BGH zur Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit

BGH zur Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit

Ob dem Täter eine vorsätzliche Verwirklichung der Tat nachgewiesen werden kann oder in dubio pro reo nur eine Fahrlässigkeitstat, hat erhebliche Auswirkungen auf das Strafmaß. Man denke nur an die §§ 212 und 222 StGB. Bei einer fahrlässigen Tötung beträgt das Höchstmaß 5 Jahre, bei einem Totschlag 15 Jahre. Kommen noch Mordmerkmale hinzu, dann droht eine lebenslange Freiheitsstrafe. Insbesondere bei den Tötungsdelikten sind dementsprechend die Anforderungen an den Nachweis des Vorsatzes hoch.

A. Sachverhalt

A hatte ihr Biologiestudium mit der Note „sehr gut“ abgeschlossen und nachfolgend promoviert. Zudem war ihr von der zuständigen Behörde nach Absolvieren einer entsprechenden Ausbildung die Erlaubnis erteilt worden, die Heilkunde als Heilpraktikerin auszuüben. Zum 01.11.2015 wurde sie vom Klinikum K als Assistenzärztin eingestellt. Bei ihrer Bewerbung legte sie eine gefälschte Approbationsurkunde sowie einen unrichtigen Lebenslauf vor, aus dem das erfolgreiche Abschließen eines Medizinstudiums entnommen werden konnte. Sie arbeitete zunächst in der Internistischen Abteilung, wechselte dann aber in die Anästhesie. Nachdem sie dort zunächst unter Begleitung von Fachärzten tätig war, übernahm sie anschließend in eigener Verantwortlichkeit die Anästhesien, wobei sie bei diffizilen Situationen Fachärzte anforderte. Während der Begleitung war sie zwar auf Defizite hingewiesen worden, es kam aber zu keinen offiziellen Reklamationen oder Auffälligkeiten. Schwere Fehler bei der Anästhesie führten dann aber durch Sachverständige nachgewiesen in 3 Fällen zum Tod der Patienten. In anderen Fällen konnte der Nachweis nicht sicher erbracht werden.

A wurde vom LG Kassel u.a. wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung und dem Missbrauch von Berufsbezeichnungen sowie tatmehrheitlich dazu wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen in 3 Fällen verurteilt.

B. Entscheidung

Der BGH (Urt. v. 20.02.2024 – 2 StR 468/22) sah den Nachweis des Tötungsvorsatzes (noch) nicht als erbracht an und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das LG zurück.

Bevor wir uns mit der Argumentation des BGH befassen, wollen wir zunächst einmal einen Überblick verschaffen.

Gem. § 15 StGB ist grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar, es sei denn, das Gesetz stellt fahrlässiges Handeln ausdrücklich unter Strafe. Wie Du vielleicht schon bemerkt haben wirst, gibt es bei vielen Deliktsgruppen keine fahrlässige Begehung. So sind die Eigentums- und Vermögensdelikte nur vorsätzlich begehbar, ebenso Freiheits- und Ehrverletzungsdelikte sowie darüber hinaus Urkundendelikte. Die Abgrenzung Vorsatz – Fahrlässigkeit ist also für einen Täter nicht nur wie bei den Tötungsdelikten im Hinblick auf das Strafmaß, sondern darüber hinaus auch im Hinblick auf die grundsätzliche Strafbarkeit seines Verhaltens relevant.

Vorsatz wird pauschal definiert als „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ und in den meisten Fällen reicht diese Definition in Deinen Klausuren aus, um den Vorsatz zu bejahen. Der Kurzdefinition ist zu entnehmen, dass der Vorsatz grds. aus einem kognitiven Element (=Wissen) und einem voluntativen Element (=Wollen) besteht. Es werden 3 Vorsatzformen unterschieden:

  • Dolus directus 1. Grades (= Absicht) liegt vor, wenn das voluntative Element stark ausgeprägt ist, es dem Täter also auf die Herbeiführung des Erfolges ankommt.

  • Dolus directus 2. Grades (= direkter Vorsatz) liegt vor, wenn das kognitive Element stark ausgeprägt ist, der Täter also sicher weiß, dass der Erfolg eintreten werde.

