Wie sind die Anforderungen an die handelsrechtliche Mängelrüge nach § 377 HGB?
Im Falle des Vorliegens eines Sachmangels kann der Käufer Schadensersatz verlangen, nicht jedoch beim beiderseitigen Handelskauf bei Verletzung der Rügeobliegenheit nach § 377 HGB. Bei fehlender Berücksichtigung des Kernvorbringens einer Partei liegt ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 I GG vor.
A. Sachverhalt
Die Klägerin K bestellte bei der Beklagten B 15 Tonnen Jalapenos (Paprikaschoten) für die Herstellung von Chili-Cheese-Nuggets. Beide sind Kaufleute. Die Lieferungen erfolgen im August und September 2017. Kurz vor Abschluss der Produktion stellte K am 13.10.2017 ein scharfkantiges Kunststoffteil zwischen den Jalapenos fest.
Noch am selben Tag übersandte sie der Beklagten Fotos per E-Mail. Im Text der Nachricht heißt es unter dem Betreff “Fremdkörper”: “anbei die Fotos zur Fremdkörper-Reklamation. Bitte geben Sie mir dazu ein kurzes Feedback”. Die beigefügten Fotos zeigen ein schwarzes Plastikteil zwischen tiefgefrorenen Jalapeños-Scheiben, einen Paketaufkleber für einen 10 kg-Karton mit den Angaben “GE805”, Produktionsdatum 08. November 2016, Mindesthaltbarkeitsdatum 08. November 2018 und einer “Lot Nr. M2261108” sowie einen Schein über die Tiefkühleinlagerung von 7.280 kg mit Einlagerdatum 20. September 2017, Mindesthaltbarkeitsdatum 08. November 2018 und Chargennummer 201709020-1701655.
K sperrte die hergestellten Produkte für den Kauf und rief die ausgelieferte Ware zurück.
Am 26. Oktober 2017 teilte die Beklagte unter Bezugnahme auf die “Reklamation der von uns gelieferten GE805 - Jalapeños grün in Scheiben” in einer E-Mail an die Klägerin mit, dass sie nach Rücksprache mit ihrem Lieferanten einen Fremdkörperbefund nicht ausschließen könne.
K verlangt von B Schadensersatz für die bereits produzierten und nicht mehr verkaufsfähigen Chili-Cheese-Nuggets.
B. Entscheidung
K macht insofern einen Schadensersatzanspruch geltend.
Vertraglicher Anspruch
K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung nach §§ 437 Nr. 3, 280 I 1, III, 281 I 1 BGB haben.
(Vertragliche Primäransprüche, welche aus Sicht des Käufers auf Erfüllung nach § 433 I 1 BGB gerichtet sind, kommen nicht in Betracht. Bei dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch im Rahmen des Gewährleistungsrechts handelt es sich um einen vertraglichen Sekundäranspruch.)
Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs nach §§ 437 Nr. 3, 280 I 1, III, 281 I 1 BGB sind:
I. Kaufvertrag
II. Gewährleistungsgrund bei Gefahrübergang
III. Kein Gewährleistungsausschluss
IV. Rechtsfolge: Schadensersatz
V. Durchsetzbarkeit
I. Kaufvertrag
Zwischen K und V ist ein entsprechender Kaufvertrag über 15 Tonnen Jalapenos (Paprikaschoten) geschlossen worden, § 433 BGB.
II. Gewährleistungsgrund bei Gefahrübergang
Ferner müsste ein Gewährleistungsgrund, also ein Sachmangel nach § 434 BGB, bei Gefahrübergang bestanden haben.
1. Sachmangel
Gem. § 434 I BGB ist die Sache frei von Sachmängeln, wenn sie bei Gefahrübergang den subjektiven Anforderungen, den objektiven Anforderungen und den Montageanforderungen dieser Vorschrift entspricht. Damit besteht ein Gleichrang dieser Fehlerbegriffe. Um eine mangelfreie Sache handelt es sich nur, wenn alle Kriterien kumulativ erfüllt sind. Ein Sachmangel liegt vor bei einer negativen Abweichung der Ist-Anforderungen von den Soll-Anforderungen. Vorliegend könnten die gelieferten 15 Tonnen Jalapenos (Paprikaschoten) den objektiven Anforderungen nicht entsprechen.
