BGH zur nötigungsgleichen Wirkung von List und Täuschung beim räuberischen Angriff auf Kraftfahrer

BGH zur nötigungsgleichen Wirkung von List und Täuschung beim räuberischen Angriff auf Kraftfahrer

Konsequente Rechtssprechung im Fall eines provozierten Verkehrsunfalles

Die Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH befasst sich mit der interessanten Rechtsfrage, wie es sich im Rahmen des § 316a StGB auswirkt, wenn der oder die Täter den Angriff auf den Kraftfahrer bzw. (wie hier) die Kraftfahrerin mittels List und Täuschung verüben, etwa weil sie einen Verkehrsunfall provozieren, um dadurch das Fahrzeug zum Halten zu bringen und um die beabsichtigte räuberische Tat begehen zu können. Ein Angriff auf „Leib oder Leben“ steht in solchen Fällen – wie auch hier – in der Regel nicht in Frage, indes könnte ein solcher auf die „Entschlussfreiheit“ des Opfers gegeben sein.

A. Sachverhalt

A und B sind mit einem PKW auf der Stadtstraße unterwegs, A als Fahrer und B als Beifahrerin. A fährt an einer Kreuzung auf den von der S gesteuerten Pkw auf, um sie gemäß dem gemeinsamen zuvor mit B gefassten Tatplan zum Anhalten ihres Fahrzeugs zu veranlassen und anschließend zu berauben. S erkennt die deliktische Absicht von A und B nicht, sondern hält die Kollision für einen zufällig geschehenen Unfall. Sie hält sich infolgedessen für verpflichtet anzuhalten. Nachdem S deshalb aus ihrem Fahrzeug ausgestiegen ist, schüchtern A und B sie durch Zeigen einer mitgeführten Schusswaffe ein und nehmen ihr unter anderem ihr mitgeführtes Mobiltelefon und das Fahrzeug, mit dem sie fuhr, ab.

Wie haben sich A und B strafbar gemacht?

B. Entscheidung

I.Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer, § 316a Abs. 1 StGB

A und B könnten sich wegen eines räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer in Mittäterschaft gemäß den §§ 316a Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem A auf das Fahrzeug der S auffuhr, so die S zum Aussteigen brachte und A und B ihr anschließend das Mobiltelefon und das Fahrzeug abnahmen.

1. Objektiver Tatbestand

Nach § 316a Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer zur Begehung eines Raubes (§§ 249 oder 250 StGB), eines räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB) oder einer räuberischen Erpressung (§ 255 StGB) einen Angriff auf Leib oder Leben oder die Entschlussfreiheit des Führers eines Kraftfahrzeugs oder eines Mitfahrers verübt und dabei die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzt. A und B könnten hier einen Angriff auf die Entschlussfreiheit der S (Führerin eines Kraftfahrzeuges) verübt haben. Fraglich ist, ob dies im Lichte des von A und B vorgetäuschten „Unfalls“ anzunehmen ist. Dazu der BGH:

„3.b) Voraussetzung der hier allein in Betracht kommenden Tatbestandsvariante eines Angriffs auf die Entschlussfreiheit ist, dass der Täter in feindseliger Absicht auf dieses Rechtsgut einwirkt. Ausreichend, aber auch erforderlich ist eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters braucht das Opfer dagegen nicht erkannt zu haben. Ebenfalls nicht vorausgesetzt ist, dass der verübte Angriff sich bereits unmittelbar gegen das Eigentum bzw. Vermögen des Opfers richtet (…).

