OVG Münster zur Haltung eines Hahns im Allgemeinen Wohngebiet

OVG Münster zur Haltung eines Hahns im Allgemeinen Wohngebiet

„Bigfoot muss weichen“

Der BauNVO kommt eine doppelte rechtliche Bedeutung zu: Bebauungspläne dürfen nur Festsetzungen enthalten, die in § 9 BauGB aufgeführt sind. Bezogen auf Art, Maß und überbaubarer Grundstücksfläche erfährt § 9 Nr. 1 und Nr. 2 BauGB eine Konkretisierung durch die BauNVO (§§ 1 ff, 16 ff, 22 f). Weicht ein Bebauungsplan von ihren Typisierungen ab, ohne dass dies durch § 1 BauNVO gestattet ist, ist er rechtswidrig und mangels Überwindung eines derartigen Fehlers auch nach Prüfung der §§ 214, 215 BauGB ungültig.

Zugleich geben die Begriffe der BauNVO Auskunft über die planungsrechtliche Zulässigkeit von Grundstücksnutzungen (§ 1 III 2 BauNVO), wichtig für die Anwendung der §§ 30, 31, 34 II BauGB im Rahmen bauordnungsrechtlicher Maßnahmen (Baugenehmigung, Bauordnungsverfügung).

Das OVG Münster (29.05.2024 – 10 B 368/24) hat im Rahmen eines vorläufigen Rechtsschutzverfahrens gegen eine Bauordnungsverfügung die Entscheidung der Vorinstanz (VG Düsseldorf, Beschluss vom 08.04.2024, 4 L 2878/23) bestätigt, wonach die Haltung eines Hahns in einem „Allgemeinen Wohngebiet“ (§ 4 BauNVO) verboten werden kann.

A. Vereinfachter Sachverhalt

A ist Eigentümer eines Wohngrundstücks in einem ehemaligen Kleinsiedlungsgebiet der Stadt B. Die Grundstücke sind relativ klein zugeschnitten und von der Stadt vor einigen Jahren mit einem Bebauungsplan als „Allgemeines Wohngebiet“ überplant worden. In seinem rückwärtigen Gartenbereich (220 m² große Fläche) unterhält A ein Stallgebäude mit vier Hennen und einem Hahn. Das Krähen des Hahnes hat Nachbar N veranlasst, sich bei der Stadt B als Trägerin der Bauaufsicht zu beschweren.

Die Bauaufsicht hat nach Anhörung der Beteiligten und Durchführung eines Ortstermins angeordnet, die Haltung des (angetroffenen) Hahns „Bigfoot“ auf dem Grundstück einzustellen und den Hahn innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung des Bescheides vom Grundstück zu entfernen. Sie hat ihren Bescheid damit begründet, dass die Kleintierhaltung im Wohngebiet nicht über den Rahmen einer für Wohnnutzung typischen Freizeitbetätigung hinausgehen darf, was aber bei einem Hahn angesichts der von ihm ausgehenden erheblichen Geräuschbelästigungen (kurzfristige, aber kräftige Lärmimpulse) der Fall sei. Diese Verfügung hat die Stadt formell ordnungsgemäß mit besonderer Begründung für sofort vollziehbar erklärt.

A hat gegen die Verfügung Widerspruch eingelegt und beim Verwaltungsgericht beantragt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs herzustellen. Er verweist darauf, dass der Hahn zur artgerechten Hühnerhaltung erforderlich sei (Schutz vor Greifvögeln und Disziplinierung seiner Hennen). Zudem sei die Eierproduktion eine wichtige Stütze seiner auf eine nachhaltige Ernährung durch Eigenversorgung ausgerichteten Freizeitbeschäftigung. Da der Bebauungsplan Nebennutzungen nicht ausgeschlossen habe, könne sein Hobby auch nicht verboten werden.

Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?

B. Entscheidung

Der Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit des Gerichts

A hat das Verwaltungsgericht angerufen. Es verweist den Rechtsstreit, wenn es nicht zuständig ist (§§ 17a II GVG, 83 VwGO).

a) Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 I VwGO eröffnet, weil die beanstandeten Maßnahmen auf der LBauO und dem BauGB beruhen und damit auf Vorschriften, die die Bauaufsichtsbehörde einseitig zu einem hoheitlichen Handeln berechtigen.

b) Sachlich zuständig ist im Eilverfahren das Gericht der Hauptsache. Dies wäre bei Anfechtung der Bauordnungsverfügung nach § 45 VwGO das Verwaltungsgericht.

Das Verwaltungsgericht ist somit im angestrebten Eilverfahren zur Sachentscheidung zuständig.

2. Verfahrensart

Statthafte Verfahrensart könnte ein Antrag nach § 80 V 1 VwGO sein. Grundsätzlich erfolgt ein Eilverfahren über die einstweilige Anordnung nach § 123 I VwGO. Das ist nur anders, wenn es – wie im vorliegenden Fall – um die Suspendierung eines Verwaltungsaktes oder (gegenläufig) um die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes in einer mehrpoligen Beziehung geht (vgl. § 123 V VwGO).