Vorbehaltlich einer abweichenden Vereinbarung entspricht die Sache den objektiven Anforderungen nach § 434 III 1 Nr. 1 BGB, wenn sie sich für die gewöhnliche Verwendung eignet. Eine Eignung zur gewöhnlichen Verwendung ist objektiv zu beurteilen. Lebensmittel müssen verzehrtauglich sein und dürfen keine gesundheitsschädlichen Inhaltsstoffe bzw. Fremdkörper enthalten. Ein scharfkantiges Plastikteil ist nicht für den Verzehr geeignet.
Dementsprechend liegt ein Sachmangel nach § 434 III 1 Nr. 1 BGB vor.
2. Bei Gefahrübergang
Dieser Sachmangel lag bei der Übergabe und somit bei Gefahrübergang nach § 446 S. 1 BGB vor.
III. Kein Gewährleistungsausschluss
Es dürfte kein Gewährleistungsausschluss vorliegen. Ein vertraglicher Gewährleistungsausschluss ist nicht gegeben. Allerdings kommt ein gesetzlicher Gewährleistungsausschluss in Betracht. Ein Ausschluss nach § 442 I 1 BGB besteht nicht, da K den Mangel bei Vertragsschluss nicht kannte. Die Gewährleistungsrechte von K könnten aber nach § 377 I, III HGB im Falle der Verletzung einer Rügeobliegenheit ausgeschlossen sein, sofern der Mangel als genehmigt gilt. Die Voraussetzungen des § 377 HGB sind:
1. Beiderseitiges Handelsgeschäft, §§ 343, 344 HGB
2. Ablieferung der Ware
3. Mangel
4. Unverzügliche Untersuchung und unverzügliche Anzeige
1. Beiderseitiges Handelsgeschäft, §§ 343, 344 HGB
Es handelte sich für beide Seiten um ein Handelsgeschäft nach §§ 343 I, 344 I HGB.
2. Ablieferung der Ware
Die Ware wurde im August und September abgeliefert.
3. Mangel
Ein Mangel lag ebenfalls vor. (s.o.; Vertretbar wäre es aufgrund der Fiktion in § 377 II, III HGB auch, den Ausschluss nach § 377 HGB oben beim Sachmangel zu prüfen.)
4. Unverzügliche Untersuchung und unverzügliche Anzeige
Fraglich ist, ob K die Ware unverzüglich untersucht und den Mangel unverzüglich angezeigt hat im Sinne des § 377 HGB. Unverzüglich bedeutet nach § 121 I 1 BGB ohne schuldhaftes Zögern. K hat den Mangel am 13.10.2017 entdeckt und sogleich angezeigt, die Ware allerdings schon im August und September erhalten. Von daher kann man an der Unverzüglichkeit zweifeln. Nach § 377 I HGB gilt die unverzügliche Untersuchungspflicht allerdings nur, soweit die nach ordnungsgemäßem Geschäftsgang tunlich ist. Dies dürfte erst im Rahmen der Produktion erforderlich gewesen sein, sodass die Voraussetzungen erfüllt sein dürften bzw. nach § 377 III HGB, sofern sich ein Mangel später zeigt.
Sofern das Berufungsgericht einen Gewährleistungsausschluss nach § 377 I, III HGB annimmt aufgrund einer fehlenden ordnungsgemäßen Anzeige (=Rüge) des Mangels, hat der BGH einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 I GG festgestellt.
Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen …. Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben…
In den Entscheidungsgründen müssen die wesentlichen Tatsachen- und Rechtsausführungen verarbeitet werden. Wenn ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang von entscheidender Bedeutung ist, besteht für das Gericht eine Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu würdigen und in den Entscheidungsgründen hierzu Stellung zu nehmen. Ein Schweigen lässt hier den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde…
Insofern
kam dem …Vortrag der Klägerin entscheidende Bedeutung zu, wonach die Beklagte mit der als Anlage eingereichten E-Mail vom 26. Oktober 2017 über die aufgrund der Beanstandung von ihr zwischenzeitlich ergriffenen Maßnahmen zur Aufklärung und Untersuchung des beanstandeten Fremdkörperbefunds berichtet hat….
