Ein Jahr in Untersuchungshaft ohne Haftprüfungsverfahren?

Ein Jahr in Untersuchungshaft ohne Haftprüfungsverfahren?

BVerfG zur Dauer der Haftprüfung

Wie lange darf die Haftprüfung dauern und sind Krankheit oder Urlaub mögliche Gründe für eine Verzögerung? Mit diesen Fragen hatte sich kürzlich das BVerfG zu befassen, nachdem ein Beschuldigter knapp ein Jahr lang in Untersuchungshaft saß, bis diese das erste Mal geprüft wurde. Liegt hierin ein Verstoß gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG und die Freiheitsgrundrechte aus Art. 2 II GG?

Worum geht es?

Ein Beschuldigter geriet in den Verdacht diverser Wirtschaftsstraftaten. Er wurde im Juni 2022 verhaftet und verbrachte die Zeit seitdem in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 13.12.2022 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akten an das OLG Frankfurt a.M. zum Zwecke der besonderen Haftprüfung und beantragte die Fortdauer der U-Haft. Die Akten gingen auf der Geschäftsstelle am 28.12.2022 ein. Einen Tag später versandte der Vorsitzende des 1. Strafsenats eine Abschrift der Übersendungsverfügung an die Beteiligten des Verfahrens und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Am 09.01.2023 beantragte der Beschuldigte die Aufhebung des Haftbefehls.

Bis Ende März passierte in der Sache jedoch nichts, sodass der Beschuldigte mit Schreiben vom 29.03.2023 um Mitteilung bat, bis wann mit einer Entscheidung über seine U-Haft zu rechnen sei. Da der Berichterstatter aber längerfristig erkrankte, sei das Verfahren zur Bearbeitung an die Vertretung übergeben worden, die aber aufgrund “eigener” vorrangig zu bearbeitender Haftsachen und eines anstehenden Urlaubs nicht in der Lage gewesen sei, abzusehen, wann eine Entscheidung ergehen werde. Am 13. April 2023 stellte die vertretungsweise zuständige Richterin in einem Aktenvermerk die Gründe für die Verzögerung nochmals dar und führte ergänzend eine Corona-Erkrankung in ihrer Familie an.

Der Beschuldigte wandte sich sodann mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtentscheidung des OLG Frankfurt a.M. im gesetzlichen Haftprüfungsverfahren. Zudem hat er sich gegen den Haftbefehl des AG Frankfurt a.M. gewandt und die Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag verbunden, diesen im Wege der einstweiligen Anordnung aufzuheben.

Das OLG hat die Fortdauer der U-Haft zwischenzeitlich mit Beschluss vom 26.06.2023 gegen ihn angeordnet. Daraufhin hat der Beschuldigte den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für erledigt erklärt und zurückgenommen. Die Verfassungsbeschwerde hat er aber aufrechterhalten, um festzustellen, dass ihn die Nichtentscheidung des OLG bis zum 26.06.2023 in seinem Grundrecht auf Freiheit und auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Unschuldsvermutung und effektiver Rechtsschutz

Die Unschuldsvermutung verlangt, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit der U-Haft auch von Amts wegen erfolgt. Geregelt ist dies in den §§ 121, 122 StPO: Wenn sich ein Beschuldigter länger als sechs Monate in U-Haft befindet, dann hat das zuständige OLG zu prüfen, ob die besondere Schwierigkeit oder der Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft entsprechend rechtfertigen. Wird die U-Haft auf Grundlage dieser Prüfung aufrechterhalten, dann muss die Haft im weiteren Verlauf alle drei Monate erneut von Amts wegen überprüft werden.

