Die juristischen Auslegungsmethoden im Einsatz
Während die Möglichkeiten zur Begehung von Straftaten im letzten Jahrhundert (beispielsweise im digitalen Raum) massiv angewachsen sind, ist auch der Gesetzgeber hinsichtlich seiner Ermittlungsmaßnahmen nicht gänzlich untätig geblieben. Unter anderem wegen der europäischen Gesetzgebungsdynamik hat sich zwar in den 2010er-Jahren um den § 100g StPO einiges getan, jedoch sind entsprechende Fälle in den Klausuren bisher eher rar gesät. Das Potenzial, dies zu ändern, ergibt sich für die Prüfungsämter allerdings mit der Inspiration aus dem BGH-Beschluss vom 10.01.2024 (Az. 2 StR 171/23).
Sachverhalt und Entscheidung des LG Frankfurt am Main
Der Angeklagte wurde vom LG Frankfurt am Main unter anderem wegen Diebstahls mit Waffen in drei Fällen, davon einem Versuch, verurteilt, weil er nach den Feststellungen des Gerichts im Herbst und Winter 2019/2020 verschiedene Gelegenheiten nutzte, um stehlenswertes Gut zu entwenden. Die Überzeugung hinsichtlich der Täterschaft des Angeschuldigten gewann das Gericht neben weiteren Indizien auch durch eine Funkzellenabfrage i.S.d. § 100g III StPO, die ergab, dass der Angeklagte sich zur Tatzeit innerhalb der nächstgelegenen Funkzelle aufhielt. Diese Ermittlungsmaßnahme wurde von der zuständigen Staatsanwaltschaft auf Grundlage des im Raum stehenden Verdachts wegen eines besonders schweren Falls des Diebstahls nach §§ 242, 243 StGB beim zuständigen Ermittlungsrichter beantragt. Auf den ermittlungsrichterlichen Beschluss wurden sodann alle erhobenen und gespeicherten Verkehrsdaten, bei mobilen Anschlüssen unter anderem auch die Standortdaten, genutzt. Um eine Tat im Nachgang aufklären zu können, wurden bei der Funkzellenabfrage somit retrograde Standortdaten erhoben, da es sich dabei um Daten handelt, die in der (nahen) Vergangenheit bereits angefallen sind, und die damit gerade nicht in Echtzeit erhoben werden. Im Folgenden geriet der spätere Angeklagte in das Visier der Ermittelnden. Die Inhalte der Funkzellenauswertung wurden im Selbstleseverfahren und durch die Vernehmung eines Polizeibeamten entgegen dem Widerspruch des Verteidigers in die Hauptverhandlung eingeführt, sodass der Angeklagte schließlich zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt wurde.
Gegen dieses erstinstanzliche Urteil des LG Frankfurt am Main richtete sich der Angeklagte mit der Revision. Im Wesentlichen stützt er sich hierbei auf die Verfahrensrüge, das LG habe die gewonnenen retrograden Standortdaten aus einer Funkzellenabfrage im Rahmen der Urteilsgründe in rechtsfehlerhafter Weise verwertet.
Entscheidung des BGH
Der zweite Strafsenat befasste sich anlässlich der Revision des Angeklagten im Detail mit den rechtlichen Anforderungen an die Funkzellenabfrage und kam zu dem Ergebnis, dass ihre Voraussetzungen hinsichtlich einer Tat (zu Lasten eines Kioskbetreibers) nicht vorgelegen hätten. Insofern drang die Verfahrensrüge des Angeklagten durch. Das Gericht sah einen Verstoß gegen § 100g III 1 StPO i.V.m. § 100g I 3 StPO und § 100g II StPO und nahm entsprechend ein Beweiserhebungsverbot an. Anders als das LG annahm, bedürfe es zur rechtmäßigen Anordnung der Funkzellenabfrage im Zeitpunkt ihrer Anordnung ein Verdacht einer besonders schweren Straftat nach § 100g II StPO, weil der § 100g III 1 StPO so zu verstehen sei, dass die Verweisung auf § 100g I Nr. 1 StPO auch den in 2019 neu eingefügten § 100g I 3 StPO umfasse. Der besonders schwere Diebstahl gem. §§ 242, 243 StGB stellt eine solche Katalogtat nach § 100g II StPO nicht dar.
Dass dieses Ergebnis vom BGH anhand der juristischen Auslegungsmethoden erarbeitet wurde, untermauert erneut, dass diese Arbeitstechnik in der juristischen Ausbildung keinesfalls zum Selbstzweck eingeübt wird. Bereits der Wortlaut des § 100g III 1 StPO lege nahe, dass der Verweis sich nicht nur auf § 100g I Nr. 1 StPO beziehe, sondern auch die weiteren Anforderungen der retrograden Standortdatenerhebung umfassen soll. Hierüber käme man sodann zum § 100g II StPO. Da die Funkzellenabfrage zudem als „Erhebung aller in der Funkzelle angefallenen Verkehrsdaten“ legaldefiniert werde, enthielte sie rein denklogisch bereits retrograde, also bereits angefallene, Standortdaten.
