
Haften Eltern für ihre Kinder im Straßenverkehr?
Sofern ein siebenjähriges Mädchen mit dem Fahrrad unter Nichtbeachtung der Verkehrsvorschriften einen Verkehrsunfall mit einem Pkw verursacht hat, haften dann die Eltern aufgrund einer Aufsichtspflichtverletzung nach § 832 BGB?
A. Sachverhalt
Die Klägerin K nimmt den Beklagten B, den Vater des unfallverursachenden siebenjährigen Kindes R aufgrund eines Verkehrsunfalls auf Schadensersatz in Anspruch. Der Ehemann der K befuhr mit dem Pkw der K eine Straße und an der Kreuzung hatte er -rechts vor links- Vorfahrt vor der mit dem Fahrrad heranfahrenden von links kommenden R. R fuhr schon einige Jahre Fahrrad und diesen Weg ist sie schon sehr häufig alleine gefahren. Sie hat auch schon an der schulischen Verkehrserziehung teilgenommen und auch mit den Eltern werden häufig Radtouren unternommen.
Der Ehemann der Kl. fuhr ordnungsgemäß an die Kreuzung heran. Als er sah, dass von rechts kein bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer kam, wollte er in die Kreuzung einfahren. Das Klägerfahrzeug war etwa einen Meter in den Kreuzungsbereich eingefahren, als sich von links die zu diesem Zeitpunkt siebenjährige Tochter des Bekl. (…) allein auf ihrem Fahrrad auf der Fahrbahn näherte. Das Mädchen wich dem Klägerfahrzeug nicht aus, sondern fuhr, obwohl der Ehemann der Kl. noch die Hupe betätigte, ungebremst gegen die Fahrerseite des Pkw. … Am Unfalltag regnete es.
K verlangt von B Schadensersatz i.H.v. 5.700 Euro aufgrund der Beschädigung des Pkw.
B. Entscheidung
K macht insofern einen Schadensersatzanspruch geltend.
Deliktische Ansprüche
In Betracht kommen nur deliktische Ansprüche.
I. § 832 I 1 BGB
K könnte von B die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 5.700 Euro für die Beschädigung des Pkw nach § 832 I 1 BGB verlangen. Voraussetzungen dafür sind:
Aufsichtsbedürftigkeit
Aufsichtspflicht
Widerrechtliche Schadenszufügung durch Aufsichtsbedürftige gegenüber einem Dritten
Gegebenenfalls Exkulpation, § 832 I 2 BGB
1. Aufsichtsbedürftigkeit
Zunächst müsste eine Aufsichtsbedürftigkeit gegeben sein. Nach § 832 I 1 BGB sind Minderjährige grundsätzlich aufsichtsbedürftig. R war sieben Jahre alt und somit minderjährig nach §§ 106, 2 BGB. Somit ist die Aufsichtsbedürftigkeit gegeben.
2. Aufsichtspflicht
Des Weiteren müsste eine Aufsichtspflicht bestehen. Nach § 832 I 1 BGB muss die Aufsichtspflicht für Minderjährige kraft Gesetzes bestehen. Diese Aufsichtspflicht obliegt den Personensorgeberechtigten und somit den Eltern nach §§ 1626 I BGB. B ist als Vater der R Inhaber der elterlichen Sorge. Demnach besteht für B eine Aufsichtspflicht.
3. Widerrechtliche Schadenszufügung durch Aufsichtsbedürftige gegenüber einem Dritten
Darüber hinaus müsste eine widerrechtliche Schadenszufügung durch die Aufsichtsbedürftige gegenüber einem Dritten erfolgt sein. Die Aufsichtsbedürftige R müsste also eine unerlaubte Handlung gegenüber K begangen haben nach § 823 I BGB. Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB setzt grundsätzlich voraus: Rechtsgutsverletzung, Handlung, haftungsbegründende Kausalität, Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (und gegebenenfalls Mitverschulden, § 254 BGB). Eines Verschuldens des Aufsichtsbedürftigen bedarf es nach § 832 I 1 BGB jedoch nicht. Vielmehr stellt der Tatbestand eine Haftung des Aufsichtspflichtigen für -sein- vermutetes Verschulden dar.
a) Rechtsgutsverletzung, Handlung, haftungsbegründende Kausalität, Rechtswidrigkeit
Die siebenjährige R ist mit ihrem Fahrrad gegen den Pkw von K gefahren, was zu einer entsprechenden Deformation an der Karosserie geführt hat. Damit hat sie mit ihrer Handlung eine Rechtsgutsverletzung -Eigentum- bei K herbeigeführt. Ihre Handlung war dafür auch ursächlich, sodass die haftungsbegründende Kausalität gegeben ist i.S.d. Äquivalenz- und Adäquanztheorie sowie nach dem Schutzzweck der Norm. Ferner war das Verhalten auch rechtswidrig. Im Straßenverkehr gilt an Kreuzungen mangels abweichender vorrangiger Regelungen rechts vor links. Der von dem Ehemann der K gefahrene Pkw kam von rechts und R von links. Damit war der Ehemann der K vorfahrtsberechtigt und R hätte dies beachten und ihr Fahrrad bremsen und anhalten müssen.
b) Schaden
Ferner müsste K ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann K den Differenzschaden als Schadensersatz verlangen. Das sind die Kosten für die Beschädigung des Pkw i.H.v. 5.700 Euro.
c) Haftungsausfüllende Kausalität
Die haftungsausfüllende Kausalität ist gegeben.
