Geschwindigkeitsbeschränkungs-Fall

A. Sachverhalt

Der Kläger wendet sich gegen die Begrenzung der Geschwindigkeit auf der durch das Stadtgebiet der beklagten Stadt Erlangen verlaufenden nunmehrigen Autobahn A 73.

Die Autobahn ist als Teilstück der Autobahn Nürnberg-Bamberg unter dem Namen “Frankenschnellweg” bekannt geworden und für seine sogenannte Entwurfsgeschwindigkeit von 120 km/h ausgebaut. Sie dient als Schnellverbindung des Städtedreiecks Nürnberg-Fürth-Erlangen und hat einen direkten Anschluss an die Bundesautobahn Nürnberg-Frankfurt. Zwischen den Kilometern 29,0 und 37,2 liegen vier Anschlussstellen (Eltersdorf, Bundesautobahn Fürth-Erlangen, Erlangen-Bruck und Erlangen-Nord). Die Bebauung reicht dort stellenweise bis zu 10 m an die Straße heran.

Für diesen Streckenabschnitt ordnete die beklagte Stadt mit Zustimmung des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren zunächst am 4. September 1972 eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h an. Nach Einholung eines Gutachtens des mit Lärmmessungen beauftragten Technischen-Überwachungs-Verein Bayern e. V. München und nach weiteren Anhörungen, insbesondere der Industrie- und Handelskammer Nürnberg, des Allgemeinen Deutschen Automobil-Club e. V. Gau Nordbayern, der Autobahndirektion Nürnberg und des Straßenbauamts Nürnberg, die ablehnende Stellungnahmen abgaben, ordnete die beklagte Stadt am 1. Juni 1973 mit Zustimmung des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren an, dass auf der Autobahn Erlangen-Nürnberg zwischen den Anschlussstellen Eltersdorf und Erlangen-Nord (von km 29,0 bis km 37,2) die zulässige Höchstgeschwindigkeit in beiden Fahrtrichtungen auf 80 km/h festgesetzt werde. In der Anordnung heißt es, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung aus Gründen der von der Straße ausgehenden Lärmentwicklung und der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs notwendig sei. Die entsprechenden Verkehrszeichen 274 wurden angebracht und auf Betreiben der Bayerischen Obersten Baubehörde mit Zusatztafeln “Lärmschutz” versehen. Den gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Regierung von Mittelfranken mit Bescheid vom 29. März 1974 zurück.

 

B. Worum geht es?

Leser unserer Rubrik „Klassiker“ wissen, dass das BVerwG Verkehrszeichen in einer Entscheidung aus dem Jahr 1967 als (konkret-generelle) Allgemeinverfügungen (§ 35 S. 2 VwVfG) und nicht als (abstrakt-generelle) Rechtsnormen eingeordnet hat.

Der Kläger hätte danach eine Anfechtungsklage (§ 42 I Alt. 1 VwGO) gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung erheben können. Das „rebellische“ Berufungsgericht verweigerte dem BVerwG allerdings die Gefolgschaft und hielt die von dem Kläger erhobene Anfechtungsklage für unzulässig. Möglich sei indes eine Feststellungsklage (§ 43 I VwGO):

„Der Kläger könne die von ihm beanstandete Verkehrsregelung nicht mit der Anfechtungsklage angreifen, weil ein anfechtbarer Verwaltungsakt nicht vorliege. Verkehrsregelungen, die mittels amtlicher Gebots- und Verbotszeichen ergingen, seien Rechtsvorschriften. Der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die Verkehrszeichen für Verwaltungsakte halte, könne nicht gefolgt werden. Gegen sie bestünden rechtstheoretische und praktische Bedenken. Die Klage sei aber als Individualfeststellungsklage gemäß § 47 VwGO nicht entgegenstehe, zulässig. Sie sei auch begründet. Die angegriffene Geschwindigkeitsbegrenzung gehe als ganztägige Lärmschutzmaßnahme über die Ermächtigung in § 45 Abs. 1 der Straßenverkehrsordnung hinaus, die nur den Schutz der Nachtruhe zum Inhalt habe. Die Anordnung der beklagten Stadt lasse sich auch nicht auf Gründen des Unfallschutzes stützen. Alle für die Verkehrssicherheit zuständigen Stellen hätten die Notwendigkeit verneint, die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h zu begrenzen. Die von der Beklagten getroffenen Feststellungen wiesen keine offensichtlich bedeutsamen Unterschiede zu anderen Autobahnstrecken auf, für die der Normgeber eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung nicht für geboten halte.“

 

Das BVerwG war also aufgerufen, folgende Frage zu beantworten:

Ist an der Rechtsprechung des BVerwG festzuhalten, wonach Verkehrszeichen als konkret-generelle Allgemeinverfügungen einzuordnen sind?