Der auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsverfügung gerichtete Antrag des A an das VG ist nach § 80 V 1 VwGO statthaft.

3. Antragsbefugnis

Auch wenn die VwGO, anders als in §§ 42, 47 VwGO, dies nicht ausdrücklich erwähnt, gilt das „Verbot der Popularklage“ als allgemeiner Rechtsgedanke und so auch für Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz. Das für die Antragsbefugnis erforderliche subjektive Recht des A als Adressaten einer belastenden Ordnungsverfügung leitet sich aus Art. 14 I GG ab.

4. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis kann A nicht abgesprochen werden. Er hat Widerspruch eingelegt, der entgegen § 80 I VwGO keine aufschiebende Wirkung hat (§ 80 II 1 Nr. 4 VwGO), sodass A auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts angewiesen ist.

II. Begründetheit

Ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung (§ 80 II 1 Nr. 4 VwGO) nicht ordnungsgemäß erfolgt, hebt das Verwaltungsgericht die behördliche Anordnung auf mit der Folge, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des A nach § 80 I VwGO eintritt.

Ist hingegen – wie im vorliegenden Fall – die sofortige Vollziehung von der Behörde ordnungsgemäß begründet worden, kann das VG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nur herstellen, wenn das Aussetzungsinteresse des Antragstellers dem behördlichen Interesse an einer vorzeitigen Vollziehung des Verwaltungsaktes vorgeht. Dabei kommt es auf die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache und somit maßgeblich auf eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung an. Das VG Düsseldorf als Vorinstanz hat zu der danach erforderlichen Abwägung in seinem Beschluss vom 08.04.2024 ausgeführt (Rn. 9):

„Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes - wie hier - allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als zu Lasten des Antragstellers offensichtlich rechtswidrig, überwiegt grundsätzlich das private Aussetzungsinteresse die gegenläufigen öffentlichen und bzw. oder privaten Vollzugsinteressen. Stellt sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Lässt sich hingegen bei summarischer Überprüfung eine Offensichtlichkeitsbeurteilung nicht treffen, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den für eine sofortige Vollziehung sprechenden Interessen einerseits und dem Interesse des Betroffenen an einer Aussetzung der Vollziehung bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren andererseits an. Auch unabhängig von einer fehlenden Offensichtlichkeit sind dabei die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs einzubeziehen. Je höher diese sind, umso größer ist das Interesse an der aufschiebenden Wirkung. Sind die Erfolgsaussichten demgegenüber gering, fällt das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts stärker ins Gewicht. Bei offenem Ergebnis der Prüfung der Erfolgsaussichten oder wenn mit Blick etwa auf die Kürze der dem Gericht zur Verfügung stehenden Zeit eine Abschätzung der Erfolgsaussichten nicht angezeigt erscheint, kann auf der Grundlage einer reinen Interessenabwägung entschieden werden.“

1. Ermächtigungsgrundlage

Rechtsgrundlage für das Verbot ist die bauordnungsrechtliche Generalklausel, wonach die Bauaufsichtsbehörde baurechtswidrige Nutzungen, die nicht durch eine wirksame Baugenehmigung legalisiert sind, untersagen kann. Demgegenüber scheiden die speziellen Ermächtigungsgrundlagen für Stilllegungsverfügungen und Beseitigungsverfügungen aus, weil es nicht um ein unzulässiges Bauvorhaben geht.

§ 47 LBO BW; Art. 54 BayBO; §§ 58 BauO Bln; § 58 BbgBO; § 58 BremLBO; § 58 HBauO; § 61 HBO; § 58 LBauO MV; § 79 NBauO; §58 BauO NRW; § 59 LBauO RP; § 57 LBO Saarl; § 58 SächsBO; § 57 BauO LSA; § 58 LBO SH; § 58 ThürBO

2. Voraussetzungen

Die Bauaufsichtsbehörde hat nach Anhörung der Beteiligten und damit formell ordnungsgemäß die Ordnungsverfügung erlassen. Der Verwaltungsakt ist materiell rechtmäßig, wenn die Nutzung des Stallgebäudes mit einem Hahn im Zusammenhang mit den dort auch gehaltenen, aber nicht beanstandeten Hennen, „öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ des Baurechts widerspricht. Die Anforderungen des materiellen Bauordnungsrechts (§§ 3 ff LBO) stehen der Nutzung offenbar nicht entgegen. Die planungsrechtliche Zulässigkeit beurteilt sich nach den Festsetzungen des Bebauungsplans, wobei offenbleiben kann, ob es sich um einen qualifizierten (§ 30 I BauGB) oder um einen einfachen Bebauungsplan handelt (vgl. § 30 III BauGB).

