BVerfG zur (Fort-) Dauer bereits lang andauernder U-Haft

BVerfG zur (Fort-) Dauer bereits lang andauernder U-Haft

Wann ist das Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt?

Das Hauptverfahren verzögert sich, weil ein Sachverständiger für einen Mitangeschuldigten nicht erreichbar ist – eine Fluchtwagenfahrerin befindet sich daher seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Nun legte sie Verfassungsbeschwerde ein – mit Erfolg.

Worum geht es?

Einer Frau werden mehrere schwere Delikte zur Last gelegt, seit über einem Jahr sitzt sie in Untersuchungshaft – ein Ende war nicht in Sicht, bis das BVerfG per Verfassungsbeschwerde eingeschaltet wurde. Laut der zuständigen Staatsanwaltschaft habe die Beschwerdeführerin im Sommer 2019 eine bandenmäßig strukturierte Tätergruppe aus Litauen nach Deutschland gebracht, um Straftaten zu begehen. Mit laufendem Motor habe sie in einem Fluchtwagen gewartet, während die Haupttäter einen Juwelier überfallen wollten. Mit einem gestohlenen Mercedes sollen sie das Schaufenster des Geschäfts gerammt haben, um an Uhren und Schmuck zu kommen. Doch die Scheiben hielten Stand. Daraufhin seien die Täter in das Auto der Frau geflüchtet und zurück nach Göttingen und anschließend wieder nach Litauen gefahren

Seit dem 5. Dezember 2019 sitzt sie aufgrund eines Haftbefehls in Untersuchungshaft. Es bestehe der dringende Tatverdacht der Beihilfe zu einem gemeinschaftlich versuchten schweren Raub. Ebenfalls in Untersuchungshaft befindet sich ein Mitangeschuldigter, der dem Landgericht regelrecht Kopfschmerzen bereitet. Bereits im Ermittlungsverfahren habe er vorgetragen, dass er an einer Alkoholabhängigkeit leide, zur Tatzeit unter Alkoholeinfluss gestanden habe und daher in seiner Steuerungsfähigkeit zumindest eingeschränkt gewesen sei. Um dies zu überprüfen, wurde vom Gericht ein Sachverständigengutachten angeordnet – doch hier kam es zu Problemen, der Sachverständige meldete sich auf Nachfragen des Gerichts nicht zurück. Daher wurde am 19. Juni 2020 die Fortdauer der Untersuchungshaft in beiden Fällen angeordnet.

Doch ein Hauptverfahren war noch immer nicht in Sicht. Am 3. September 2020 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main erneut, die Haftfortdauer anzuordnen. Nun beantragte aber auch die inhaftierte Frau, den Haftbefehl aufzuheben – vergebens. Am 23. September 2020 wurde erneut die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.

Die Beschwerdeführerin zog daraufhin per Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss vor das BVerfG. Sie rügte die Verletzung ihrer Grundrechte, insbesondere Art. 2 II 2 GG in Verbindung mit Art. 104 I GG. In Karlsruhe musste entschieden werden, wie lang eine Untersuchungshaft überhaupt verhältnismäßig ist.

Verfassungsbeschwerde
Prüfungsrelevante Lerneinheit

OLG argumentiert mit Fluchtgefahr

Die Beschlüsse zur Fortdauer der Untersuchungshaft wurden seitens des OLG stets gemäß §§ 121, 122 StPO mit der Fluchtgefahr begründet. Der dringende Tatverdacht einer Beihilfe zum versuchten besonders schweren Raub liege noch immer vor, auch knapp ein Jahr später. Ein Urteil habe bislang nicht ergehen können, da das psychiatrische Sachverständigengutachten bezüglich des Mitangeschuldigten noch nicht vorliege. Zwar gibt es auch die Möglichkeit, die Verfahren zu trennen – dies erfolgte aber nicht. Es argumentierte damit, dass es sachgerecht und erforderlich sei, gegen die beiden Angeschuldigten zusammen zu entscheiden. Schließlich handele es sich um eine einheitliche, alle Beweismittel umfassende Beweisaufnahme in dem bevorstehenden Hauptverfahren. Daher müsse auch die Untersuchungshaft der Frau verlängert werden – und mit dieser hat sich Karlsruhe nun beschäftigt.

Spannungsverhältnis zwischen Grundrechten und Strafverfolgung relevant

Die Verfassungsrichter entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet sei. Der jüngste Beschluss des OLG zur Fortdauer der Untersuchungshaft, gegen den sich die Beschwerdeführerin wandte, verletze sie in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 2 II 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG.

Untersuchungshaft, §§ 112 ff. StPO
Prüfungsrelevante Lerneinheit

Spannend: Jede Untersuchungshaft stellt einen Eingriff in Art. 2 II 2 GG dar. Wenn eine solche angeordnet beziehungsweise aufrechterhalten wird, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Grundrecht des Einzelnen und dem staatlichen Bedürfnis nach einer wirksamen Strafverfolgung. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden – bei Tatverdächtigen nur ausnahmsweise. Hier stehen nämlich gewichtige Werte unserer Verfassung im Raum, namentlich die Unschuldsvermutung (Art. 20 III GG). Bei der Untersuchungshaft müsse daher abgewogen werden, so das BVerfG, und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit komme eine maßgebliche Bedeutung zu. Nicht nur die Anordnung der Untersuchungshaft, sondern auch ihre Dauer müsse verhältnismäßig sein. In der Entscheidung des BVerfG heißt es:

Er [der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz] verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen.

Allein die Schwere der Tat rechtfertigt keine lange Untersuchungshaft

In diesem Zusammenhang ist das Beschleunigungsgebot in die Abwägung mit einzubeziehen. Sie ist eine der Prozessmaximen im Strafrecht, Strafverfolgungsbehörden müssen danach alle Maßnahmen ergreifen, um die Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Je länger die Untersuchungshaft schon dauert, desto zügiger müsse der Fortgang des Verfahrens erfolgen.

Prozessmaximen
Prüfungsrelevante Lerneinheit

Wenn die Fortdauer aber wie hier durch Verfahrensverzögerungen verursacht werde – die nicht von der Beschwerdeführerin zu vertreten sind – dann könne die Untersuchungshaft nicht mehr als notwendig anerkannt werden, so das BVerfG. Allein die Schwere der Tat dürfe eine andauernde Fortdauer der Untersuchungshaft nicht rechtfertigen, wenn Verfahrensverzögerungen vorliegen, die jedoch dem Staat zuzurechnen sind.

Beschluss ist aufzuheben

Der Beschluss des OLG verletze daher die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 II 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG. Die Verfassungsrichter rügten den Beschluss des OLG, er zeige keine besonderen Umstände für eine Haftverlängerung auf. Vielmehr hätte es Ausführungen gebraucht, wieso das Landgericht nicht einfach einen anderen – „erreichbaren“ – Sachverständigen beauftragt habe, nachdem der eingeschaltete Sachverständige sich nicht zurückmeldete.

Schließlich sei auch die Auffassung des OLG, dass das LG eine Abtrennung des Verfahrens nicht in Erwägung ziehen müsse, nicht nachvollziehbar begründet. Vielmehr bezeichneten die Karlsruher Richter die Ausführungen des OLG als „floskelhaft“ – eine so lange Untersuchungshaft könne nicht ohne Weiteres vom Grundsatz der Prozessökonomie gerechtfertigt werden.  

Das OLG wird nun erneut über die Haftfortdauer entscheiden müssen – unter Berücksichtigung der Karlsruher Ausführungen.

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