VG Göttingen zur Absperrung eines Wohngebäudes

VG Göttingen zur Absperrung eines Wohngebäudes

Rechtmäßige Freiheitsbeschränkung von negativ getesteten Bewohnern?

Auch wenn im Frühjahr bald vier Jahre seit Ausbruch der Pandemie vergangen sein werden, ist die juristische Aufarbeitung der Geschehnisse um den Erreger SARS-CoV-2 noch lange nicht abgeschlossen. Das VG Göttingen befasste sich jüngst mit der Abriegelung eines Wohnkomplexes und hatte zu klären, ob diese Maßnahme vom Infektionsschutzgesetz (IfSG) gedeckt war.

Sachverhalt

Nachdem in Göttingen bei einer Reihentestung von 668 Bewohnern einer Wohnanlage mehr als 100 von ihnen positiv auf das Virus getestet wurden, ordnete die Stadt Göttingen am 18.06.2020 eine Absonderung aller Bewohner befristet auf eine Woche an. Während die 668 Personen ihre Wohnung in der Zeit nicht verlassen durften, galt für Außenstehende ein Betretungsverbot des Wohnkomplexes. Um die Quarantäneregelung durchzusetzen, ließ die Stadt einen Bauzaun um das Areal errichten und diesen durch Polizeibeamte sichern.

Unter den Bewohnern befanden sich mit einer vierköpfigen Familie auch die späteren Kläger. Alle Familienmitglieder wiesen bei der genannten Reihentestung sowie bei einer späteren Kontrolltestung keinen Coronabefund auf. Da sie sich durch die Maßnahmen in ihren Grundrechten auf die Freiheit der Person nach Art. 2 II 2 GG und der freien Persönlichkeitsentfaltung nach Art. 2 I GG verletzt sahen, erhoben sie Klage beim VG Göttingen, nachdem sich die Maßnahmen durch Zeitablauf erledigt hatten.

Die Kläger begehren die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Umzäunung des Wohnkomplexes sowie deren Sicherung durch die Polizeibeamten. Hierzu sind sie der Ansicht, es habe jedenfalls an einer erforderlichen richterlichen Anordnung gefehlt.

Die beklagte Stadt hält ihre Maßnahmen hingegen für rechtmäßig, da sich auch die Kläger aufgrund der städtischen Verfügung vom 18.06.2020 an die Quarantäne hätten halten müssen. Mit der Umzäunung und Bewachung habe sie verhindern wollen, dass sich das Ansteckungsgeschehen durch Quarantänebrecher in der ganzen Stadt verbreite. Zudem habe es einer richterlichen Entscheidung gerade nicht bedurft.

Entscheidung des VG Göttingen

Mit ihrer Klage hatte die Familie vor dem VG Göttingen Erfolg. Die 4. Kammer hielt diese für zulässig und begründet. Die Maßnahmen seien rechtswidrig gewesen, da die Abriegelung nicht durch eine Ermächtigungsgrundlage des IfSG gedeckt werde. Nicht die Absonderungsverfügung der Stadt, sondern erst der überwachte Bauzaun habe die Kläger physisch daran gehindert, den eingezäunten Bereich des Gebäudekomplexes zu verlassen. Weil das IfSG zunächst davon ausgehe, dass Betroffene sich einsichtig zeigen und die Absonderungsverfügung freiwillig befolgen würden, sehe das Gesetz in § 30 II IfSG lediglich für individuelle Verstöße von „Quarantänebrechern“ die zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus bzw. einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung vor. Es handele sich bei den Klägern weder um „Quarantänebrecher“, noch erfülle der Wohnkomplex die Anforderungen der genannten Einrichtung. Auch andere Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Absonderungsverfügung seien wegen der subjektiven Zielrichtung der eigentlich „freiwillig“ zu befolgenden Absonderungsverfügung nicht ohne Weiteres anwendbar.

Somit hätten die Kläger durch den Bauzaun nicht zwangsweise am Verlassen ihrer Wohnung gehindert werden dürfen. Entsprechend Art. 104 GG habe es zudem an einer erforderlichen richterlichen Entscheidung gemangelt.

Diese Entscheidung macht das Erlebte der Kläger zwar nicht ungeschehen, für eine mögliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen steht ihnen nun jedoch die festgestellte Rechtswidrigkeit der Maßnahmen zur Seite.

Ausblick

Soweit sich Betroffene nicht im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die verschiedenen Coronamaßnahmen gewandt haben, so dürften auch weiterhin immer wieder Fälle mit Pandemiebezug von den Gerichten entschieden werden. Bekanntlich mahlen die Mühlen der Gerechtigkeit nicht so schnell, wie man es sich wünschen würde. Hieraus ergibt sich für findige Klausurersteller:innen allerdings der Vorteil, dass sie fortlaufend neue Klausurinspirationen erhalten können, die zudem mit dem Bezug zum IfSG an eher unbekannten Normen hängen. Sollte man sich in der Prüfung mit einem solchen Sachverhalt konfrontiert sehen, so besteht dennoch kein Grund zur Panik: Mit der sauberen Arbeit am Gesetzestext und den nötigen Kenntnissen zum Kernprüfungsstoff lassen sich auch solche Aufgaben meistern.