BGH zur Notwehr, zum Notwehrexzess und zum Erlaubnistatbestandsirrtum - Teil II

BGH zur Notwehr, zum Notwehrexzess und zum Erlaubnistatbestandsirrtum - Teil II

Das Tatgeschehen betreffend des G

Nachdem wir in der vergangenen Woche den ersten Teil besprochen und bereits das Tatgeschehen rund um den D geprüft haben, widmen wir uns nunmehr im zweiten Teil dem Tatgeschehen rund um den G. Falls Du den Sachverhalt nicht mehr im Kopf hast, haben wir ihn hier nochmal für Dich dargestellt:

A. Sachverhalt

T leidet seit einigen Jahren an einer paranoiden Schizophrenie. Er lebt in einem Waldgebiet, das von Hundehaltern genutzt wird, die dort ihre Hunde ausführen. T, der sich vor Hunden fürchtet, ärgert sich, wenn Hundehalter trotz bestehenden Leinenzwangs ihre Hunde unangeleint ausführen. Es kommt dabei häufig zu verbalen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der T die Hundehalter bedroht.

Eines Tages begegnet T bei einem Spaziergang dem D, der seinen Hund kurz vor Erreichen seines Hauses ableint. T sieht dies und fordert D barsch auf, den Hund wieder anzuleinen. Anschließend sprüht er Tierabwehrspray in Richtung des Tieres. Der D tritt daraufhin auf den T zu und fordert ihn auf, dies zu unterlassen. Nunmehr sprüht T das Tierabwehrspray in Richtung des D, der daraufhin zurückweicht. Sodann schlägt T, der sich von dem D bedroht fühlt, mit einem Stock gegen dessen Kopf und Schulter. Anschließend entfernt er sich mit dem Bemerken, D solle ihn künftig nicht mehr mit seinem Hund belästigen. D trägt eine Augenrötung, eine Schwellung am Hals sowie eine Schulterprellung davon.
Wenige Tage später sitzt T auf einem Baumstamm, während der G, der drei Hunde an Schleppleinen im Wald ausführt, an ihm vorübergeht. Der T gerät darüber in Verärgerung und fordert den G auf, die Hunde „wegzunehmen“. Sodann zieht er Tierabwehrspray aus seiner Tasche und sprüht damit in Richtung eines der Hunde, der rund 2 m vom T entfernt ist und keine Anstalten macht, sich ihm zu nähern. Über den Einsatz des Tierabwehrsprays empört fordert G den T lautstark auf, das Sprühen zu unterlassen; dabei läuft er zügig auf den sich erhebenden T zu und stoppt erst unmittelbar vor ihm, so dass die Oberkörper der beiden Männer sich leicht berühren. Nunmehr zieht T, der sich von dem G bedroht fühlt, ein Messer mit einer rund zehn Zentimeter langen, nach vorne spitz zulaufenden Klinge aus seiner Hosentasche und versetzt dem G unvermittelt einen Stich in die rechte Brust. Dabei nimmt er dessen Tod zumindest billigend in Kauf. Der G ergreift die Flucht, bleibt nach einigen Metern stehen und fotografiert den T mit seinem Mobiltelefon. Der hierüber verärgerte T verfolgt den ‒ lebensgefährlich verletzten ‒ G bis zu seinem Fahrzeug, fordert ihn zum Verlassen des Fahrzeugs auf und droht, ihn umzubringen. Sodann entfernt er sich. Die Stichverletzung führte zu einer Rippendurchtrennung sowie zur Verletzung von Milz und Zwerchfell; G kann durch eine sofortige Notoperation gerettet werden.

Wie hat sich T strafbar gemacht?

B. Entscheidung

II. Tatgeschehen betreffend G

1. Versuchter Totschlag, §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB

T könnte sich wegen versuchten Totschlags (§§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht haben, indem er mit einem Messer unvermittelt in die rechte Brust des G gestochen hat. Selbst wenn T den Tod des G billigend in Kauf genommen hat (Tatentschluss) und zur Tatausführung auch unmittelbar angesetzt hat, könnte er strafbefreiend vom Versuch gemäß § 24 StGB wieder zurückgetreten sein.

Dafür kommt es darauf an, ob der Versuch noch unbeendet gewesen ist oder ob T diesen schon beendet hatte. Maßgeblich für die Abgrenzung zwischen einem unbeendeten Versuch, bei dem nach § 24 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StGB allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt vom Versuch führt, und einem beendeten Versuch nach Alt. 2 ist das Vorstellungsbild des Täters unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung ist (sog. Rücktrittshorizont). Ein beendeter Tötungsversuch, bei dem der Täter für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungsbemühungen verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen muss, ist anzunehmen, wenn er zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellung über die Folgen seines Tuns macht.

Nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung (Stich) hat T den G noch bis zu dessen Fahrzeug verfolgt, ihn zum Verlassen des Fahrzeugs aufgefordert und ihm gedroht, ihn umzubringen. Letzteres zeigt, dass T zu diesem Zeitpunkt den Eintritt des Todes von G weder für möglich gehalten noch sich keine Vorstellung über die Folgen seines Tuns gemacht hatte. Es handelt sich mithin hier um einen unbeendeten Versuch, bei dem es ausgereicht hat, dass sich T schlussendlich vom Tatort entfernt hat.

T hat sich nicht wegen versuchten Totschlags strafbar gemacht.

2. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und 5 StGB

T könnte sich aber wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 und 5 StGB strafbar gemacht haben, indem er mit dem Messer auf die Brust von G eingestochen hat.

a) Tatbestand

T hat den G am Körper verletzt. Die Stichverletzung – eine üble und unangemessene Behandlung – hat bei D zu einer Rippendurchtrennung und zur Verletzung von Milz und Zwerchfell geführt. Das verwendete Messer ist ein gefährliches Werkzeug (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB), der Stich in die Brust des G eine das Leben gefährdende Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB). T hat dabei auch zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt; in seinem bedingten Tötungsvorsatz ist auch ein Verletzungsvorsatz enthalten.

b) Rechtswidrigkeit und Schuld

Fraglich ist, ob T durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt ist. Dagegen könnte sprechen, dass T zwar mit Verteidigungswillen gehandelt hat, um einen unmittelbar bevorstehenden Angriff des G abzuwehren. Der Messereinsatz gegen dessen Oberkörper könnte aber nicht geboten gewesen sei, weil das Notwehrrecht des T aufgrund seines Vorverhaltens aus sozialethischen Gründen eingeschränkt und er jedenfalls verpflichtet gewesen wäre, dem G den Messereinsatz vorher anzudrohen. Dazu der BGH:

„b) Diese Erwägungen greifen zu kurz. Das Landgericht hätte sich unter Berücksichtigung der weiteren Feststellungen zum Krankheitsbild des [T] und seiner krankheitsbedingten „allgemein feindlich-bedrohlichen Umweltwahrnehmung“ zu der Prüfung veranlasst sehen müssen, ob der [T] die Grenzen der Notwehr aus Furcht (§ 33 StGB) überschritten und daher wegen eines Notwehrexzesses ohne Schuld gehandelt haben könnte.

aa) Voraussetzung ist das Bestehen einer objektiv gegebenen Notwehrlage; auf Fälle der sogenannten Putativnotwehr ist die Vorschrift des § 33 StGB nicht anwendbar (st. Rspr.; …). Überschritt der [T] die Grenzen zulässiger Verteidigung aus krankheitsbedingt übersteigerter Furcht, so ist eine Strafbefreiung nach § 33 StGB möglich, wenngleich dies einer Unterbringung nach § 63 StGB nicht entgegen steht (…). Allerdings erfüllt nicht schon „jedes Angstgefühl“ das Merkmal der Furcht im Sinne des § 33 StGB; vielmehr muss ein durch das Gefühl des Bedrohtseins verursachter Störungsgrad vorliegen, bei dem der Täter das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann (…). Die Annahme eines entschuldigenden Notwehrexzesses kommt auch in Betracht, wenn der in § 33 StGB genannte (asthenische) Affekt nicht die alleinige oder auch nur überwiegende Ursache für die Überschreitung der Grenzen der Notwehr gewesen ist; es genügt vielmehr, dass er ‒ neben anderen gefühlsmäßigen Regungen ‒ für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war (…).

bb) An der erforderlichen Prüfung des § 33 StGB fehlt es. Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr darauf an, dass auch die Annahme einer sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts des [T] rechtlich nicht unbedenklich ist.

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Täter, der den Angriff auf sich leichtfertig provoziert hat, von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen darf. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst übergehen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur dann, wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt (st. Rspr.; …). Die Einschränkung des Notwehrrechts setzt aber ein Verhalten voraus, das „von Rechts wegen vorwerfbar“ ist (…). Erforderlich ist eine schuldhafte Provokation, die vorliegt, wenn der Täter weiß oder wissen muss, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten (…). Dies versteht sich angesichts des festgestellten Krankheitsbilds des [T], der die „Wahl der Mittel zur von ihm angestrebten Durchsetzung“ seiner Interessen „krankheitsbedingt“ nicht kontrollieren kann, nicht von selbst und hätte daher näherer Erörterung bedurft.“

Ob T wegen eines Notwehrexzesses nach § 33 StGB straflos bleibt, ist nach derzeitigem Stand offen.

c) Zwischenergebnis

T hat sich zu Lasten des D nicht wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.

III. Ergebnis

T hat sich – vorbehaltlich weiterer Sachverhaltsaufklärung – weder zum Nachteil des D noch zu dem des G strafbar gemacht. Insoweit kommt die Annahme von Notwehr bzw. ein Notwehrexzess in Frage.