Auf dieses zentrale Vorbringen zum (tatsächlichen) Verständnis der Beklagten hinsichtlich der ihr übermittelten Informationen … sowie zu den von ihr auf dieser Grundlage veranlassten Untersuchungen, Nachforschungen und möglichen Abhilfen ist das Berufungsgericht nicht eingegangen. Vielmehr hat es seine Würdigung, wonach für den Empfänger einer solchen Mängelrüge nicht erkennbar sei, was der Käufer konkret beanstande, allein auf allgemeine Erwägungen zu einem möglichen Aussagegehalt der den Lichtbildern entnehmbaren Informationen gestützt, ohne sich hierbei (erkennbar) mit dem seitens der Klägerin konkret gehaltenen Vortrag zum tatsächlichen Verständnishorizont der Beklagten auseinanderzusetzen. …Setzt sich ein Gericht mit einem Parteivortrag nicht inhaltlich auseinander, sondern mit Leerformeln über diesen hinweg, ist das im Hinblick auf die Anforderungen aus dem Verfahrensgrundrecht nach Art. 103 I GG nicht anders zu behandeln als ein kommentarloses Übergehen des Vortrags …
Demnach liegt kein Ausschluss des Gewährleistungsrechts nach § 377 I, III HGB vor.
(Weitere Ausführungen hat der BGH nicht mehr vorgenommen, da er die Entscheidung des Berufungsgerichts aufgehoben und zur weiteren Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen hat.)
IV. Rechtsfolge: Schadensersatz
Als Rechtsfolge könne K nach §§ 437 Nr. 3, 280 I 1, III, 281 I 1 BGB Schadensersatz statt der Leistung verlangen. Gem. §§ 437 Nr. 1, 439 I BGB ist der Käufer zunächst verpflichtet, Nacherfüllung zu verlangen. Dabei steht dem Käufer grundsätzlich das Wahlrecht zwischen Mangelbeseitigung oder Nachlieferung zu, es sei denn es liegt ein Fall von § 275 I, II, III BGB oder § 439 IV BGB vor. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Nacherfüllung (vgl. § 440 BGB) kann der Gläubiger Schadensersatz gem. § 437 Nr. 3 BGB verlangen jeweils unter Verweis auf die angegebenen Vorschriften.
Zudem müsste K einen Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, erlitten haben. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann Schadensersatz verlangt werden. Als Schadenspositionen werden die Kosten für die bereits produzierten und nicht mehr verkaufsfähigen Chili-Cheese-Nuggets geltend gemacht.
V. Durchsetzbarkeit
Gewährleistungsansprüche sind z.B. nicht durchsetzbar, wenn ein Fall der §§ 275 II, III, 439 IV BGB gegeben ist oder sie verjährt sind. Die Verjährung der Mängelansprüche ist in § 438 BGB geregelt. Gem. § 438 I Ziff. 3, II BGB verjähren diese in 2 Jahren nach Ablieferung. Die Ansprüche sind noch nicht verjährt und somit durchsetzbar.
Ergebnis
K hat gegen B einen Schadensersatzanspruch statt der Leistung nach §§ 437 Nr. 3, 280 I 1, III, 281 I 1 BGB.
C. Prüfungsrelevanz
Das Gewährleistungsrecht des Kaufrechts ist ein großer Schwerpunkt der Examensklausuren. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um einen gesetzlichen Gewährleistungsausschluss nach § 377 HGB sowie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 I GG.
Die Entscheidung ist höchst prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, sich mit den üblichen Fragestellungen des Leistungsstörungsrechts in Verbindung mit den Besonderheiten des Handelsrechts auseinanderzusetzen.
(BGH Beschl. v. 23.04.2024 – VIII ZR 35/23)
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