BGH zum Verkehrsunfall: Auslegung des § 19 IV 4 StVG

BGH zum Verkehrsunfall: Auslegung des § 19 IV 4 StVG

Kann man einen Anhänger auch rückwärts „ziehen“?

Das StVG existiert bereits seit über 100 Jahren. In dieser Zeit ergaben sich allerdings auch einige Änderungen rund um den Verkehrsunfall, durch die auch heute noch Auslegungsfragen aufgeworfen werden. Der BGH hatte nun erstmals zu klären, ob das Rückwärtsrangieren mit einem Anhänger unter den unbestimmten Rechtsbegriff des „Ziehens“ i.S.d. § 19 IV 4 StVG zu subsumieren ist.

Sachverhalt

Im Jahr 2021 kam es zwischen dem Versicherten und einem Dritten zu einem Verkehrsunfall, bei dem das Fahrzeug des Dritten beschädigt wurde. Hieraus resultieren Aufwendungen des Geschädigten in Höhe von 930 Euro. Insofern handelt es sich noch um einen herkömmlichen Verkehrsunfall. Spannend wird es allerdings, weil der Versicherte mit einem Gespann i.S.d. § 19 II 1 StVG unterwegs war. Während das Zugfahrzeug bei der klägerischen Versicherung haftpflichtversichert war, bestand hinsichtlich des Anhängers ein Versicherungsvertrag bei einer anderen, später beklagten Versicherung. Die Klägerin regulierte den Schaden und forderte die Beklagte anschließend auf, ihr den hälftigen Betrag (465 Euro) zu erstatten. Das AG Hannover verurteilte die Beklagte nach § 78 III VVG, § 19 IV StVG, § 426 BGB zur Zahlung eben dieser Summe.

§ 19 StVG – Haftung des Halters bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen

(1) Wird bei dem Betrieb eines Anhängers, der dazu bestimmt ist, von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden, ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt, ist der Halter des Anhängers verpflichtet, dem Verletzten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. […]

(2) Wird der Schaden eines anderen durch ein Zugfahrzeug mit Anhänger (Gespann) verursacht, haftet der Halter jedes dieser Fahrzeuge dem anderen für die Betriebsgefahr des gesamten Gespanns als Gesamtschuldner. […]

(3) Wird ein Schaden durch ein Gespann und ein weiteres Kraftfahrzeug verursacht und sind die beteiligten Fahrzeughalter einem Dritten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet oder ist der Schaden einem der beteiligten Fahrzeughalter entstanden, gilt für die Ersatzpflichten im Verhältnis der Halter von Zugfahrzeug und Anhänger zu dem Halter des weiteren beteiligten Kraftfahrzeugs § 17 Absatz 1 bis 3 entsprechend.

(4) Ist in den Fällen der Absätze 2 und 3 der Halter des Zugfahrzeugs oder des Anhängers zum Ersatz des Schadens verpflichtet, kann er nach § 426 des Bürgerlichen Gesetzbuchs von dem Halter des zu dem Gespann verbundenen anderen Fahrzeugs Ausgleich verlangen. Im Verhältnis dieser Halter zueinander ist nur der Halter des Zugfahrzeugs verpflichtet. Satz 2 gilt nicht, soweit sich durch den Anhänger eine höhere Gefahr verwirklicht hat als durch das Zugfahrzeug allein; in diesem Fall hängt die Verpflichtung zum Ausgleich davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem Zugfahrzeug oder dem Anhänger verursacht worden ist. Das Ziehen des Anhängers allein verwirklicht im Regelfall keine höhere Gefahr. Der Ersatz für Schäden der Halter des Zugfahrzeugs und des Anhängers richtet sich im Verhältnis zueinander nach den allgemeinen Vorschriften.

Das LG Hannover schätzte die rechtliche Lage im Rahmen der Berufung jedoch anders ein: Da es sich bei dem Rückwärtsrangieren mit einem Anhänger um ein „Ziehen“ i.S.d. § 19 V 4 StVG handele, habe sich gerade keine anhängerspezifische Gefahr vgl. § 19 IV 3 StVG verwirklicht. Dementsprechend bleibe es mit dem § 19 IV 2 StVG bei der gesetzlichen Grundwertung, dass nur der Halter des Zugfahrzeugs im Innenverhältnis verpflichtet ist. Daher hob das vorinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Hiergegen wendete sich die Klägerin mit der Revision.

