BVerfG zur Kostenübernahme für experimentelle Therapie durch die Krankenkasse

BVerfG zur Kostenübernahme für experimentelle Therapie durch die Krankenkasse

Grundrechtsverletzung durch Ablehnung der Kostenübernahme einer Off-Label-Therapie?

Muss die Krankenkasse für eine experimentelle Therapie mit sog. Off-Label-Medikamenten bei einer unheilbaren Erkrankung die Kosten übernehmen? Mit dieser Frage hatte sich kürzlich das BVerfG zu befassen. Schwierigkeiten ergaben sich hier bei den Darlegungsanforderungen aus §§ 23 I 2, 92 BVerfGG sowie bei der Frage, ob aus Art. 2 II 1 GG ein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkasse auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen folge.

Worum geht es?

Ein im Jahr 2020 geborenes Kind leidet an einer unheilbaren neurodegenerativen Stoffwechselerkrankung, die zu einem zunehmenden Verlust kognitiver und motorischer Fähigkeiten bis hin zu schwersten Behinderungen und einer verkürzten Lebenserwartung führt. Eine anerkannte Therapie, mit der sich die Krankheitsursache erfolgreich behandeln ließe, gibt es nach aktuellem medizinischen Kenntnisstand nicht. Seit dem Frühjahr 2022 erhält das Kind das Arzneimittel Tanganil im Rahmen einer sog. Off-Label-Therapie, also außerhalb der genehmigten Anwendungsgebiete. Im November beantragte das Kind als Beschwerdeführer (bzw. seine Eltern als gesetzliche Vertreter) bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme für eine weitere Off-Label-Therapie mit dem Medikament Miglustat. Die Kostenübernahme wurde von der Krankenkasse jedoch abgelehnt.

Hiergegen wandten sich die Eltern an die Fachgerichte: Das Sozialgericht Osnabrück entschied zunächst im Eilverfahren, dass das Kind die Therapie doch beginnen dürfe. Zwischenzeitlich wurde die Entscheidung aber vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen wieder aufgehoben - mit der Begründung, dass es keine wissenschaftlichen Daten zur Wirksamkeit der Therapie gebe. Durch die fachgerichtlich bestätigte Ablehnung der Kostenübernahme für eine Miglustat-Therapie sehen die Eltern des Kindes eine Grundrechtsverletzung.

BVerfG: Verfassungsbeschwerde unzulässig

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde aber nicht zur Entscheidung angenommen, da sie nicht den Darlegungsanforderungen aus §§ 23 I 2, 92 BVerfGG genüge. Zudem sei insbesondere eine Grundrechtsverletzung im Hinblick auf die Verneinung des Anspruchs auf die begehrte Versorgung mit Miglustat nicht gegeben.

Grundsätzlich kein verfassungsrechtlicher Anspruch aus Art 2 II 1 GG?

Aus Art. 2 II 1 GG folge regelmäßig kein verfassungsrechtlicher Anspruch gegen die Krankenkassen auf Bereitstellung bestimmter und insbesondere spezieller Gesundheitsleistungen. Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung habe sich zwar an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 II 1 GG zu stellen. Insofern können diese Grundrechte in besonders gelagerten Fällen die Gerichte zu einer grundrechtsorientierten Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts verpflichten. Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Es ist mit Art. 2 I GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen.

Dabei muss allerdings die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Die Sozialgerichte haben in solchen Fällen, gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe, zu prüfen, ob es für die vom Arzt nach gewissenhafter, fachlicher Einschätzung vorgenommene oder von ihm beabsichtigte Behandlung ernsthafte Hinweise auf einen nicht ganz entfernt liegenden Erfolg der Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf im konkreten Einzelfall gibt. Solche Hinweise auf einen individuellen Wirkungszusammenhang können sich aus dem Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleich mit dem Zustand anderer, in gleicher Weise erkrankter, aber nicht mit der in Frage stehenden Methode behandelter Personen ergeben sowie auch mit dem solcher Personen, die bereits auf diese Weise behandelt wurden oder behandelt werden. Weitere Bedeutung kommt der fachlichen Einschätzung der Wirksamkeit der Methode im konkreten Einzelfall durch die Ärzte des Erkrankten zu, die die Symptome seiner Krankheit behandeln. Rein experimentelle Behandlungsmethoden, die nicht durch hinreichende Indizien gestützt sind, unterfallen hingegen nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Fehlende Darlegungsanforderungen aus §§ 23 I 2, 92 BVerfGG

Das BVerfG führt weiter aus, dass es hier zudem an einer substantiierten Darlegung fehle, dass das Landessozialgericht diese verfassungsrechtlichen Anforderungen missachtet habe. Es sei auch nicht hinreichend dargetan, dass die konkrete Subsumtion unter diese Anforderungen verfassungsrechtlich zu beanstanden sei:

Der Beschwerdeführer stellt darauf ab, das Landessozialgericht habe die Anforderungen an die Annahme nicht ganz fernliegender Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf überspannt, indem es annehme, die Einschätzung des behandelnden Arztes sei nicht ausreichend. Bei dieser Argumentation beachte der Beschwerdeführer indes nicht, dass das BVerfG nicht die Einschätzung des behandelnden Arztes als generell ausreichend angesehen habe, sondern eine durch die Fachgerichte anzustellene Prüfung im Einzelfall für erforderlich halte, ob ernsthafte Hinweise auf eine maßgebliche Wirksamkeit vorlägen. Hierbei hat das BVerfG verschiedene Anhaltspunkte aufgezählt, aus denen sich solche Hinweise ergeben können. Dass einzelnen Aspekten hierbei Bedeutung zukommt, bedeute nicht, dass ihr Vorliegen für sich genommen ausreichend sei zur Annahme der Tatbestandsvoraussetzung.

Verfassungsrechtlich sei nicht zu beanstanden, dass das Landessozialgericht für die Annahme der nicht ganz vorliegenden Aussicht auf eine maßgebliche Wirksamkeit ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage zu den Erfolgsaussichten der gewünschten Therapie fordert. Dieses Kriterium sei grundsätzlich auch geeignet, um die verfassungsrechtlich gebotene Abgrenzung zwischen hinreichenden Indizien für eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auch nur auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bzw. auf eine rein experimentelle Behandlung vorzunehmen.