4. Exkulpation, § 832 I 2 BGB
Gegebenenfalls kann B sich jedoch exkulpieren. § 832 BGB begründet zwei Vermutungen und zwar zum einen, dass der Aufsichtspflichtige seine Aufsichtspflicht schuldhaft verletzt hat und dass die Verletzung der Aufsichtspflicht kausal für den entstandenen Schaden ist. Jedoch können diese Vermutungen widerlegt werden (Beweislastumkehr). Nach § 832 I 2 BGB tritt die Ersatzpflicht nicht ein, wenn der Aufsichtspflichtige seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
Der Maßstab der Aufsichtspflicht bei Minderjährigen bestimmt sich nach ständiger Rechtsprechung des BGH nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie dem örtlichen Umfeld. Miteinbezogen in die Abwägung werden das Ausmaß der drohenden Gefahren, die Vorhersehbarkeit schädigenden Verhaltens sowie die Zumutbarkeit etwaiger Maßnahmen für den Aufsichtspflichtigen ….
Die Grenzen der Aufsichtspflicht der Eltern bestimmen sich danach, welche Maßnahmen sie im Einzelfall treffen müssen, um Schädigungen von anderen Personen durch ihre Kinder zu vermeiden.
Im Straßenverkehr ist die Aufsichtspflicht dahingehend zu modifizieren, dass an diese aufgrund der drohenden schwerwiegenden Gefahren besondere Anforderungen zu stellen sind. Insbesondere sind Minderjährige über die Regeln und Gefahren des Straßenverkehrs besonders zu belehren und mit den zu befahrenden Strecken besonders vertraut zu machen …. Zur elterlichen Sorge gehört jedoch auch eine sinnvolle Hinführung des Kindes zu einem selbstständigen, verantwortungsbewussten und umsichtigen Verhalten im Verkehr. Dies ist jedoch nur möglich, wenn ein Kind auch altersgerecht angepasste Gelegenheiten bekommt, sich ohne ständige Beobachtung, Kontrolle und Anleitung selbst im Verkehr zu bewähren ….
Zwar dürfen jüngere Kinder ohne eine entsprechende Einweisung durch die Eltern etc. und die Belehrung über die Gefahren des Straßenverkehrs nicht selbstständig mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen.
Nach einer entsprechenden Belehrung über die Regeln und Gefahren sowie einer gewissen Erprobung müssen schulpflichtige Kinder aber gerade nicht mehr ständig beaufsichtigt werden…. Bereits Sechsjährige können ohne Begleitung radfahren, wenn genügend Erfahrung und Übung vorhanden ist und die Fahrten in vertrauter Umgebung stattfinden …, nicht jedoch, wenn das Kind mit einer unbekannten Situation oder Umgebung konfrontiert wird….
R wurde von ihren Eltern und im Rahmen der Verkehrserziehung über die Gefahren des Straßenverkehrs ausreichend informiert und belehrt. Sie wurde schon früh an das Fahrradfahren herangeführt. Den Weg, den sie am Unfalltag gefahren ist, ist sie auch schon sehr häufig alleine gefahren.
Vorliegend ergibt sich eine Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht auch nicht aus den Witterungsverhältnissen am Unfalltag. Zunächst bleibt festzuhalten, dass auch bei Regen Fahrrad gefahren werden kann. Dass es zum Unfallzeitpunkt so stark geregnet hat, dass die Sicht für einen Fahrradfahrer eingeschränkt oder die Fahrbahn zu rutschig war und der Bekl. … deshalb nicht hätte unbeaufsichtigt losfahren lassen dürfen, haben weder die Anhörung der Kl. noch die des Bekl. mit der nötigen Sicherheit ergeben.
Letztlich handelt es sich um
ein Augenblicksversagen der Siebenjährigen …, welches nicht auf den Witterungsverhältnissen beruhte. Ein Rückschluss auf eine Aufsichtspflichtverletzung des Bekl. lässt sich hieraus nicht ziehen.
Zwischenergebnis
B hat seiner Aufsichtspflicht genügt. Damit hat er sich exkulpiert.
Ergebnis
K kann von B nicht die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 5.700 Euro für die Beschädigung des Pkw nach § 832 I 1 BGB verlangen.
II. § 823 BGB
K könnte von B die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 5.700 Euro für die Beschädigung des Pkw nach § 823 I BGB verlangen.
Der Tatbestand ist neben § 832 BGB anwendbar. Aber es kann keine
über die Aufsichtspflicht des § 832 BGB hinausgehende bzw. weiter reichende Pflicht zur Sicherung des Verhaltens des Kindes … angenommen werden. Es fehlt nach dem Vorstehenden an einer objektiven Sorgfaltspflichtverletzung. Die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ist von dem Bekl. beachtet worden.
Ergebnis
K kann von B nicht die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 5.700 Euro für die Beschädigung des Pkw nach § 823 I BGB verlangen.
C. Prüfungsrelevanz
Das Deliktsrecht ist regelmäßig Prüfungsgegenstand. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um eine etwaige Aufsichtspflichtverletzung durch die Eltern im Rahmen eines Verkehrsunfalls durch ihre siebenjährige Tochter, während sie Fahrrad fuhr.
Die Entscheidung ist sehr prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, im Deliktsrecht mit § 832 I BGB einen Tatbestand für vermutetes Verschulden sowie anschließend die Entlastung zu prüfen und dabei die Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs nach § 823 I BGB einzubeziehen.
(LG Ingolstadt Urt. v. 14.6.2024 – 72 O 516/23 V)
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