Wie der dolus eventualis zu bestimmen ist, ist streitig. Die h.M. verlangt ebenso wie bei den anderen Vorsatzformen ein kognitives und ein voluntatives Element, um den Vorsatz von der bewussten Fahrlässigkeit abzugrenzen. In der Literatur wird hingegen teilweise nur auf das kognitive Element abgestellt (Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitstheorie), teilweise wird danach gefragt, ob der Täter ein unabgeschirmtes Risiko geschaffen habe. In einer Klausur wird es selten um die Darstellung der Theorien gehen, sondern vielmehr um eine ausführliche Auswertung des Sachverhalts und eine entsprechende Würdigung.

Schauen wir uns von daher an, wie der BGH den dolus eventualis bestimmt und wie er ihn von der bewussten Fahrlässigkeit abgrenzt. Im vorliegenden Fall führt er Folgendes aus (BGH a.a.O.):

„Nach ständiger Rechtsprechung ist bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement)…… Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten…“

Im vorliegenden Fall ging es darum, ob A sich gem. §§ 211, 212 StGB strafbar gemacht haben könnte, indem sie die Anästhesie fehlerhaft durchführte.

Der objektive Tatbestand ist unproblematisch verwirklicht, zumal das Sachverständigengutachten die Kausalität nachweisen konnte.

Im subjektiven Tatbestand müsste A nun aber vorsätzlich gehandelt haben, wobei dolus eventualis ausreicht.

Bei Tötungsdelikten ist zu beachten, dass der Täter in der Regel eine psychologische Hemmschwelle überwinden muss. Bitte schreibe in Deiner Klausur aber nichts von einer „Hemmschwellentheorie“, da es eine solche nicht gibt. Der Hinweis auf die Hemmschwelle bedeutet lediglich, dass an die Überzeugung des Gerichts, § 261 StPO sowie dementsprechend an die Begründung des Vorsatzes bei Tötungsdelikten hohe Anforderungen zu stellen sind. Der BGH (a.a.O.) führt dazu Folgendes aus:

„Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen….Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert insbesondere bei Tötungs- oder Körperverletzungsdelikten eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich der Tatrichter mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivation und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände – insbesondere die konkrete Angriffsweise – mit in Betracht zieht ….

Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes…Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an…Dabei hat der Tatrichter die im Einzelfall in Betracht kommenden, einen Vorsatz in Frage stellenden Umstände in seine Erwägungen einzubeziehen …Diese Prüfung muss stets auf den Zeitpunkt der jeweiligen Tatbegehung (durch Tun oder Unterlassen) bezogen sein.“

Sofern in einer Klausur nichts zur inneren Tatseite steht, musst Du anhand der genannten Kriterien den Sachverhalt nach Anhaltspunkten für eine Bejahung oder Verneinung des Vorsatzes durchforsten. Ausgangspunkt ist immer die Gefährlichkeit der Handlung und die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts. Anhand dieser Kriterien wird es häufig sehr leicht möglich sein, das kognitive Element zu bestimmen. Du erinnerst Dich vielleicht an den „Berliner Raser Fall“, wie welchem das Für-möglich-Halten aufgrund des gefährlichen Verhaltens leicht begründbar war.

Die Schwierigkeit besteht in der Begründung des voluntativen Elements: Hat sich der Täter gedacht „na wenn schon“ (= Vorsatz) oder hat er sich gedacht „wird schon gut gehen“ (= Fahrlässigkeit)?

Bei dieser Begründung sind nun alle vorsatzkritischen Elemente mit zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall fand der BGH die Argumentation des LG nicht überzeugend. Er hat Folgendes ausgeführt (a.a.O.):

„Zutreffend ist das Landgericht im Grundsatz zwar von der besonderen Gefährlichkeit der von der Angeklagten begangenen Tathandlungen ausgegangen. Ohne Rechtsfehler hat es weiter angenommen, der Angeklagten sei aufgrund ihres Ausbildungsstands bewusst gewesen, dass die Durchführung einer Narkose eine höchst gefährliche Handlung ist und bei vorerkrankten Personen lebensgefährliche Risiken birgt.

