Der Kommunalverfassungsstreit

Der Kommunalverfassungsstreit

Klage gegen Störung einer Gemeinderatssitzung durch Hochhalten von Plakaten und lautstarken Unmutsäußerungen

A. Sachverhalt

I. Die Kläger sind Mitglieder des Rates der Stadt X und begehren die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet war, in der Ratssitzung vom 3. April 2006 Maßnahmen zur Beseitigung der Störung der Ratssitzung zu ergreifen.

In der obengenannten Ratssitzung war u.a. die Beratung über einen Antrag der WBG-Fraktion vorgesehen, den Verkauf von Anteilen der Stadt an den Stadtwerken prüfen zu lassen. Dieser Antrag wurde von der CDU-Fraktion unterstützt.

Der Sitzungsniederschrift zur Ratssitzung vom 3. April 2006 war Folgendes zu entnehmen: die Sitzungsplätze waren vollständig besetzt, einige Zuhörer hatten sich stehend im Sitzungssaal aufgehalten. Einige Zuhörer hatten Plakate in den Händen, die sich gegen den Verkauf der Anteile an den Stadtwerken wandten. Ein Kläger habe daraufhin beantragt, die Plakate aus dem Sitzungssaal zu entfernen. Die Beklagte hat den Antrag geprüft und dann festgestellt, dass von den Plakaten keine Störung des Sitzungsablaufes im Sinne der Geschäftsordnung des Rates (GeschO) ausginge.

Nach einer Sitzungsunterbrechung auf Antrag dieses Klägers habe ein weiterer Kläger erklärt, er halte den Antrag, die Plakate zu entfernen, aufrecht. Die Beklagte hat als Kompromiss vorgeschlagen, die Plakate mit den Aufschriften zu den Wänden hin umzudrehen. Dieser Aufforderung seien die betroffenen Zuhörer nachgekommen, so dass die Aufschriften nicht mehr sichtbar gewesen seien. Die Fraktionen von CDU und WBG haben diese Regelung nicht für ausreichend gehalten und geschlossen den Sitzungssaal verlassen.

Die Ratssitzung wurde weitergeführt, da der Rat beschlussfähig war.

II. In der Sitzung des Ältestenrates vom 24. April 2006 wurde der Ablauf der Ratssitzung erörtert. Die Beklagte erklärte, sie habe ausdrücklich angemahnt, Störungen, Unruhen sowie Beifall oder Missbilligungen zu unterlassen. Sie habe keine Situation feststellen können, die einen Verweis bzw. die Räumung des Sitzungssaales gerechtfertigt hätte; auch sei kein entsprechender Antrag gestellt worden. Es sei lediglich ein Antrag auf das Entfernen der Plakate gestellt worden, diese seien jedoch nach der GeschO nicht ausdrücklich verboten. Ein Verbot von Plakaten könne nur über eine Änderung der GeschO erreicht werden.

Die Kläger haben am 20. Januar 2007 die vorliegende Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen:

Bereits vor der Ratssitzung habe vor dem Rathaus eine Demonstration gegen den Verkauf der Stadtwerke stattgefunden; die Mitglieder der CDU und der der WBG seien mit Trillerpfeifen auf dem Weg zum Ratssaal begleitet worden. Ca. 70 Demonstranten hätten in den Ratssaal gedrängt; 8 Demonstranten seien den Vertretern unmittelbar gegenübergesessen, in einem Abstand von ca. 1,50 m. In dem stark überfüllten Saal habe große Unruhe geherrscht. Die Ratsmitglieder von CDU und WBG seien beschimpft worden. Die Aufforderung zur Ruhe durch die Beklagte habe wenig Wirkung gezeigt. Ihr Antrag, die Plakate entfernen zu lassen, habe zu lautstarken Unmutsäußerungen geführt; die Feststellung der Beklagten, es liege keine Störung des Sitzungsablaufes vor, hätten die Demonstranten mit Beifall bedacht. Ein erneuter Antrag auf Entfernen der Plakate habe Buhrufe hervorgerufen und zu Äußerungen wie “Dich sollte man in Ketten legen”, “Verschwinde hier” sowie “Arschloch” geführt. Auch die beantragte Sitzungsunterbrechung sei mit Buhrufen und Beschimpfungen von den Demonstranten begleitet worden.

Ein Kläger habe die Beklagte aufgefordert, eine unbeeinflusste Entscheidungsfindung sicherzustellen. Die Beklagte erklärte daraufhin, dass sie außer der Aufforderung zum Umdrehen der Plakate nicht unternehmen werden. Daraufhin verließen die Angehörigen der CDU den Saal.

Die Kläger beantragen, festzustellen, dass die Beklagte aufgrund des Störungsbeseitigungsanspruchs der Kläger verpflichtet war, in der Ratssitzung vom 3. April 2006 das Hochhalten von Plakaten zu untersagen und weitere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einen ungestörten Sitzungsverlauf sicherzustellen.

Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, die Klage sei bereits unzulässig. Für das Hochhalten der Plakate bestehe keine Wiederholungs-gefahr. Es fehle auch an einem Rechtsschutzbedürfnis; den gestellten Antrag auf das Entfernen der Plakate sei bereits durch das Umdrehen entsprochen worden. Der Klageantrag auf das Ergreifen weiterer geeigneter Maßnahmen sei zu unbestimmt.

Die Klage sei auch unbegründet. Die Entscheidung, von den Demonstranten lediglich ein Umdrehen der Plakate zu fordern, sei nicht zu beanstanden. Die Plakate seien nicht mehr lesbar gewesen und stellten deshalb keine Störung mehr dar. Das Entfernen der Plakate wäre für die Eigentümer einer Aufforderung zum Verlassen des Sitzungssaales gleichgekommen, da die Plakate nicht sicher anderweitig gelagert werden konnten.

Die von den Klägern vorgebrachten Äußerungen der Zuhörer seien von ihr nicht wahrgenommen und nicht protokolliert worden. Es habe keine Störung des Sitzungsablaufs der Ratssitzung gegeben.

B. Gründe

Die Klage hat Erfolg; sie ist als kommunalverfassungsrechtliche Klage zulässig und in der Sache begründet.

I. Zulässigkeit der Klage nach § 43 Abs. 1 VwGO

Das VG hat die Klage als kommunalrechtliche Feststellungsklage gemäß § 43 Abs. 1 VwGO für zulässig erachtet; einzelfallbezogene Rechtsbeziehungen innerhalb kommunaler Organe können grundsätzlich Gegenstand einer kommunalverfassungsrechtlichen Feststellungsklage sein.

1. Bestimmtheit der Klage

Das VG bejaht auch die hinreichende Bestimmtheit des Klageantrags („weitere geeignete Maßnahmen“).

Der Bürgermeister habe bei der Handhabung der Sitzungsordnung nach § 51 Abs.1 Gemeindeordnung (GO NRW) im Falle von Störungen ein Auswahlermessen bei den Maßnahmen zur Störungsabwehr.

Dieser Rechtslage trägt das Begehren der Kläger Rechnung, wenn sie geeignete Maßnahmen zur Störungsabwehr fordern. Dies umso mehr als man bei den verbalen Störungen der Sitzung von einem dynamischen Geschehen auszugehen habe, so dass zur Beseitigung dieser Störung von vornherein nicht nur eine einzige Abwehrmaßnahme in Betracht kommen konnte.

2. Berechtigtes Interesse Klagebefugnis

Das VG bejaht auch das berechtigte Interesse der Kläger an der begehrten Feststellung unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr (erneuter Antrag zum Verkauf der Stadtwerke). Diese Wiederholungsgefahr besteht darüber hinaus, da die Beklagte die Auffassung vertrete, dass das Mitbringen von Plakaten zu Ratssitzungen grundsätzlich zulässig sei, sofern deren Aufschriften nicht lesbar seien.

Die Kläger waren auch nicht verpflichtet, einen neuen Antrag zu stellen, auch die umgedrehten Plakate zu entfernen. Die Kläger hätten durch das Verlassen des Sitzungssaales hinreichend deutlich gemacht, dass sie das Umdrehen der Plakate nicht für ausreichend hielten.

Hinzu kommt, dass die Beklagte ausdrücklich erklärt habe, dass sie außer der Aufforderung zum Umdrehen der Plakate nichts unternehmen werde.

Es ist nach Ansicht des VG auch unschädlich, dass die Kläger gegen die geltend gemachten Störungen durch verbale Äußerungen und Lärm keinen speziellen förmlichen Antrag gestellt hätten.Ihre Aufforderung an die Beklagte, eine unbeein- flusste Entscheidungsfindung sicherzustellen, reiche völlig aus. Der Bürgermeister sei bei derartigen Störungen (Buhrufe, Beifall, Beschimpfungen) schon von Amts wegen verpflichtet, Ordnungsmaßnahmen zu ergreifen. Nach alledem hat das VG ein hinreichendes Feststellungsinteresse im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO und damit auch die erforderliche Klagebefugnis (analoge Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO) bejaht.

II. Begründetheit

Das VG hielt die zulässige Klage auch für begründet. Die Beklagte war verpflichtet, sowohl das Hochhalten von Plakaten zu untersagen als auch weitere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einen ungestörten Sitzungsablauf sicherzustellen.

1. Begriff der „Ordnung“ im Sinne des § 51 Abs. 1 GO NRW

Der Begriff der Ordnung in den Sitzungen umfasst nach Feststellung des VG nicht nur die den Verfahrensablauf regelnden Normen (Gemeindeordnung, kommunale Satzungen, Geschäftsordnungen), sondern den Gesamtbestand der inner- organisatorischen Verhaltensregeln, die für einen reibungslosen Geschäftsablauf notwendig sind.