Hinweis: Das Landgericht, dessen Urteil der T mit seiner auf eine Sachrüge gestützte Revision angefochten hat, hatte ihn wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt (und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet). Dieses Urteil hat der 4. Senat mit den Feststellungen aufgehoben und diese Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen.

B. Prüfungsrelevanz

Die Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH befasst sich mit einer ganzen Reihe von praxis- und prüfungsrelevanten Fragen. Neben den näher zu erörternden Voraussetzungen der §§ 223, 224 StGB gibt der Sachverhalt Anlass zur Prüfung eines versuchten Totschlages nebst strafbefreiendem Rücktritt, der Voraussetzungen der Notwehr (§ 32 StGB) und des Notwehrexzesses (§ 33 StGB), nicht zuletzt verknüpft mit den Anforderungen an einen sog. Erlaubnistatbestandsirrtum. Die dogmatische Verortung dieses Irrtums mag unterschiedlich sein (Entfall des Vorsatzes, des Vorsatzunrechts, der „Vorsatzschuld“ etc.), wirkt sich aber nach Auffassung der Rechtsprechung im Ergebnis nicht aus: bei der irrtümlichen Annahme eines Rechtfertigungsgrundes kommt es zur entsprechenden Anwendung des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB, weswegen sich der Täter nicht wegen eines Vorsatzdelikts zu verantworten hat.

Rechtlich und tatsächlich von Bedeutung ist im vorliegenden Fall auch, wie sich das Krankheitsbild eines Täters (paranoide Schizophrenie, die sich u.a. mit Furcht vor Hunden auswirkt) auf die Voraussetzungen von objektiven wie subjektiven Voraussetzungen eines Rechtfertigungstatbestandes auswirkt.

Über die Rechtfertigung durch Notwehr bei einem Messereinsatz hatte auch jüngst der 5. Strafsenat des BGH zu entscheiden (vgl. B. v. 04.08.2022 – 5 StR 175/22): Bei einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Männern schlug der eine von ihnen – unbewaffnet, jünger und körperlich überlegen – dem anderen (und späterem Täter) zunächst mehrfach mit den Fäusten kraftvoll ins Gesicht, wobei er ihn schmerzhaft an den Augen traf. Der Geschlagene verlor dadurch seine Brille, geriet ins Straucheln und duckte sich. Er zog ein mitgeführtes Messer und stach mit bedingtem Tötungsvorsatz zunächst zwei Mal in den Bauchbereich des Tatopfers ein, dann in dessen Oberschenkel (Gesäß) und weitere Male in den Bereich des Oberkörpers, wobei er rief, er werde ihn jetzt „abstechen“. Das Tatopfer äußerte, er solle aufhören. Das Geschehen dauerte nur wenige Sekunden. Die zugefügten Verletzungen waren potentiell lebensgefährlich und erforderten eine intensivmedizinische Versorgung.

Während das Landgericht die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung verneint hatte, hat der BGH dazu ausgeführt, dass der Ansatz, wonach ein Messereinsatz erst geboten gewesen sei, wenn nach einer den unbewaffneten Verletzten weniger gefährdenden, aber erfolglos gebliebenen Abwehrhandlung „bei einer erneut ungeeigneten Verteidigungshandlung eine weitere Eskalation objektiv zu befürchten gewesen wäre“, rechtsfehlerhaft sei. Es gehe bei der Prüfung der Erforderlichkeit des Abwehrmittels nicht darum, ob eine weitere Eskalation der Situation heraufbeschworen wird; maßgeblich sei vielmehr die Frage, ob in der zugespitzten Angriffssituation gewährleistet ist, dass der Angriff endgültig beendet wird. Es könne auch nicht lediglich darauf abgestellt werden, dass es dem Täter im Rahmen des „nur wenige Sekunden andauernden und hochdynamisch ablaufenden“ Geschehens möglich gewesen wäre, das Messer auf weniger gefährliche Art und Weise einzusetzen, sofern offen bleibe, welche weniger gefährliche, aber ausreichend wirksame (erste oder nachfolgende) Abwehrhandlung dem Täter zur Verfügung gestanden hätte. Auch komme es trotz der Vielzahl der Messerstiche darauf an, ob bereits der erste oder ein späterer Einsatz des Messers eine ausreichende Abwehrwirkung erzielt habe, so dass ein weiteres Zustechen keine notwendige Verteidigungshandlung mehr dargestellt hätte. Und auch ein schonenderer Messereinsatz könne dem Täter nicht vorgehalten werden, wenn ihm eine genaue Platzierung der Stiche gar nicht möglich und deren Einstichtiefe für ihn nicht zu kontrollieren war.

Insgesamt lohnt sich die sorgfältige Wiederholung der einzelnen Voraussetzungen des Notwehrrechts.

(BGH, Beschluss vom 25.05.2022 – 4 StR 36/22)