Es hat aber bei seiner Prüfung vorsatzkritische Gesichtspunkte nicht in ausreichendem Maße in den Blick genommen….Das gilt zunächst für den festgestellten Umstand, dass die Angeklagte zu Beginn ihrer Tätigkeit von einem Fach-, Chef- oder Oberarzt begleitet worden und anschließend alleine tätig gewesen ist, „als das Vertrauen entsprechend vor-handen gewesen sei“. Zu erörtern gewesen wäre, ob dieser Umstand das subjektive Zutrauen der Angeklagten zu ihren eigenen Fähigkeiten in einer für die Vorsatzprüfung maßgeblichen Weise beeinflusst hat. Dies näher zu beleuchten bestand auch deswegen Anlass, weil die Angeklagte zwar von Kollegen auf „Defizite“ hingewiesen wurde, es aber nach den Feststellungen keinerlei offizielle Reklamationen oder Auffälligkeiten gegeben hat, die aus Sicht der Angeklagten…(objektiven) Anlass gegeben hätten, trotz fehlender Approbation an ihren um Fortbildung und Erfahrung ergänzten „Fähigkeiten“ durchgreifend zu zweifeln, dies auch vor dem Hintergrund, dass sämtliche der zur Aburteilung gelangten Fälle erst nachträglich bei Auswertung der Anästhesieprotokolle durch zwei Sachverständige aufgedeckt wurden…

Weiter lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, ob das Landgericht in den Blick genommen hat, dass die Angeklagte in einigen Fällen kritische Situationen wahrgenommen und Hilfe durch einen Facharzt herbeigeholt hat. Zu erörtern gewesen wäre, ob dies ein Hinweis darauf war, dass die Nichteinbeziehung eines Facharztes in anderen Fällen einer den bedingten Tötungsvorsatz ausschließen-den Fehleinschätzung der Situation geschuldet war.“

Zum Schluss hat sich der BGH noch mit der Persönlichkeit der A auseinandergesetzt und auch hier Umstände gefunden, die daran zweifeln lassen, ob A wirklich vorsätzlich gehandelt hat.

„Schließlich verhalten sich die Urteilsgründe nicht hinreichend zu der Frage, welche Schlüsse von der festgestellten Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten auf das Vorhandensein bedingten Tötungsvorsatzes zu ziehen sind. Das Landgericht beschreibt die Angeklagte einerseits als narzisstische Person, die ein „extremes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Bewunderung“ habe und die „Kritik und Misserfolg nur schwer ertragen könne“, und andererseits als „sehr häufig unsichere und häufig zitternde Assistenzärztin“, die „lieber jemand zu Rate ziehe, als selbst Verantwortung zu übernehmen“, die aufgeregt gewesen sei und auch öfter geweint habe. An diese Einschätzungen anknüpfend hätte sich das Landgericht ein klareres Bild von der Persönlichkeit der Angeklagten machen und sich dabei auch mit der Möglichkeit befassen müssen, dass die Angeklagte im Rahmen der von ihr durchgeführten Narkosen alles daran gesetzt hat, um negative Einflüsse auf ihre Außendarstellung, etwa durch ihr zuzurechnende Todesfälle, zu vermeiden und infolgedessen auf das Ausbleiben des tatbestandlichen Erfolgs vertraut hat.“

Diese Begründung mag als Beispiel dienen, wie eine umfangreiche, am beweisbaren Sachverhalt orientierte Darlegung aussehen kann. Natürlich kannst Du das in einer Klausur nicht in diesem Umfang darstellen. Du solltest aber darauf achten, dass Du alle Informationen aus dem Sachverhalt verwertest.

C. Prüfungsrelevanz

Die Abgrenzung des dolus eventualis von der bewussten Fahrlässigkeit taucht immer wieder in Klausuren auf. Hier soll geprüft werden, ob die Klausurschreibenden in der Lage sind, nah am Sachverhalt unter Berücksichtigung der von der h.M. vertretenen Definition zu arbeiten und eine überzeugende Begründung zu liefern. Überraschenderweise fällt Studierenden der „Sprung ins Tatsächliche“ häufig schwer, sind sie doch allzu sehr auf die Darstellung von Theorien fixiert. Deswegen soll die besprochene Entscheidung als Beispiel dienen.

(BGH Urt. v. 20.02.2024 – 2 StR 468/22)

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