Hiernach hat das Landgericht zutreffend angenommen, dass [A und B] einen Angriff auf die Entschlussfreiheit der [S] verübt haben. Nach den Feststellungen hielt diese nach der Kollision ein Anhalten für „erforderlich“ und stieg aus ihrem Fahrzeug aus, was [A und B] sodann, wie von vornherein beabsichtigt, für ihre Raubtat ausnutzten. Die Tathandlung erschöpfte sich damit - obschon ihr auch ein täuschendes Element innewohnte - nicht in einer List, welche für sich genommen für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit nicht genügen würde (…), sondern entfaltete eine nötigungsgleiche Wirkung. Aus der maßgeblichen Sicht der [S] stellte der durch [A und B] bewirkte Verkehrsunfall nicht bloß ein ihre - weiterhin als frei empfundene - Willensbildung beeinflussendes Motiv dar. Vielmehr sah sie sich infolge des Unfalls einem Zwang, nämlich der sanktionsbewehrten Rechtspflicht unterworfen, am Unfallort zu bleiben und Feststellungen zu ihrer Person zu ermöglichen (§ 34 Abs. 1 Nr. 1 StVO, § 142 StGB). Die deliktische Absicht [von A und B], aus der sich objektiv ein Rechtfertigungsgrund für die Nichtbefolgung der entstandenen Haltepflicht (§ 34 StGB) ergeben konnte, war ihr nicht bekannt. Es entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Senats, eine solche nötigungsgleiche Wirkung, auch wenn sie - wie hier - durch eine Unkenntnis von Sachverhaltselementen mitbedingt ist, als für einen Angriff auf die Entschlussfreiheit des geschädigten Kraftfahrers ausreichend anzusehen (…).

Dem steht im vorliegenden Fall auch nicht entgegen, dass die empfundene Zwangswirkung nicht unmittelbar von einem durch [A und B] eingesetzten Nötigungsmittel, nämlich der in dem Auffahren liegenden Gewalt, ausging, sondern auf der hierdurch (vermeintlich) entstandenen Rechtspflicht beruhte, die [S] sich also nicht dem Willen [von A und B], sondern einer gesetzlichen Verpflichtung unterworfen sah. Dieser Unterschied ist rechtlich ohne Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des Senats, von der abzuweichen kein Anlass besteht, ist - wie durch den Begriff „nötigungsgleiche Wirkung“ zum Ausdruck gebracht worden ist - für die Tatbestandsvariante des Angriffs auf die Entschlussfreiheit maßgeblich nicht der Einsatz von Nötigungsmitteln durch den Täter, sondern allein die bei dem Tatopfer erzielte Nötigungswirkung. Dementsprechend hat der Senat bereits in seiner eine vorgetäuschte Polizeikontrolle betreffenden Entscheidung (…) nicht darauf abgestellt, dass dort mit dem Herauswinken des Tatopfers eine konkludente Drohung der Angeklagten verbunden gewesen sei, bei Nichtbefolgung Zwangsmittel anzuwenden, sondern vielmehr den Nötigungscharakter der Rechtspflicht, Weisungen von Polizeibeamten Folge zu leisten, als solchen für maßgeblich erachtet. Weder der Wortlaut noch der Schutzzweck des § 316a StGB legen eine Restriktion des Tatbestandes auf solche Fallkonstellationen nahe, in denen sich das Opfer den Nötigungsmitteln des Täters beugt, die Zwangswirkung also nach seiner Vorstellung gerade von dem Täter ausgeht (vgl. allein auf die objektive Zwangswirkung der Rechtspflicht abstellend auch …). Insbesondere wird die erforderliche Beschränkung auf Fälle einer verkehrsspezifischen Gefahrenlage (…) nicht allein durch die Auslegung des tatbestandsmäßigen Angriffs auf die Entschlussfreiheit, sondern daneben auch durch die weiteren Tatbestandsmerkmale des § 316a StGB gewährleistet (…).“

A und B haben damit auf die Entschlussfreiheit von S eingewirkt. Soweit A und/oder einzelne objektive Tatbeiträge dafür nicht persönlich bzw. eigenhändig erbracht haben, werden ihnen jeweils aufgrund ihres mittäterschaftlichen Handelns die Tatbeiträge des anderen zugerechnet (vgl. § 25 Abs. 2 StGB).

Fraglich ist, ob A und B auch die weiteren objektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt haben, insbesondere ob sie bei Tatbegehung die „besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“ ausgenutzt haben. Das ist der Fall, wenn der Angriff i.S.d. § 316a StGB zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem sich der Fahrer mit dem Fahrzeug im fließenden Verkehr befindet; Entsprechendes gilt aber auch, wenn das Kraftfahrzeug während der Fahrt verkehrsbedingt mit laufendem Motor hält, die Fahrt aber nach Veränderung der Verkehrssituation sogleich fortgesetzt werden soll, das Fahrzeug sich also weiterhin im fließenden Verkehr befindet. Das Merkmal des „Ausnutzens der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“ ist also dann erfüllt, wenn der Täter sich eine Gefahrenlage zunutze macht, die dem fließenden Verkehr eigentümlich ist, wobei die Gefahrenlage in erster Linie durch die Beanspruchung des – „angegriffenen“ – Fahrers infolge des Lenkens eines Kraftfahrzeugs und die damit verbundene Konzentration auf die Verkehrslage und die Fahrzeugbedienung sowie durch die hieraus folgende Erschwerung einer Gegenwehr begründet wird. Dazu hier der BGH:

