Examensreport: ZR I 1. Examen aus dem August 2016 in Hamburg

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

 

I und B gründen zusammen die IB-OHG, die zum Zweck hat, Badeentchen herzustellen und zu vertreiben. Die Gesellschaft wird am 02.03.2015 im Handelsregister eingetragen. Die Arbeitsverteilung ist so, dass der I im Wesentlichen die Produktentwicklung macht und der B sich um den Vertrieb kümmert. Da I geschäftsunerfahren ist, lässt er sich bei Materialeinkäufen häufig „über den Tisch ziehen“. Deshalb vereinbaren I und B, dass der B allein vertretungsberechtigt sein soll. Dies wird entsprechend auf der Internetseite der IB-OHG kommuniziert, eine Eintragung ins Handelsregister unterbleibt.

Am 02.05.2016 bestellt der I bei der V-GmbH dennoch ein Schmelzgerät zur Herstellung von Plastiksubstanzen für 10.000 Euro. Ein Mitarbeiter der IB-OHG nimmt das Schmelzgerät am 06.05. 2016 entgegen. I ist zu diesem Zeitpunkt auf einer lange geplanten Urlaubsreise und kehrt erst am 30.06.2016 zurück. Bei der Inbetriebnahme des Geräts übersieht der I, dass der Schutzverschluss einen Riss aufweist. Dies hätte sogar einem Laien auffallen müssen. Deshalb spritzt heißes Plastik aus dem Gerät und verletzt den im Betrieb beschäftigten M.

Am 01.08.2016 verlangt die V-GmbH von der IB-OHG Zahlung des Kaufpreises. Die IB-OHG lehnt die Zahlung mit der Begründung ab, dass der I keine Vertretungsmacht gehabt habe, was die V auch ohne weiteres auf der Internetseite hätte erfahren können. Außerdem verlangt die IB-OHG Lieferung eines neuen Schmelzgeräts. Als die V- GmbH dies ablehnt, erklärt der B „vorsorglich“ im Namen der IB-OHG den Rücktritt vom Vertrag.

 

Aufgabe 1: Hat die V-GmbH gegen die IB-OHG einen Anspruch auf Zahlung von 10.000 Euro?

 

Bei dem Ereignis wird die Kleidung des M beschädigt (Schaden: 200 Euro). Außerdem verpasst er aufgrund der erforderlichen Heilbehandlung ein Konzert seiner Lieblingsband „Die toten Ärzte“. Für das Konzert hatte er schon für 40 Euro eine – nicht personengebundene – Eintrittskarte gekauft. M verlangt nunmehr von I, der IB-OHG und von der V-GmbH jeweils 240 Euro Schadensersatz. B trägt für die IB-OHG vor, dass sie nichts für das gesellschaftswidrige Verhalten des I könne. Die V-GmbH trägt vor, dass ihr kein Verschulden nachzuweisen sei.

 

Aufgabe 2: Hat der M gegen I, die IB-OHG oder die V-GmbH einen Anspruch auf Zahlung von 240 Euro für die Kleidung und den vereitelten Konzertbesuch?

 

Bearbeiterhinweis:

  • Vorschriften aus dem ProdHaftG sind nicht zu prüfen.

  • Arbeitsschutzrechtliche Vorschriften außerhalb des BGB sind nicht zu prüfen.

 

M entscheidet sich dafür, die V-GmbH auf Zahlung von 240 Euro zu verklagen. Nach Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens erscheint der M trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zur mündlichen Verhandlung am 15.07.2016. Der Rechtsanwalt der V-GmbH beantragt sogleich den Erlass eines Versäumnisurteils. Die Klage des M wird abgewiesen. Der Grund für das Nichterscheinen war, dass der M einen Verkehrsunfall hatte.

Das Versäumnisurteil wird dem M zugestellt. Hiergegen legt er rechtzeitig Einspruch ein. Zu dem angesetzten neuen Termin zur mündlichen Verhandlung schickt der M den Ehemann seiner Nichte. M selbst hat noch zu viele Schmerzen, um persönlich zu erscheinen. Der E legt die Vollmacht des M bei Gericht vor. Der Rechtsanwalt der V-GmbH rügt die Vertretungsbefugnis des E und beantragt ein zweites Versäumnisurteil. Das Gericht weist die Vertretungsbefugnis durch Beschluss zurück. Dennoch stellt E seinen Klageantrag.

Liegen die Voraussetzungen für den Erlass eines zweiten Versäumnisurteils vor?

 

Bearbeiterhinweis:

  • Gehen Sie davon aus, dass die Klage des M zulässig ist.

  • Auf § 15 AO wird hingewiesen.