Die Regelbebauung richtet sich in einem „Allgemeinen Wohngebiet“ nach § 4 II BauNVO. Die Zulässigkeit von Nebennutzungen ist nach §§ 12-14 BauNVO zu beurteilen.

a) Nebenanlage

Nach § 14 I 1 BauNVO sind untergeordnete Nebenanlagen zulässig, die dem baugebietsbezogenen Nutzungszweck des Grundstücks dienen und nicht seiner Eigenart widersprechen. Dazu kann auch Kleintierhaltung zählen (§ 14 I S 2 BauNVO).

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf kommt in seinem Beschluss vom 08.04.2024 zu dem Ergebnis, dass der Hahn zwar einer untergeordneten Kleintierhaltung zurechenbar ist, aber wegen seines Störpotenzials der Eigenart des Gebiets widerspricht

Rn 17 „Für Wohngebiete bedeutet dies, dass die Kleintierhaltung den Rahmen der für eine Wohnnutzung typischen Freizeitbetätigung nicht sprengen darf. Zum anderen hängt die Zulässigkeit von Anlagen und Einrichtungen für die Kleintierhaltung aber auch davon ab, dass sie nicht der Eigenart des Gebiets widersprechen; denn auch für diese Anlagen bleibt nach § 14 Abs. 1 Satz 2 BauNVO 1977 dessen Satz 1 unberührt, wonach sämtliche Nebenanlagen der Eigenart des Gebiets nicht widersprechen dürfen.“

Rn 19 „Was die geforderte Unterordnung unter den Hauptzweck des Grundstücks oder des Baugebiets anbelangt, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass bei typisierender Betrachtungsweise das Halten von - ungefährlichen - Kleintieren den Rahmen der für eine Wohnnutzung erforderlichen typischen Freizeitbeschäftigung - je nach Art und Anzahl der Tiere - nicht sprengt.“

Rn 24 „Nach § 14 Abs. 1 Sätze 1 und 2 BauNVO 1977 ist zusätzlich die Vereinbarkeit der betreffenden Kleintierhaltung mit der Eigenart des betroffenen Wohngebiets erforderlich. Für diese Prüfung ist eine Betrachtung des Einzelfalles anzustellen, die auf die jeweilige örtliche Situation wie Lage und Größe der Grundstücke im Baugebiet oder die Bebauungsdichte abzustellen sowie Art, Zahl und Störpotential der Tiere und die Haltungsbedingungen zu berücksichtigen hat.“

Rn 32 „Die Antragsgegnerin hat zutreffend darauf abgestellt, dass ausgehend von diesen Bedingungen mit der Haltung eines Hahnes in zentraler Lage des Baugebietes bei den relativ kleinen Grundstückszuschnitten infolge der Innenverdichtung ein Störpotential verbunden ist, dass mit dieser konkreten Eigenart des Baugebiets nicht vereinbar ist.“

b) Abweichender Bebauungsplan

Der Bebauungsplan kann die Zulässigkeit von Nebenanlagen einschränken und ausschließen (§ 14 I S 4 BauNVO). Das ist hier nicht geschehen. Das könnte für die Zulässigkeit der Nutzung sprechen. Dazu das OVG Münster in seinem Beschluss vom 29.05.2024:

Rn 13 „Nach dieser Vorschrift „kann“ im Bebauungsplan die Zulässigkeit der Nebenanlagen und Einrichtungen eingeschränkt oder ausgeschlossen werden. Dem Plangeber wird damit lediglich eine Regelungsmöglichkeit eröffnet. Nutzt er diese nicht, schließt dies aber die Anwendung von § 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 BauNVO - auch durch die Bauaufsichtsbehörde der Antragsgegnerin - keinesfalls aus“.

Rn 16 „An der gebotenen baurechtlichen Prüfung der Zulässigkeit der Tierhaltung und mithin der auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und 2 BauNVO gestützten Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorbei geht das weitere Vorbringen der Antragsteller, die Haltung des Hahns erfolge im Rahmen einer artgerechten und nachhaltigen Hühnerhaltung, weil der Hahn in der Gruppe für Ruhe sorge und diese vor Angriffen aus der Luft durch Greifvögel beschütze. Gleiches gilt für den Wunsch der Antragsteller, den „Gedanken der Nachhaltigkeit“ auch in einem allgemeinen Wohngebiet leben zu wollen, indem sie sich mit Eiern aus der eigenen Haltung versorgten…, zumal es dazu keines Hahns bedarf.“

Die Ordnungsverfügung erweist sich als rechtmäßig. Das Vollziehungsinteresse geht bei der gebotenen Abwägung vor, zumal andernfalls durch die Suspendierung ein baurechtswidriger Zustand perpetuiert würde, der – mit Blick auf die Dauer des Hauptsacheverfahrens – zu irreparablen Geräuschbelastungen führt.

Ergebnis

Der Antrag des A wird abgelehnt.

(OVG Münster Beschluss vom 29.05.2024 (10 B 368/24))

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