten und zu erheblichen Verletzungen der sich unmittelbar hinter der Fensterfront befindlichen Personen führen, ist ohne Weiteres eine konkludente Drohung mit einem empfindlichen Übel, nämlich drohenden Schäden für die körperliche Integrität, zu sehen. Da es allein auf die Drohwirkung ankommt, ist es (…)unerheblich, ob eine Zerstörung der Scheiben tatsächlich zu erwarten war oder diese standgehalten hätten.“

Fraglich ist, ob auch das Tatbestandsmerkmal der „Gewalt“ i.S.v. § 240 Abs. 1 StGB erfüllt gewesen ist:

„III.2.a.bb.(2) Gewalt setzt auf Seiten des Täters eine - wenn auch geringfügige - körperliche Kraftentfaltung und eine unmittelbare körperliche Zwangswirkung beim Opfer voraus (…). Bei dem vorliegend festgestellten Sachverhalt steht die körperliche Kraftentfaltung des [L] und der anderen Beteiligten nicht in Frage, da sowohl das laute Schreien, erst recht aber das Schlagen und Treten gegen die Scheiben eine physische Kraftentfaltung erfordert. Eine körperlich empfundene Zwangswirkung auf Seiten der im Raum befindlichen Personen war ebenfalls gegeben, weil das Auftreten des [L] und seiner Mittäter zur Folge hatte, dass sowohl ein Sprechen als auch ein Hören und damit der beabsichtigte verbale Austausch nicht mehr möglich waren. Selbst wenn die Personen im Raum mit einer gewissen Kraftentfaltung noch hätten reden können, wäre dies letztlich sinnlos gewesen, da die anderen den Sprechenden nicht mehr hätten hören können. Auch dies bedeutet eine körperliche Einschränkung. Anders als in Fällen, in denen das Opfer bei einer bloß verbalen Einwirkung durch den Inhalt der Äußerung zur Aufgabe eines geleisteten oder erwarteten Widerstands motiviert werden soll (…), lag hier ein nicht nur seelischer, sondern auch körperlich empfundener Zwang vor (…). Soweit die Revision darauf abstellt, dass (…)eine Einschränkung des Gewaltbegriffs vorzunehmen sei, übersieht sie, dass das Bundesverfassungsgericht es insbesondere als mit Art. 103 Abs. 2 GG unvereinbar ansah, beim Gewaltbegriff auf die körperliche Kraftentfaltung beim Täter zu verzichten, die hier gegeben ist.“

Damit war vom Vorsatz des L sowohl eine Drohung als auch Gewalt im Sinne des § 240 StGB umfasst. Das gilt auch für die notwendige Verknüpfung zwischen den Nötigungsmitteln und dem Taterfolg, die der Tatbestand des § 240 Abs. 1 StGB als sog. zweiaktiges Delikt voraussetzt. Das Opfer muss durch die Nötigung zu dem vom Täter gewünschten Verhalten veranlasst werden. Das war vorliegend der Fall.

L müsste darüber hinaus in seine subjektiven Vorstellungen von der Tat auch deren Rechtswidrigkeit bzw. die Verwerflichkeit der Tat i.S. v. § 240 Abs. 2 StGB mit aufgenommen haben. Dazu der BGH:

„III.2.a.bb.(3) Das Vorgehen des [L] war rechtswidrig i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB. Zwar indiziert die Anwendung des Nötigungsmittels entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht generell die Verwerflichkeit der Nötigung, da sonst für eine eigenständige Prüfung der Rechtswidrigkeit nach § 240 Abs. 2 StGB kein Raum bliebe. Dies gilt angesichts der Weite des Gewaltbegriffs unter Umständen auch für das Tatbestandsmerkmal der Gewalt (…). Die Erfüllung der vom Gesetzgeber als Korrektiv vorgesehenen Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ist grundsätzlich unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen (…). Dies hat das Landgericht indes getan. Es ist auf der Grundlage einer Gesamtabwägung zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte mit seinem Verhalten zur Durchsetzung seines rassistischen Weltbildes einen demokratischen Meinungsaustausch zu verhindern trachtete.

Die Verwerflichkeit ist (…) nicht mit Blick auf die durch Art. 5 GG in Verbindung mit Art. 8 GG geschützte Demonstrationsfreiheit zu verneinen. Zwar fällt nicht jede politisch veranlasste Aktion aus dem Geltungsbereich dieser Grundrechte heraus, weil sie sich tatbestandlich als eine mit dem Mittel der Gewalt begangene Nötigung darstellt. Auch wenn Art. 8 GG nur das Recht gewährleistet, sich „friedlich“ zu versammeln, kann der Begriff der Unfriedlichkeit nicht ohne Weiteres mit dem von der Rechtsprechung entwickelten weiten Gewaltbegriff des Strafrechts gleichgesetzt werden (…). Angesichts der Massivität des Vorgehens des [L] und der anderen Beteiligten steht die Versammlungsfreiheit der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB vorliegend indes nicht entgegen.“

Damit hat L einen Tatentschluss i.S.v. § 22 StGB im Hinblick auf eine Nötigung gefasst.

3. Unmittelbares Ansetzen

L müsste zur Tatausführung auch unmittelbar angesetzt haben. Dafür müsste er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht’s-los“ überschritten und objektiv zur tatbestandsmäßigen Handlung angesetzt haben, sodass sein Tun ohne wesentliche Zwischenakte in die Tatbestandserfüllung übergeht. Das Tun des L muss also so eng mit der tatbestandlichen Ausführungshandlung verknüpft sein, dass es bei ungestörten Fortgang unmittelbar zur Verwirklichung des gesamten Straftatbestandes führen soll oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr steht. Diese Voraussetzungen sind hier sämtlichst erfüllt. L stand – mit seinen Begleitern – während der laufenden Bürgerversammlung direkt vor der Fensterfront und hat durch Schlagen und Treten gegen dieselbe und seine Gesten und Rufe Einfluss zu nehmen gesucht auf die sich in dem Versammlungsraum befindlichen Personen, was auch (zunächst) wegen mangelnder Verständigung im Saal und den bei den Personen hervorgerufenen Verängstigungen zu einer Unterbrechung der Versammlung durch den Versammlungsleiter geführt hat.

4. Zwischenergebnis

L hat sich wegen versuchter Nötigung gemäß den §§ 240 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.

In der nächsten Woche beschäftigen wir uns sodann mit dem II. Tatkomplex (“Zerstörung des PKW”) und dem III. Tatkomplex (“Brandlegung der Turnhalle”). Dabei widmen wir uns der Prüfung der Sachbeschädigung nach § 303 StGB, der Beihilfe zur Brandstiftung nach §§ 306 I Nr. 4, 27 StGB, der vorsätzlichen Brandstiftung gemäß § 306 I Nr. 1 StGB, der Mittäterschaft gemäß § 25 II StGB sowie den Konkurrenzen.

Mit den folgenden Lerneinheiten kannst Du Dich schon jetzt auf den zweiten Teil des Beitrags vorbereiten. Dies hat den Vorteil, dass Du der Urteilsbesprechung und den Ausführungen des BGH dann noch besser folgen kannst: