Halteverbot-Fall

Halteverbot-Fall

Unkenntnis schützt vor Strafe nicht

A. Sachverhalt

Der Kläger ist Halter eines Personenkraftwagens mit einem amtlichen Kennzeichen der Stadt M. Am 27. April 1992 stellte er dieses Fahrzeug auf einer öffentlichen Straße in K. ab. Anschließend begab er sich für eine mehrwöchige stationäre Behandlung in ein Krankenhaus. Am 12. Mai 1992 stellte die Beklagte in dem betreffenden Straßenabschnitt zur Vorbereitung eines Straßenfestes mobile Haltverbotsschilder (Zeichen 283 nach § 41 Abs. 2 Nr. 8 StVO) auf und veranlasste am 16. Mai 1992, dass das Fahrzeug von einem Abschleppunternehmen auf dessen Betriebshof geschleppt wurde. Dort holte es der Kläger am 21. Mai 1992 gegen Zahlung von 175,56 DM (131,10 DM Abschlepp- und 44,46 DM Unterstellkosten) ab.

Daraufhin verlangte der Kläger von der Beklagten die Erstattung dieses Betrages, weil er sein Fahrzeug rechtmäßig abgestellt habe. Diese lehnte das Erstattungsbegehren mit der Begründung ab, das Haltverbot sei durch Aufstellen der entsprechenden Verkehrszeichen auch ihm gegenüber wirksam geworden; hierzu sei nicht erforderlich, dass der Kläger von dem Verkehrszeichen tatsächlich Kenntnis erlangt habe.

Der Kläger hat Klage auf Zahlung von 175,56 DM erhoben, die in den Vorinstanzen erfolglos geblieben ist.

B. Worum geht es?

Der Kläger verlangt die Rückzahlung der gezahlten Abschlepp- und Unterstellkosten. Die allgemeine Leistungsklage (vgl. §§ 43 II, 111 S. 1 VwGO) könnte er mit Erfolg auf einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch stützen, wenn die Abschleppmaßnahme, die sich entweder als Sicherstellung oder – so die herrschende Meinung – Ersatzvornahme darstellt, rechtswidrig gewesen wäre.

Voraussetzung für eine rechtmäßige Ersatzvornahme wäre, dass eine taugliche Vollstreckungsgrundlage bestanden hat, also ein vollziehbarer Verwaltungsakt, mit dem eine Handlung, Duldung oder Unterlassung gefordert wird. Als ein solcher Verwaltungsakt kommt hier das mobile Halteverbotsschild in Betracht. Denn das BVerwG hat bereits im Jahr 1977 entschieden, dass ein Halteverbotsschild auch das Gebot enthält, verkehrswidrig geparkte Kraftfahrzeuge unverzüglich zu entfernen:

„Zu Unrecht meint die Beschwerde, aus der vom Verkehrszeichen ausgehenden verbietenden Verfügung lasse sich nicht zugleich die gebietende Verfügung an denjenigen, der rechtswidrig gehalten habe, entnehmen, sein Fahrzeug so schnell wie möglich wegzufahren. Die Beschwerde übersieht damit einmal, daß bereits nach dem Wortlaut des § 41 StVO Vorschriftszeichen Gebote und Verbote enthalten, so daß ein Warte- und Haltgebot zugleich das Verbot enthält, weiterzufahren und ebenso das Verbot, zu parken oder zu halten, das Gebot, weiterzufahren, wenn dem Verbot zuwidergehandelt oder der Zeitraum überschritten ist, während dessen das Halten gestattet ist. Das entspricht über den Wortlaut des § 41 StVO hinaus auch dem Sinn und Zweck der Regelung. Die von Verkehrszeichen ausgehenden Verbote dienen dem Zweck, Gefahren für die Ordnung und Sicherheit des Straßenverkehrs von vornherein zu verhüten, indem sie ein bestimmtes verkehrswidriges Verhalten verbieten. Dieser ihr Zweck gebietet die Annahme, daß sie - wenn schon dem Verbot zuwidergehandelt ist - zugleich das Gebot mitenthalten, den verkehrswidrigen Zustand sobald als möglich zu beseitigen, im hier zu entscheidenden Fall also nach der Zeit, in der das Halten gestattet war, weiterzufahren; es wäre sinnwidrig, wenn bei einem Verstoß gegen ein von einem Verkehrszeichen ausgehenden Verbot jeweils ein Polizeivollzugsbeamter ein besonderes, dem häufig nicht erreichbaren Fahrzeughalter oder -führer erst bekanntzumachendes Gebot erlassen müßte, um die Herstellung des verkehrsgemäßen Zustandes zu erreichen.“ (Beschl. v. 7.11.1977 – VII B 135.77)”

Zudem sei dieses Wegfahrgebot sofort vollziehbar, weil § 80 II Nr. 2 VwGO jedenfalls analog auf Verkehrszeichen anwendbar sei:

„Die zumindest entsprechende Anwendbarkeit des § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO auf Verkehrszeichen folgt, wie bereits der BGH und mehrere Oberverwaltungsgerichte zutreffend entschieden haben (vgl. außer dem Berufungsgericht BGHSt 23, 86 [BGH 23.07.1969 - 4 StR 371/68] [89] sowie OVG Münster in OVGE 24, 200 und Ba-WüVGH in ESVGH 24, 81 [83 f.]), aus der Rechtsprechung des beschließenden Senats zur Rechtsnatur von Verkehrszeichen. Der Senat hat bereits in BVerwGE 27, 181 (182) [BVerwG 09.06.1967 - VII C 18/66] die durch Verkehrszeichen getroffenen verkehrsregelnden Anordnungen als Verwaltungsakte in Form von Allgemeinverfügungen angesehen, was der nunmehr allgemein vertretenen Auffassung entspricht. Die Verkehrszeichen unterscheiden sich damit prinzipiell nicht von den unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, deren Stelle die Verkehrszeichen gleichsam vertreten. Diese “Funktionsgleichheit” und “wechselseitige Vertauschbarkeit” einer Verkehrsregelung durch Verkehrszeichen einerseits und durch Polizeibeamte andererseits (vgl. BGHSt 20, 125 [128] und 23, 86 [90]) macht - sofern nicht bereits eine erweiternde Auslegung des Begriffs des Polizeivollzugsbeamten zur unmittelbaren Anwendung des § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO führt (vgl. Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 6. Aufl. 1974, Rdnr. 22 a zu § 80) - zumindest die entsprechende Anwendbarkeit des § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO erforderlich; dies entspricht der herrschenden Meinung (vgl. Eyermann-Fröhler a.a.O. und 7. Aufl. 1977 a.a.O. mit geänderter Begründung; Redeker-von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 1975, Rdnr. 20 zu § 80; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 1977, Anm. 8 Buchst. b zu § 80 sowie die bereits zitierte Rechtsprechung; daß der Ba-WüVGH in ESVGH 24, 81 [83 f.] eine Rechtsanalogie zu den Regelungen in § 80 Abs. 2 Nr. 1 - 3 VwGO vorzieht, betrifft nur eine Nuance in der Begründung) und bedarf keiner weiteren Klärung in einem Revisionsverfahren; der abweichenden Meinung von Schmaltz (NJW 1969, 1318) und Schmidt (DÖV 1970, 663) vermag der Senat nicht zu folgen. Ob eine Auslegung der Vorschriften der Straßenverkehrsordnung darüber hinaus auch eine Anwendung des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ermöglichen würde, kann danach offenbleiben.“ (Beschl. v. 7.11.1977 – VII B 135.77)”

Voraussetzung ist aber, dass das in dem mobilen Halteverbotsschild enthaltene Wegfahrgebot dem Kläger gegenüber auch bekannt gegeben worden wäre. Denn ein Verwaltungsakt wird grundsätzlich erst mit Bekanntgabe an den Adressaten wirksam (§ 43 I VwVfG). Gegen eine Bekanntgabe spricht, dass der Kläger die Schilder, die erst nachträglich aufgestellt wurden, nicht sinnlich wahrgenommen hat, weil er sich im Krankenhaus befand.

Das BVerwG war also aufgerufen, folgende Frage zu beantworten:

„Werden Allgemeinverfügungen in Form von Verkehrszeichen auch gegenüber Verkehrsteilnehmern wirksam, die das Zeichen nicht sinnlich wahrgenommen haben?”

C. Wie hat das BVerwG entschieden?

Das BVerwG weist Halteverbot-Fall (Urt. v. 11.12.1996 – 11 C 15/95 (BVerwGE 102, 316 ff.)) die Rückzahlungsklage ab, weil das Halteverbot auch dem Kläger gegenüber wirksam geworden sei.

Einleitend verweist das BVerwG auf seine Rechtsprechung, wonach es sich bei Verkehrszeichen um Allgemeinverfügungen iSv § 35 S. 2 Var. 3 VwVfG („Regelung der Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit“) handele:

„Das Haltverbotsschild nach Zeichen 283 zu § 41 Abs. 2 Nr. 8 StVO ist wie jedes andere Verkehrszeichen ein Verwaltungsakt in der Form der Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 VwVfG (vgl. BVerwGE 59, 221; 92, 32; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl. 1995, § 41 StVO Nr. 247 m.w.N.).“

In dem Geschwindigkeitsbeschränkungs-Fall, den wir als weiteren Klassiker vorgestellt haben, hat das BVerwG ausgeführt, dass die Anfechtungsfrist erst beginne, wenn der Verkehrsteilnehmer von dem Verkehrszeichen betroffen sei und sich (erstmalig) der Regelung gegenübersehe:

„Betroffen wird ein Verkehrsteilnehmer von diesem Verwaltungsakt allerdings erst dann, wenn er sich (erstmalig) der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht; damit beginnt für ihn die Anfechtungsfrist zu laufen.”

Das würde dafür sprechen, dass das mobile Halteverbotsschild gegenüber dem Kläger keine Wirkung entfaltet hat, weil er es sinnlich nicht wahrgenommen hat und sich ihm damit nicht im engeren Sinne des Wortes „gegenübersah“.

Das BVerwG verwirft aber diese Interpretation seiner Ausführungen im Geschwindigkeitsbeschränkungs-Fall. Die in einem Verkehrszeichen enthaltenen Ge- und Verbote werden nicht im Wege der Einzelbekanntgabe dadurch bekannt gemacht, dass der Verkehrsteilnehmer sich dem Schild (sinnlich) gegenübersieht. Vielmehr erfolge die Bekanntgabe von in Verkehrszeichen enthaltenen Ge- und Verboten als öffentliche Bekanntgabe durch „Aufstellung“ (vgl. § 45 Abs. 4 StVO) des Verkehrsschildes, weil die Vorschriften der StVO die Bekanntgabe speziell regelten:

„Er wird gemäß § 43 Abs. 1 VwVfG gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung durch Aufstellung des Verkehrsschildes (vgl. insbesondere § 39 Abs. 1 und 1 a, § 45 Abs. 4 StVO). Dies ist eine besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe. Ob sie als öffentliche Bekanntgabe eines nicht schriftlichen (§ 41 Abs. 4 Satz 1 VwVfG) Verwaltungsakts gemäß § 41 Abs. 3 VwVfG einzuordnen ist oder ob die Spezialregelungen der Straßenverkehrs-Ordnung den § 41 VwVfG insgesamt verdrängen (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 VwVfG; dazu OVG Münster, NZV 1996, 293 < 294 >), bedarf keiner Entscheidung.”

Daraus folge, dass sie wirksam werden, wenn sie so aufgestellt sind, dass sie ein durchschnittlicher Verkehrsteilnehmer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt das Verkehrsschild erfassen kann (sogenannter Sichtbarkeitsgrundsatz). Darauf, ob der Verkehrsteilnehmer das Zeichen auch tatsächlich wahrnimmt oder nicht, komme es - dem Wesen einer öffentlichen Bekanntgabe entsprechend - nicht an:

„Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon “mit einem raschen und beiläufigen Blick” erfassen kann (BGH, Urteil vom 8. April 1970 - III ZR 167/68 - <NJW 1970, 1126 f.>), so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht. Dies entspricht der Wirkung vergleichbarer anderer öffentlicher Bekanntmachungen (vgl. etwa § 41 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit § 15 Abs. 3 Sätze 2 und 3 VwZG und § 74 Abs. 5 VwVfG) und steht nicht im Widerspruch zur Aussage des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 13. Dezember 1979 (BVerwGE 59, 221 <226>), wonach ein Verkehrsteilnehmer von dem Verwaltungsakt erst dann betroffen wird, “wenn er sich (erstmalig) der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht”. Mit dieser Formulierung sollte nämlich, wie der Kontext der Entscheidung ergibt, nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass die Wirksamkeit des Verkehrszeichens von der subjektiven Kenntnisnahme des Verkehrsteilnehmers abhängt.”

Danach sei das Wegfahrgebot dem Kläger gegenüber wirksam geworden:

„Zu Recht hat das Berufungsgericht angenommen, dass nach den dargelegten Grundsätzen das Haltverbot, in dem zugleich ein Wegfahrgebot liegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1993 - BVerwG 11 C 32.92), auch gegenüber dem Kläger wirksam geworden ist. Obwohl er sich im Zeitpunkt der Aufstellung des Verkehrsschildes am 12. Mai 1992 ebenso wie im Zeitpunkt des behördlichen Einschreitens am 16. Mai 1992 im Krankenhaus befand, war er “Verkehrsteilnehmer” und somit Adressat der durch das Verkehrszeichen getroffenen Anordnung. Verkehrsteilnehmer ist nämlich nicht nur derjenige, der sich im Straßenverkehr bewegt, sondern auch der Halter eines am Straßenrand geparkten Fahrzeugs, solange er - wie der Kläger - Inhaber der tatsächlichen Gewalt über das Fahrzeug ist (vgl. OVG Koblenz, Amtliche Sammlung 20, 20 < 22 >).“

D. Fazit

Der Halteverbot-Fall ist eine der wichtigsten Entscheidungen des BVerwG zu den Rechtsproblemen rund um Verkehrszeichen. Hier hat das Gericht nicht nur postuliert, dass Verkehrszeichen öffentlich bekannt gegeben werden, sondern zugleich auch den sogenannten Sichtbarkeitsgrundsatz begründet. Die Ausgestaltung des Sichtbarkeitsgrundsatzes im Einzelnen blieb aber auch nach der Entscheidung aus dem Jahr 1996 offen. Insbesondere die Frage, welche Auswirkungen der Sichtbarkeitsgrundsatz für den Beginn von Rechtsbehelfsfristen für Rechtsmittel hat, die sich gegen die in Verkehrszeichen enthaltene Ge- und Verbote richten, blieb umstritten. Darauf werden wir in den nächsten Wochen mit weiteren Klassikern zurückkommen.