 

Unverbindliche Lösungsskizze

 

Aufgabe 1: Ansprüche V gegen IB-OHG auf Zahlung von 10.000 Euro, § 433 II BGB I. Anspruch entstanden

  1. Einigung
  • Inhalt: §§ 651, 433 ff. BGB
  • Stellvertretung durch I, §§ 164 ff. BGB

a) Eigene Willenserklärung (+)
b) Im fremden Namen (+)
c) Im Rahmen der Vertretungsmacht aa) Rechtsgeschäftlich (-)

bb) Gesetzlich

  • Grundsatz: Einzelvertretung, § 125 I HGB
  • Aber: abweichende Vereinbarung – Gesamtvertretung; fehlende Eintragung unerheblich; Arg.: Eintragung nur deklaratorisch

cc) Rechtsschein
-> Negative Publizität des Handelsregisters, § 15 I HGB

(1) Einzutragende Tatsache
Hier: Vereinbarung über Gesamtvertretung, §§ 106, 107 HGB

(2) Keine Eintragung (+)

(3) Keine Kenntnis
(+); Arg.: fahrlässige Unkenntnis unbeachtlich

(4) Vorgang im Geschäftsverkehr (+) (5) Ergebnis: (+)
dd) Ergebnis: (+)
2. Wirksamkeit (+)

II. Anspruch nicht erloschen
-> Rücktritt, §§ 437 Nr. 2, 1. Fall, 323, 346 I BGB

  1. Wirksamer Kaufvertrag (+)

  2. Mangel
    Hier: § 434 I 2 Nr. 2 BGB

  3. Maßgeblicher Zeitpunkt -> Übergabe, § 446 BGB (+)

  4. Leistungsaufforderung mit angemessener Fristsetzung

Hier: entbehrlich gem. § 323 II Nr. 1 BGB

  1. Kein Ausschluss

a) Kenntnis, § 442 BGB (+)

b) Verletzung der Rügeobliegenheit, § 377 HGB

aa) Beiderseitiger Handelskauf
Hier: V-GmbH und IB-OHG jeweils Formkaufleute, § 6 HGB

bb) Ablieferung der Ware (+) cc) Mangel (+)

dd) Keine unverzügliche Untersuchung bzw. Rüge, § 121 BGB

Hier: Mangel ohne weiteres erkennbar

ee) Keine Arglist des Verkäufers (+) 6. Ergebnis: (-)
III. Anspruch durchsetzbar (+)
IV. Ergebnis: (+)

Aufgabe 2: M gegen I, IB-OHG und V-GmbH auf Zahlung von 240 Euro für Kleidung und vereitelten Konzertbesuch

  1. Teil: Ansprüche gegen I als Person

A. Vertragliche Ansprüche
(-); Arg.: I selbst und der M sind nicht Vertragspartner

B. § 823 I BGB

I. Rechtsgutsverletzung

Hier: Eigentum und Körper

II. Verletzungsverhalten

Hier: Keine Kontrolle

III. Zurechnung
Hier: Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht

IV. Rechtswidrigkeit (+)

V. Verschulden (+)

VI. Rechtsfolge: Schadensersatz

  • Kleidung (+); Arg.: § 249 II BGB
  • Vereiteltes Konzert (+); Arg.: Kommerzalisierungs- bzw. Frustationsgedanke (andere Ansicht vertretbar)

VII. Kein Ausschluss
-> Mitverschulden, § 254 BGB (-); Arg.: keine Verletzung der Schadensminderungsobliegenheit, da keine Anhaltspunkte für kurzfristige Verkaufsmöglichkeit der Karte

VIII. Ergebnis: (+)

C. § 823 II BGB, § 229 StGB
(+), aber nur bzgl. Konzertkarte

  1. Teil: Ansprüche gegen IB-OHG A. § 280 I BGB

I. Schuldverhältnis

Hier: Arbeitsvertrag

II. Pflichtverletzung

Hier: § 618 BGB

III. Vertretenmüssen
-> Vermutet

  • Zurechnung: § 31 BGB analog

IV. Rechtsfolge: Schadensersatz (+), s.o.

V. Kein Ausschluss (-)
VI. Ergebnis: (+)
B. § 823 I, II BGB, § 229 StGB, § 31 BGB analog (+)
3. Teil: Ansprüche gegen I als Gesellschafter der IB-OHG
-> §§ 280 I, 823 I, II BGB, § 229 StGB, § 31 BGB analog, § 128 OHG (+) 4. Teil: Ansprüche gegen die V-GmbH
A. §§ 437 Nr. 3, 280 I BGB i.V.m. VSD
I. Wirksamer Kaufvertrag

  1. Leistungsnähe des M (+)

  2. Einbeziehungsinteresse der IB-OHG

Hier: Wohl und Wehe

  1. Erkennbarkeit für V-GmbH (+)

  2. Schutzbedürftigkeit des M
    (-); Arg.: eigene vertragliche Ansprüche gegen die IB-OHG

II. Ergebnis: (-)

B. § 823 I BGB

I. Rechtsgutsverletzung (+)

II. Verletzungsverhalten
Hier: Gefährliches Produkt unkontrolliert in den Verkehr gebracht

III. Zurechnung
-> VSP (Produzentenhaftung)(+); Arg: Fabrikationspflicht

IV. Rechtswidrigkeit (+)

V. Verschulden
Hier: Wird bei Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht vermutet; keine Exkulpation der V-GmbH

VI. Rechtsfolge: Schadensersatz (+) VII. Kein Ausschluss (+)
VIII. Ergebnis: (+)
C. § 823 II BGB, § 229 StGB

(+), bzgl. Konzertkarte

Aufgabe 3: Voraussetzungen des 2. Versäumnisurteils (VU)

I. Antrag auf Erlass eines 2. VA, § 345 ZPO (+)

II. Säumnis
Hier: E trotz Vollmacht nicht vertretungsbefugt; Arg.: § 79 II, III ZPO, § 15 AO

III. Kein Erlasshindernis
Hier: Zurückweisung erst im Termin, § 335 I Nr. 5 ZPO

IV. Ergebnis: (-)

BlogPlus

Du möchtest weiterlesen?

Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.

Paket auswählen