
Keine starre Wortlautgrenze
Begriffe mit Beurteilungsspielraum sind maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägt. So ist es auch bei der Formulierung „möglichst weit rechts“ im Sinne des § 2 II StVO. Läuft Dir also in Deiner Klausur die Norm über den Weg, geht es darum, dass Du lebensnah und einzelfallbezogen argumentierst. Dabei hilft es Dir natürlich, wenn Du hierzu die aktuelle Rechtsprechung kennst. Wie das OLG Saarbrücken diesen Begriff in seiner aktuellen Entscheidung vom 13.12.2024 (Az. 3 U 23/24) auslegt und was es darunter versteht, erklären wir Dir in diesem Beitrag.
Was ist passiert?
A befuhr mit seinem Transporter VW T4 die C-Straße. B, der sich mit seinem Pkw auf der D-Straße befand, bog rechts in die C-Straße ein. Kurz vor der Kreuzung parkte auf der rechten Fahrbahnseite der C-Straße ein anderes Fahrzeug. Aus diesem Grund musste A mit seinem Transporter an diesem Fahrzeug vorbeifahren und scherte dazu auf die linke Fahrbahnseite aus. B, der in diesem Moment in die C-Straße einfuhr, konnte A, der sich gerade auf der Gegenfahrbahn befand und wieder auf seine Fahrbahn einscherte, nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Es kam zur Kollision der beiden Pkws.
A machte den entstandenen Schaden an seinem Pkw gerichtlich geltend und klagte auf Schadensersatz.
Rechtlicher Hintergrund
Das OLG Saarbrücken gab der Klage vollumfänglich statt. Dem Kläger stehe gemäß § 7 I StVG ein Anspruch auf Ersatz der Kosten zu.
Im Mittelpunkt dieser Entscheidung stand die Abwägung der Verursachungsbeiträge der jeweiligen Fahrer im Rahmen der Haftungsabwägung gemäß § 17 I und II StVG. Genauer ging es dabei um die Frage, ob A für seine einfache Betriebsgefahr haften muss, obwohl es ihm gemäß § 6 StVO erlaubt war, an dem auf seiner Fahrbahn befindlichen Hindernis vorbeizufahren. Hierauf gaben die Richter:innen in ihrer Entscheidung eine klare Antwort: Nein.
Das Gericht stützt sich in seiner Begründung maßgeblich auf § 2 II und § 6 StVO. Gemäß § 6 StVO habe A an dem auf seiner Fahrbahn befindlichen Hindernis vorbeifahren und hierfür den linken Fahrbahnstreifen benutzen dürfen. Das für den Gegenverkehr geltende Rücksichtnahmegebot gemäß § 6 StVO gelte indes nicht gegenüber B, weil dieser Schutz nicht dem einbiegenden Verkehr diene, so das OLG.
Darüber hinaus könne A auch kein Verstoß gegen § 6 StVO zur Last gelegt werden. Durch Befahren der linken Fahrseite sei A zwar nicht gemäß § 2 II StVO „möglichst weit rechts“ gefahren. Aus dem dort verankerten Rechtsfahrgebot könne jedoch nicht abgeleitet werden, dass „äußerst rechts“ oder „soweit technisch möglich rechts zu fahren“ sei. Hierbei handele es sich um einen Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum. Die Anforderungen an das Rechtsfahrgebot müssen daher unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Örtlichkeit, der Fahrbahnbreite und -beschaffenheit, der Fahrzeugart, eines vorhandenen Gegenverkehrs und der Sichtweite im konkreten Einzelfall bestimmt werden.
Demnach habe A bei seinem Ausweichvorgang auch nicht gegen § 2 II StVO verstoßen.
Letztlich sei ein Verstoß gegen § 2 II StVO aber auch unerheblich, da auch das Rechtsfahrgebot nicht dem Schutz des einbiegenden Verkehrs diene.
Daher trete die einfache Betriebsgefahr des A hinter den Verkehrsverstoß des B zurück. Ihm sei, so die Richter:innen, ein Verstoß gegen § 8 StVO zur Last zu legen. Gemäß § 8 II StVO hat an Kreuzungen und Einmündungen die Vorfahrt, wer von rechts kommt. In § 8 II S. IV StVO heißt es dann: „Wer die Vorfahrt hat, darf auch beim Abbiegen in die andere Straße nicht wesentlich durch den Wartepflichtigen behindert werden“. B hätte bei seinem Abbiegevorgang mit Gegenverkehr auf der eigenen Spur rechnen müssen.
Klausurrelevanz
Bei dem Anspruch aus § 7 I StVG gibt es im Wesentlichen zwei Klausurschwerpunkte. Zum einen das Tatbestandsmerkmal „bei Betrieb eines Kfz“ und zum anderen die Abwägung der Verursachungsbeiträge für die Bestimmung der Haftungsquote. Gerade an letzterem beißen sich die Prüflinge gerne mal die Zähne aus. Dabei kannst Du Dich auf diese Schwerpunkte gut vorbereiten und den Aufbau Deines Gutachtens trainieren. Das Merkmal „bei Betrieb eines Kfz“ wird maßgeblich durch die Rechtsprechung geprägt. Hier lohnt es sich, wenn Du „up to date“ bist.
Innerhalb Deiner Haftungsabwägung ist es wichtig, dass Du Dir die Systematik des § 17 StVG einprägst und kennst. Hier musst Du Dich an die richtige Prüfungsreihenfolge der jeweiligen Absätze halten.
Diese Thematik eignet sich sowohl im ersten Examen als auch im zweiten Examen gut, um spezialgesetzliche Ansprüche mit Vorschriften des allgemeinen Schuldrechts zu kombinieren. In diesem Zusammenhang solltest Du immer an eine ausführliche Prüfung des Schadens denken.
Sollte Dir ein solcher Sachverhalt in einer Zwischenprüfungsklausur in der Uni über den Weg laufen, solltest Du keine Panik bekommen. Da Du in der Regel noch mit dem dtv Gesetzestext zum BGB arbeitest und dort die Vorschriften zur StVO und zum StVG nicht enthalten sind, werden Dir von den Prüfungsämtern die relevanten Vorschriften mit abgedruckt. Jackpot für Dich, weil Du weißt, in welchen Normen der StVO die Musik spielen soll.
Resümee
Diese Entscheidung zeigt Dir mal wieder, dass die Vorschriften der StVO stets einzelfallbezogen beurteilt werden müssen und sich eine starre Anwendung dieser Gebote verbietet. Bei Vorgängen des alltäglichen Lebens wie denen des Straßenverkehrs ist es umso wichtiger, dass Du lebensnah argumentierst und eine praktische Lösung findest. Den Beteiligten ist nicht geholfen, wenn Du Dich in gelernten Meinungsständen verlierst. Gerade bei solchen Fällen ist es wichtig, dass Du Dich von allgemeinen Grundsätzen löst und anfängst, mit Deinem juristischen Handwerkszeug zu arbeiten und zu argumentieren. Stell Dir vor, dass Du der oder die Beteiligte bist und was Du von einem Richter oder einer Richterin erwarten würdest.
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