„Auch diese sind hier (…) erfüllt. Insbesondere war die [S] im maßgeblichen Zeitpunkt des Angriffs Führerin ihres Pkw und somit taugliches Angriffsziel im Sinne des § 316a StGB. [A und B] nutzten auch die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs aus, indem sie sich - bewusst - zunutze machten, dass der [S], die nach den Feststellungen ihr Fahrzeug unmittelbar vor der Kollision zum Abbiegen verlangsamt hatte, die Gegenwehr gegen den Angriff infolge der Beanspruchung durch das Lenken des Fahrzeugs wegen der damit verbundenen Konzentration auf die Verkehrslage und die Fahrzeugbedienung erschwert war (…).“

A und B haben den objektiven Tatbestand von § 316a Abs. 1 StGB erfüllt.

2. Subjektiver Tatbestand

A und B müssten darüber hinaus vorsätzlich gehandelt und die Absicht der Begehung einer räuberischen Tat gehabt haben. Für das Ausnutzen der „besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“ ist in subjektiver Hinsicht allerdings nicht zu verlangen, dass der Täter eine solche Erleichterung seines Angriffs zur ursächlichen Bedingung seines Handelns macht; vielmehr genügt es, dass er sich – entsprechend dem Ausnutzungsbewusstsein bei der Heimtücke nach § 211 Abs. 2 StGB – in tatsächlicher Hinsicht der die Abwehrmöglichkeiten des Tatopfers einschränkenden besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs bewusst ist. Verübt der Täter den Angriff auf den Führer eines Kraftfahrzeugs im fließenden Verkehr, ist dies ein gewichtiges Indiz dafür, dass er dabei auch die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausnutzt. A und B haben die S im fließenden Verkehr mit Wissen und Wollen durch den Auffahrunfall „gestoppt“ und wussten auch um die eingeschränkten Gegenwehrmöglichkeiten der S, die sie zumindest billigend in Kauf genommen haben.

Betreffend die räuberische Tat hatten A und B ferner die Absicht, die S durch das Zeigen der mitgeführten Schusswaffe einzuschüchtern und ihr u.a. das mitgeführte Mobiltelefon und das Fahrzeug „abzunehmen“. Damit bezog sich ihr Vorsatz auf die Begehung eines besonders schweren Raubes i.S.d. §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, also auf die Wegnahme von fremden beweglichen Sachen unter Anwendung von Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben in der Absicht, sich die Sachen rechtswidrig zuzueignen, sowie auf die Verwendung einer Waffe (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB).

A und B haben (jeweils) auch den subjektiven Tatbestand von § 316a Abs. 1 StGB erfüllt.

3. Zwischenergebnis

Rechtfertigungs- und/oder Schuldausschließungsgründe sind nicht ersichtlich. A und B haben sich wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer gemäß §§ 316a Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht.

Hinweis: Verursacht der Täter durch die Tat wenigstens leichtfertig den Tod eines anderen Menschen, so ist die Strafe lebenslange Freiheitsstrafe oder eine solche nicht unter 10 Jahren (§ 316a Abs. 3 StGB).

II. Besonders Schwerer Raub, §§ 249 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB

A und B haben sich zudem wegen besonders schweren Raubes – in Mittäterschaft – gemäß den §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB strafbar gemacht, indem sie S unter Vorhalt der Schusswaffe das von ihr mitgeführte Mobiltelefon und das Fahrzeug, mit dem sie fuhr, weggenommen haben (s.o.).

III. Konkurrenzen und Ergebnis

Der besonders schwere Raub (§§ 249, 250 Abs. 2 StGB) und der räuberische Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a Abs. 1 StGB) stehen tateinheitlich zueinander i.S.v. § 52 StGB.

A und B haben sich wegen gemeinschaftlichen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gemeinschaftlichem räuberischen Angriff auf Kraftfahrer strafbar gemacht (§§ 249, 250 Abs. 2, 316a, 52 StGB).

Hinweis: Im Rahmen der jeweils – einzeln vorzunehmenden – Strafzumessung nach Maßgabe von § 46 StGB ist zunächst der gesetzliche Strafrahmen zu bestimmen, der im Fall der Tateinheit (§ 52 StGB) zunächst dem Gesetz (Straftatbestand) zu entnehmen ist, das (der) die schwerste Strafe androht (vgl. § 52 Abs. 2 S. 1 StGB), hier also dem § 250 Abs. 2 StGB bzw. dem § 316a Abs. 1 StGB – jeweils Verbrechen (§ 12 Abs. 1 StGB) – mit einer Strafandrohung von fünf Jahren bis 15 Jahren (s. § 38 Abs. 2 StGB). Für eine mögliche Strafrahmenverschiebung sind die Voraussetzungen eines minder schweren Falls in den Blick zu nehmen, wodurch sich der Strafrahmen auf Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren vermindert (s. §§ 250 Abs. 3 StGB und § 316a Abs. 2 StGB). Dass die Täter – hier A und B – jeweils gemeinschaftlich i.S.v. § 25 Abs. 2 StGB gehandelt und zwei Tatbestände gleichzeitig verwirklicht haben, ist dann anlässlich der konkreten Strafzumessung – strafschärfend – zu berücksichtigen.

C. Prüfungsrelevanz

Die Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH befasst sich mit der interessanten Rechtsfrage, wie es sich im Rahmen des § 316a StGB auswirkt, wenn der oder die Täter den Angriff auf den Kraftfahrer bzw. (wie hier) die Kraftfahrerin mittels List und Täuschung verüben, etwa weil sie einen Verkehrsunfall provozieren, um dadurch das Fahrzeug zum Halten zu bringen und um die beabsichtigte räuberische Tat begehen zu können. Ein Angriff auf „Leib oder Leben“ steht in solchen Fällen – wie auch hier – in der Regel nicht in Frage, indes könnte ein solcher auf die „Entschlussfreiheit“ des Opfers gegeben sein.

Bei der Auslegung dieses Merkmals im Zusammenhang mit List und Täuschung könnte – lediglich – darauf abzustellen sein, dass das Tatopfer über die deliktische Absicht des Täters getäuscht wird, etwa wenn der Täter gegenüber einem Kraftfahrer vorgibt, per Anhalter reisen zu wollen. Nach der Rechtsprechung des 4. Strafsenats ist dagegen eine gegen die Entschlussfreiheit gerichtete Handlung ausreichend, aber auch erforderlich, sofern das Opfer jedenfalls deren objektiven Nötigungscharakter wahrnimmt; die feindliche Willensrichtung des Täters braucht das Opfer dagegen nicht erkannt zu haben. Deshalb stellt – etwa bei der Täuschung eines Taxifahrers über die wahren (räuberisch-deliktischen) Absichten der Insassen des Taxis – allein die Angabe eines Fahrtziels bzw. dessen Änderung ebenso wie der Fahrtantritt selbst, auch wenn der Täter damit seine Raubabsicht verbindet, noch kein Verüben eines Angriffs dar, sondern regelmäßig ein nach der Vorstellung des Täters den Angriff vorbereitendes Geschehen. Für eine solche Beschränkung des Begriffs des „Angriffs“ auf den Einsatz von Nötigungsmitteln spricht der Wortlaut der Vorschrift; denn eine Täuschung hindert nicht den Entschluss und beeinträchtigt auch nicht die Entschlussfreiheit, sondern bewirkt lediglich eine falsche Vorstellung bzw. ein falsches Motiv für die vom Opfer weiterhin als frei empfundene Willensbildung bzw. Willensbetätigung. Diese Rechtsprechung führt der 4. Strafsenat hier für den Fall eines provozierten Verkehrsunfalles konsequent fort.

Insgesamt eignet sich die vorliegende Fallkonstellation sowohl für die vertiefte Prüfung der Voraussetzungen eines Straßenverkehrsdelikts (§ 316a StGB) als auch eines – (besonders) schweren – Raubes.

BGH, Beschluss vom 07.07.2022 – 4 StR 508/21