Wie man sieht, ist der Sachverhalt denkbar simpel gehalten. Und doch ergibt sich gerade aufgrund der gesetzlichen Haftungsausgestaltung ein zentrales Problem. So erklärt sich auch, dass die Versicherungen den Instanzenzug trotz der sehr geringen Summe voll durchschritten haben, um die grundsätzliche Auslegung des „Ziehens“ höchstrichterlich klären zu lassen.

Urteil des BGH

Der sechste Zivilsenat bestätigte das Urteil des Berufungsgerichts. Es sah ebenso wenig eine spezifische Gefahr des Anhängers bei dem Verkehrsunfallereignis verwirklicht, weil es sich gerade bei dem Rückwärtsrangieren um einen Vorgang handele, der unter das „Ziehen“ i.S.d. § 19 IV 4 StVG falle.

Auch wenn man bei dem „Ziehen“ nach seinem natürlichen Wortsinn zunächst instinktiv an eine Bewegung nach vorne denkt, umfasse der Rechtsbegriff auch die Rückwärtsbewegung, da die Begriffsverwendung der Legaldefinition in § 19 I 1 StVG entspreche. Von der Bestimmung des Anhängers, „von einem Kraftfahrzeug (Zugfahrzeug) gezogen zu werden […]“ sei schließlich jede Bewegung des Anhängers durch das Zugfahrzeug gemeint.

Auch wirft der BGH einen Blick in die Gesetzgebungshistorie: Vormals war die Anhängerhaftung in § 7 I StVG a.F. geregelt, wobei statt des „Ziehens“ von einem „Mitführen“ des Anhängers die Rede war. Durch die Neuregelung in § 19 StVG habe sich zwar der Wortlaut geändert jedoch habe sich dies allein aus sprachlichen Gründen ergeben. Eine inhaltliche Änderung habe damit nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich nicht verbunden sein sollen.

Das Argument, beim Rückwärtsfahren verwirkliche sich eine höhere Gefahr durch den Anhänger, vermochte den Senat nicht zu überzeugen. Zwar sei das Gespann länger und unübersichtlicher als das Zugfahrzeug allein, jedoch ergäbe sich aus der Grundwertung des § 19 IV 2 StVG, dass der gesetzliche Regelfall nur ausnahmsweise durchbrochen werden solle. Hierzu stelle die Gesetzesbegründung wiederum auf Einzelfälle ab, bei denen eine besondere Beschaffenheit des Anhängers beispielsweise durch eine Überlänge oder Überbreite zu einer besonderen Gefahr führe. Eine solche sei gerade nicht festgestellt worden.

Hieraus ergäbe sich in Bezug auf einen Innenausgleich nach § 78 III VVG, § 19 IV StVG, § 426 BGB somit, dass ein Anspruch auf Zahlung von 465 Euro gegen die Beklagte nicht bestehe.

Ausblick

Wie die Herangehensweise des BGH zeigt, besteht in der Klausur kein Grund zur Panik, falls man mit einer unbekannten Norm konfrontiert wird und auf die konsequente Arbeit mit den Auslegungsmethoden angewiesen ist. Dass man zur Gesetzeshistorie in der Klausur, anders als der BGH regelmäßig nichts sagen kann, ist unschädlich. Vielmehr liegt der Fokus dann auf dem Wortlaut der Norm, der Systematik und seinem Sinn und Zweck. Hat man den Schwerpunkt des Falles gesehen, so kann man dies als Chance begreifen, die eigene juristische Argumentationsfähigkeit aufzuzeigen und eine Transferleistung anhand der Pflichtstoffkenntnisse zu erbringen. Bei dieser Gelegenheit lohnt es sich konsequenterweise, einen Blick in die StVG zu werfen und die Gefährdungshaftung des Fahrzeughalters nach § 7 StVG sowie die vermutete Verschuldenshaftung des Fahrzeugführers nach § 18 StVG zu wiederholen. Übung macht den Meister!