 

C. Wie hat das BVerwG entschieden?

Das BVerwG bestätigt im Geschwindigkeitsbeschränkungs-Fall (Urt. v. 13.12.1979 – 7 C 46.78 (BVerwGE 59, 221 ff.)) die Entscheidung aus dem Jahr 1967 und ordnet „Verkehrsregeln durch amtliche Vorschriftszeichen“ als Allgemeinverfügungen (§ 35 S. 2 VwVfG) ein, die ihre Rechtsgrundlage in § 45 I 1 StVO finden.

Zugleich konstatiert es allerdings auch, dass die Einordnung einen „typischen Grenzfall“ betreffe, „Schwierigkeiten bereite“ und „nicht in jeder Hinsicht befriedigend“ sei:

„Verkehrsregeln durch amtliche Vorschriftszeichen sind Verwaltungsakte in der Form von Allgemeinverfügungen. Der Senat hält an dieser Auffassung fest, die er - erstmals in BVerwGE 27, 181 - in ständiger Rechtsprechung vertritt, und die von der Rechtsprechung der anderen Gerichte - abgesehen vom Berufungsgericht - einhellig geteilt und vom Schrifttum überwiegend gebilligt wird. Die dagegen vom Berufungsgericht erhobenen Bedenken sind nicht begründet. Dabei ist allerdings zuzugeben, dass die Verkehrszeichen einen “typischen Grenzfall” (so Bachof in DÖV 1976, 132) darstellen. Ebenso wie andere moderne Formen des Verwaltungshandelns bereitet ihre Einordnung Schwierigkeiten (vgl. bereits BVerwGE 27, 181 [182]; wie auch immer man sie vornimmt, sie wird nicht in jeder Hinsicht befriedigen.“

 

Es handele sich um einen Anwendungsfall von § 35 S. 2 Var. 3 VwVfG, weil Verkehrszeichen die Benutzung einer öffentlich-rechtlichen Sache durch die Allgemeinheit in einer konkreten örtlichen Verkehrssituation regelten und damit „gleichsam an die Stelle von Polizeivollzugsbeamten“ treten:

„Entscheidend ist, worauf der Senat bereits in BVerwGE 27, 181 (183) abgestellt hat, dass Verkehrszeichen eine konkrete örtliche Verkehrssituation betreffen und eine situationsbezogene Verkehrsregelung zum Inhalt haben. Sie vertreten gleichsam die Stelle von Polizeivollzugsbeamten (vgl. Beschluss vom 7. November 1977 - BVerwG 7 B 135.77 - in NJW 1978, 656). Trotz der Funktionsgleichheit und wechselseitigen Vertauschbarkeit einer Verkehrsregelung durch Verkehrszeichen einerseits und durch Polizeibeamte andererseits unterscheiden sie sich regelmäßig dadurch, dass Verkehrszeichen die örtliche Verkehrssituation mehr oder weniger dauerhaft regeln. Deswegen hat der Senat davon gesprochen, dass das durch ein Verkehrszeichen ausgesprochene Verbot “fortwirkt”, “solange die Anordnung durch das Belassen der Verkehrszeichen aufrechterhalten bleibt” (a.a.O. S. 185). Dies ändert aber nichts daran, dass es sich um die Regelung einer konkreten Verkehrssituation an einer ganz bestimmten Örtlichkeit einer Straße und um die Regelung - in den Worten des lediglich klarstellenden § 35 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - der “Benutzung durch die Allgemeinheit” handelt.“

 

Sodann führt das BVerwG aus, dass auch keine Erledigung der Regelung (vgl. § 43 II VwVfG) eingetreten sei, weil es sich um einen Dauerverwaltungsakt handele. Der Kläger müsse also nicht auf eine Fortsetzungsfeststellungsklage (vgl. § 113 I 4 VwGO) umstellen:

„Weil es sich nach dem Gesagten bei Verkehrszeichen um Dauerverwaltungsakte in der Form von Allgemeinverfügungen handelt, kann auch nicht davon gesprochen werden, dass sich der Verwaltungsakt mit der Befolgung oder Übertretung des durch das Verkehrszeichen angeordneten Verbots im Einzelfall erledigt habe und deswegen nur eine nachträgliche Feststellungsklage in Betracht komme.“