Zu den notwendigen Voraussetzungen eines geordneten Sitzungsbetriebes gehört eine möglichst unbeeinträchtigte Atmosphäre in den Sitzungen, die der Rats- vorsitzende zu gewährleisten habe.

Der Einsatz demonstrativer nicht verbaler Ausdrucksmittel wie Plakate und Transparente bewerte das VG als eine Beeinträchtigung der Sitzungsordnung, die auch nicht durch das Grundrecht eines Zuhörers oder Ratsmitgliedes aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt sei.

2. Hochhalten der Plakate

Nach dem dargestellten Ordnungsbegriff stellt sich das Hochhalten von Plakaten in der Ratssitzung – auch nachdem diese umgedreht waren- als eine Störung der Sitzungsordnung dar, gegen die die Beklagte hätte einschreiten müssen. Die Plakate waren nach ihrer Größe und Anzahl sowie ihrem Inhalt geeignet, die Befürworter des Prüfauftrages massiv unter Druck zu setzen, besonders angesichts der räumlichen Enge im Sitzungsaal.

Das Umdrehen der Plakate war nach Auffassung des VG nicht ausreichend, um die Störung zu beseitigen. Angesichts der körperlichen Bedrängung einzelner Ratsmitglieder konnte von einer Atmosphäre der Ruhe und Sachlichkeit und des offenen Austauschs von Überlegungen nicht mehr gesprochen werden.

Dem steht nicht entgegen, dass die Funktionsfähigkeit des Rates nicht gefährdet war; es reicht, wenn die unbeeinflusste Mandatsausübung auch nur eines Ratsmitgliedes beeinträchtigt ist.

3. Verbale Unmutsäußerungen

Die Beklagte war darüber hinaus verpflichtet, gegen die lautstarken Unmutsäußerungen der Zuhörer vorzugehen. Auch diese waren eine Störung der Sitzungsordnung im Sinne des § 51 Abs. 1 GO NRW. Das VG ging nach Aufklärung des Sachverhalts davon aus, dass es solche laut- starken Äußerungen der Zuhörer gegeben hat, auch wenn die Beklagte vorträgt, nicht alle angeführten Äußerungen wahrgenommen zu haben. Sie selbst habe unter Beweis gestellt, dass sie mehrfach Buhrufe gerügt habe. Das VG ging davon aus, dass die Beklagte wesentliche Teile der gerügten Bekundungen und Unmutsäußerungen der Zuhörer auch wahrgenommen hat.
Die Beklagte ist hiergegen nicht entsprechend eingeschritten. Sie hätte nachdem ihre zweimaligen Ermahnungen der Zuhörer zur Ruhe nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben, weitere Maßnahmen ergreifen müssen (z.B. Aufhebung der Sitzung, Verweis eines oder mehrerer Störer aus dem Saal) um einen ungestörten Sitzungsverlauf sicherzustellen. Dies gelte besonders dann, wenn sich die Androhung eines Verweises als wirkungslos erweist.

C. Anmerkungen

Das VG hat in seinem Urteil den Begriff der Ordnung bei Ratssitzungen erläutert und hieraus abgeleitet, wann von einer Störung der Sitzungsordnung auszugehen ist. Eine derartige Störung liegt bereits vor, wenn einzelne Ratsmitglieder von den Zuhörern bedrängt und unter Druck gesetzt werden, so dass von einer ruhigen und sachlichen Atmosphäre der politischen Auseinandersetzung nicht mehr gesprochen werden kann. Solche Störungen sind sowohl das Hochhalten von Plakaten und Transparenten als auch lautstarke Beifallsbekundungen und Unmutsäußerungen bis hin zu persönlichen Beleidigungen. Hiergegen muss der Vorsitzende des Gemeinderates (in der Regel der Bürgermeister) schon von Amts wegen vorgehen und einen ordnungsgemäßen Verlauf der Ratssitzung sicherstellen. Er muss gegebenenfalls die Störer des Saales verweisen, die Ratssitzung unterbrechen oder notfalls aufheben. Die mit solchen Maßnahmen verbundenen Einschränkungen der Rechte der Zuhörer aus Art. 1 Abs. 1 GG sind zulässig. Das VG betont, dass der Gemeinderat kein Forum zur Äußerung und Verbreitung privater Meinungen ist, sondern ein Organ der Gemeinde mit spezifischen Aufgaben der gemeindlichen Willensbildung.

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet war, in der Ratssitzung vom 3. April 2006 das Hochhalten von Plakaten zu untersagen und weitere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einen ungestörten Sitzungsverlauf sicherzustellen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Urteil des VG Arnsberg vom 24. August 2007, AZ 12K 127 /07