Die eigentliche Verwirrung um die Anforderungen der Funkzellenabfrage resultiert aus der Gesetzeshistorie, die der Senat in seinem Beschluss umfassend skizzierte. Durch die starken Veränderungen des § 100g StPO, die sich unter anderem aufgrund der Umsetzung europäischer Richtlinien und entsprechender Rechtsprechung ergaben, gelangte die Norm zu seiner heutigen Gestalt. Die ursprüngliche, bereits 2015 gehegte Intention des Gesetzgebers, die Erhebung von Standortdaten strenge Anforderungen aufzuerlegen, gelte laut BGH bis heute fort.
Den systematischen Gesichtspunkten könne nach Ansicht der Richter kein eindeutiges Ergebnis entnommen werden: Zwar nenne der § 100g III 1 StPO den § 100g II StPO gerade nicht ausdrücklich, jedoch könne der Verweis auf § 100g I 1 StPO sachgedanklich bereits ein Verweis auf § 100g III 1 StPO mitgedacht werden, da die beiden letzten Normen durch das gesetzgeberische Regelungskonzept untrennbar miteinander verbunden seien.
Die Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm lieferte wiederum ein eindeutigeres Ergebnis. Hierzu erarbeiteten die Richter den Unterschied zwischen der retrograden Standortdatenerhebung nach § 100g I 3 StPO und der Funkzellenabfrage nach § 100g III StPO: Während erstere sich auf eine konkrete Zielperson fokussiere und zur Ermittlung seines Standortes herangezogen werde, richte die Funkzellenabfrage den Blick weg vom Individuum auf ein konkretes räumliches Gebiet, in dem sich eine Vielzahl von aufgehalten haben könnten. Daher verfolge das Ermittlungsinstrument der Funkzellenabfrage einen weitreichenderen Ansatz, der genauso wie die Standortdatenerhebung zur Erstellung von partiellen Bewegungsprofilen genutzt werden könnte. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit sei für die Funkzellenabfrage daher jedenfalls die strengen Anforderungen des § 100g I 3 StPO anzulegen. Folglich sei die Ermittlung auf die in § 100g II 2 StPO aufgeführten Katalogtaten begrenzt.
Aufgrund der im konkreten Fall fehlenden Katalogtat nimmt der BGH ein Beweiserhebungsverbot bezüglich der Erkenntnisse aus der Funkzellenabfrage an. Aus diesem Beweiserhebungsverbot folge zudem auch ein Beweisverwertungsverbot. Die Situation sei mit der rechtswidrig angeordneten Telekommunikationsüberwachung nach § 100a StPO vergleichbar, nach der die gewonnenen Beweismittel bei bereits anfänglichem Fehlen eines Verdachts bezüglich einer Katalogtat ebenfalls nicht verwertet werden könnten. Das Gericht gab zu bedenken, dass schließlich in beiden Fällen mit der Katalogtat eine besondere wesentliche sachliche Voraussetzung bereits von vornherein nicht gegeben sei.
Auf die Revision wurde das Urteil bezüglich der Tat zulasten des Kioskbetreibers entsprechend aufgehoben und an eine andere Strafkammer des LG Frankfurt am Main zurückverwiesen. Der Revisionsführer kann folglich auf eine mildere Gesamtstrafe hoffen, falls die Richter am LG aufgrund der übrigen Indizien nicht zur Überzeugung gelangen, dass der Angeklagte die Tat im Februar 2020 begangen hat.
Fazit
Ob Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) nach § 100a StPO, retrograde Standortdatenspeicherung i.S.d. § 100g I 3 StPO oder Funkzellenüberwachung nach § 100g III 1 StPO – der technische Fortschritt zwingt uns dazu, sich mit dem technischen möglichen im Spannungsfeld des rechtlich zulässigen auseinanderzusetzen. Mit wachsender Anzahl der Entscheidungen steigt auch die Wahrscheinlichkeit, mit einer entsprechend aufbereiteten Konstellation konfrontiert zu werden. Eines ist jedoch klar: Die Rechtsprechung zu den Beweisverwertungsverboten ist mit der Entscheidung zum BGH zur Funkzellenüberwachung um eine Facette erweitert worden. Sie sollte als Anlass der Normlektüre dienen, denn der Nebel in dem dank der Gesetzesnovellen in 2015, 2017 und 2019 etwas unübersichtlich anmutende Dickicht um die §§ 100a ff. StPO lässt sich mit aufmerksamen Lesen der Paragraphen bereits zu großen Teilen lichten.
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