 

Im Anschluss macht das BVerwG dann noch interessante Ausführungen zum Beginn der Anfechtungsfrist. Diese beträgt grds. 1 Monat oder – wenn es an einer Rechtsmittelbelehrung fehlt – 1 Jahr (§ 58 VwGO) und beginnt grds. mit der Bekanntgabe des Verwaltungsakts (vgl. § 70 I VwGO). Das BVerwG stellt darauf ab, wann ein Verkehrsteilnehmer von dem Verwaltungsakt „betroffen“ ist, also sich „erstmalig der Regelung gegenübersieht“:

„Betroffen wird ein Verkehrsteilnehmer von diesem Verwaltungsakt allerdings erst dann, wenn er sich (erstmalig) der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht; damit beginnt für ihn die Anfechtungsfrist zu laufen. Der Kläger hat hier die Anfechtungsfrist eingehalten. Es kann daher offenbleiben, ob nach Ablauf der Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO - falls diese Vorschrift überhaupt anwendbar ist (vgl. Hees, Verwaltungsrechtliche Probleme der amtlichen Verkehrszeichen, jur. Diss. Mannheim 1970, S. 192/3 ) - eine Anfechtung durch einen Verkehrsteilnehmer, der von dem Dauerverwaltungsakt wiederholt betroffen wird, auch dann zulässig ist, wenn sich die Situation, die zur Aufstellung des Verkehrszeichens Anlass gab, nicht verändert hat. Offenbleiben kann auch, ob während der Dauer der Aufstellung eines Verkehrszeichens eine dauernde Bekanntmachung der darin verkörperten Anordnung anzunehmen (BVerwGE 27, 183) oder ob - wofür in der Tat entsprechend den im Schrifttum angemeldeten Bedenken weniger spricht - von einer wiederholenden Verfügung (BVerwGE 27, 181 [185] oder dem fortlaufenden Neuerlass des (Dauer)verwaltungsakts (Urteil vom 123. Dezember 1974 a.a.O.) auszugehen ist. Schwierigkeiten, die das Berufungsgericht im Zusammenhang mit diesen teilweise noch offenen Fragen glaubt sehen zu müssen, sind in der Praxis bisher, soweit ersichtlich, nicht bekanntgeworden, so insbesondere nicht die Schwierigkeit, die nach Meinung des Verwaltungsgerichtshofs darin liegt, dass kaum zu bestimmen sei, wie aus der unbegrenzten Menge von Verwaltungsakten der gerade an den Kläger gerichtete Befehl auszusondern, nachzuprüfen und ggf. aufzuheben sei. Da es sich um einen Dauerverwaltungsakt handelt, wird, wenn er in bezug auf einen Kläger aufgehoben wird, die Behörde nicht anstehen, daraus die Konsequenzen für die Allgemeinverfügung schlechthin zu ziehen; dies ist bei Verkehrszeichen nicht anders als bei anderen Allgemeinverfügungen. Eine nähere Erörterung dessen ist - entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts deswegen unterblieben, weil daraus Schwierigkeiten jedenfalls für die Praxis nicht zu erwarten waren und auch nicht entstanden sind; in diesem Zusammenhang irrt der Verwaltungsgerichtshof auch insoweit; als er annimmt, das Bundesverwaltungsgericht sie nur mit Fällen befasst gewesen, in denen die Klagen abgewiesen wurden; eine Klageabweisung war denn auch bereits bei der Entscheidung in BVerwGE 27, 181, mit der sich das Berufungsgericht insbesondere auseinandersetzt, nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens (vgl. weiter z.B. BVerwGE 37, 116).“

 

D. Fazit

Im Geschwindigkeitsbeschränkungs-Fall bestätigt und konkretisiert das BVerwG seine Entscheidung im Parkverbot-Fall. Zudem legt es den Grundstein für einige Folgeprobleme zur Frage, ob und wann ein Verkehrszeichen wirksam wird: Was meint das BVerwG mit der Formulierung, ein Verkehrsteilnehmer sei von dem Verwaltungsakt erst dann betroffen, “wenn er sich (erstmalig) der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht”?

Dieser Frage hatte sich das BVerwG sodann in einer weiteren klassischen Entscheidung aus dem Jahr 1996 zu widmen, die wir in der Folgewoche an dieser Stelle vorstellen werden.