In dem konkreten Fall ist dies jedoch nicht geschehen, sodass der Beschuldigte beinahe ein Jahr in U-Haft verbrachte - ohne Aussicht auf eine baldige Überprüfung des Verfahrens. Erst am 26.06.2023 ordnete das Gericht die Fortdauer der U-Haft an und dabei waren die Akten zur Hauptprüfung bereits am 28.12.2022 beim OLG eingegangen, also lange vor Ablauf der Sechsmonatsfrist. Der Beschuldigte rügte nun, dass das OLG sich viel früher mit der Haftprüfung hätte beschäftigen müssen und dass die derart lange ausbleibende Entscheidung des OLG ihn in seinen Freiheitsgrundrechten und seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletze.

Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 IV GG

Das BVerfG hat sich der Argumentation des Beschuldigten angeschlossen und erklärte die Verfassungsbeschwerde für zulässig und für “offensichtlich begründet”: Art. 19 IV GG gewährleistet nach Aussage der Verfassungsrichter nicht nur ein Individualgrundrecht, sondern enthält auch eine objektive Wertentscheidung. Diese verpflichtet den Gesetzgeber, einen wirkungsvollen Rechtsschutz unabhängig von individuellen Berechtigungen sicherzustellen. Zudem bedeutet “wirksamer Rechtsschutz” auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen.

Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 II 2 GG i.V.m. Art. 104 GG

Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erlangt im Hinblick auf Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht aus Art. II 2 GG i.V.m. Art. 104 GG zudem besondere Bedeutung. Darüber hinaus ist bei einem Haftprüfungsverfahren auch Art. 5 IV (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu berücksichtigen: Art. 5 IV EMRK gewährt jeder Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen wird, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und die Freilassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig erfolgte. Auch wenn es hier keine feste zeitliche Grenze gibt, sondern die Umstände im Einzelfall entscheidend sind, so ist hier ein strenger Maßstab anzulegen. Daher muss auch bei einem anhängigen Strafverfahren zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die Unschuldsvermutung der festgenommenen Person gewahrt wird.

Urlaub, Krankheit, andere Haftsachen: Sind das mögliche Verzögerungsgründe?

Das BVerfG betont, dass das OLG diesen Maßstäben nicht gerecht geworden ist, indem es bis zum 26.06.2023 eine Entscheidung im besonderen Haftprüfungsverfahren unterlassen hat. Die vom OLG angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht, da der Beschuldigte diese nicht zu vertreten hat. Zudem stellt das BVerfG fest, dass die Gründe nicht geeignet sind, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate zu rechtfertigen. Das gilt sowohl für den Verweis der vertretungsweise zuständigen Richterin auf ihren bevorstehenden Urlaub, die coronabedingte Erkrankung eines Familienangehörigen sowie für den Hinweis, dass sie vorrangig “eigene” Haftsachen zu bearbeiten hatte.

Dass die Richterin erst am 24.03.2023 für das Haftprüfungsverfahren vertretungsweise zuständig wurde, rechtfertigt nach Ansicht der Verfassungsrichter die Verzögerung ebenfalls nicht, da es in der gerichtsinternen Sphäre liegt, dass auf die bereits seit November 2022 bekannte krankheitsbedingte Abwesenheit des Beisitzers erst im März 2023 reagiert wurde. Unabhängig davon sind von der Zuweisung des Verfahrens an die neue Richterin bis zur Entscheidung des OLG nochmal mehr als drei Monate vergangen. Damit hat das OLG versäumt, dem Recht des Beschuldigten auf Durchführung der besonderen Haftprüfung praktische Wirksamkeit zu verschaffen, weil es ihm den gesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz nicht innerhalb angemessener Zeit gewährt hat.

Freilassung von Gefangenen

Derartige Fälle häufen sich in den letzten Jahren: Die Überlastung der Gerichte mit zahlreichen Haftsachen auf der einen Seite und fehlenden Richtern auf der anderen Seite führen zum Teil auch zu frühzeitigen Freilassungen von Gefangenen. In einem ähnlichen Fall vor dem OLG Frankfurt musste die U-Haft aufgehoben werden - das BVerfG hat hier in der überlangen Verfahrensdauer das im Strafprozess geltende Beschleunigungsgebot verletzt gesehen.