Lotto-Fall: Stellt die Lottospielgemeinschaft eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach §§ 705 ff. BGB dar?

Lotto-Fall: Stellt die Lottospielgemeinschaft eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach §§ 705 ff. BGB dar?

Fünf Personen spielen zusammen Lotto – stellt diese Lottospielgemeinschaft eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts nach §§ 705 ff. BGB dar? Auf diese Frage lässt sich der Fall zurückführen. Denn drei Mitglieder der Lottospielgemeinschaft fordern von einem anderen Mitglied Schadensersatz wegen der Nichtabgabe des gemeinsamen Lottoscheines. Woraus könnte sich hier ein entsprechender Anspruch ergeben?

A. Sachverhalt

Die drei Kläger, Otto L. und der Beklagte hatten sich zu einer Lottospielgemeinschaft zusammengeschlossen, die jede Woche mit einem Einsatz von insgesamt 50 DM bestimmte festliegende Zahlenreihen “tippte”. Die Beiträge - pro Teilnehmer wöchentlich 10 DM - wurden beim Beklagten eingezahlt. Dieser hatte die Aufgabe, die Lottozettel im eigenen Namen auszufüllen und sie bei der Annahmestelle abzugeben.

Vor der Ausspielung am 23. Oktober 1971 versäumte es der Beklagte, die Lottozettel mit den verabredeten Zahlenreihen auszufüllen. Dadurch entgingen der Lottogemeinschaft Gewinne von insgesamt 10.550,- DM. Die Kläger verlangen deswegen vom Beklagten anteiligen Schadensersatz, jeder Kläger 2.110 DM nebst Zinsen.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass ihm ein schuldhaftes Verhalten nicht vorgeworfen werden könne. Er sei, so behaupten er, am letzten Tag, an dem die Lottoscheine abgegeben werden konnten, aus beruflichen Gründen nicht in der Lage gewesen, die Lottozettel wie verabredet auszufüllen. Wider Erwarten habe er an diesem Tag seine Arbeitsstelle erst um 17.45 Uhr verlassen können. Da die Lotto-Annahmestellen bereits um 18.30 Uhr geschlossen hätten und das Ausfüllen der Lottoscheine jeweils etwa eine Stunde in Anspruch genommen habe, habe er, statt die Lottozettel in der bisherigen Form auszufüllen, andere Wettscheine für Rechnung der Tippgemeinschaft eingereicht, einen Toto-Systemschein A und einen Lotto-Systemschein B mit einem Einsatz von insgesamt 45 DM.

B. Worum geht es?

Der Anspruch könnte sich aus einer Pflichtverletzung des Gesellschaftsvertrages ergeben (aus heutiger Sicht wohl als Schadensersatz statt der Leistung wegen nachträglicher (zeitlicher) Unmöglichkeit nach §§ 280 I, III, 283 BGB):

Schadensersatzansprüche im Schuldrecht AT
Relevante Lerneinheit

Nach § 705 BGB sind die Gesellschafter verpflichtet, ihre Beiträge zu erbringen. Da Beiträge der Gesellschafter auch in der Leistung von Diensten bestehen können (§ 706 III BGB), könnte sich aus dem Gesellschaftsvertrag die Pflicht des Beklagten ergeben haben, die Lottozettel im eigenen Namen (auf Rechnung aller Mitglieder der Spielgemeinschaft) auszufüllen und sie bei der Annahmestelle abzugeben. Diese Pflicht hätte er verletzt, weil er es versäumte, die Lottozettel mit den verabredeten und – ausgerechnet! – gezogenen Zahlenreihen auszufüllen.

Voraussetzung dafür wäre aber ein Vertrag zwischen den Beteiligten. Es könnte aber auch nur eine Gefälligkeit im rein sozialen Umfeld vorliegen. Maßgeblich ist, ob die Parteien mit dem für einen Vertragsschluss erforderlichen Rechtsbindungswillen gehandelt haben.

Der BGH hatte also die folgende Frage zu entscheiden:

Besteht zwischen den Mitgliedern einer Lottospielgemeinschaft ein Gesellschaftsvertrag?

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH weist im Lotto-Fall (Urt. v 16.5.1974 – II ZR 12/83 (NJW 1974, 1705 ff.)) die Schadensersatzklage ab.

Zunächst führt er aus, dass – anders als es das Berufungsgericht meinte - § 762 BGB dem Erfolg der Klage nicht entgegenstehe:

„Das Berufungsgericht hat die Klage in erster Linie mit der Begründung abgewiesen, daß § 762 BGB, wonach Spiel- und Wettschulden nicht eingeklagt werden können, auch im vorliegenden Fall Anwendung finde. Dem kann nicht gefolgt werden. Die Übernahme des Spieleinsatzes für eine Lottospielgemeinschaft ist nicht selbst Spiel, sondern ein Nebengeschäft, das der Durchführung des Spieles dient. freilich ist § 762 BGB nach ständiger Rechtsprechung entsprechend anwendbar, wenn jemand einen anderen beauftragt, bei einem staatlich nicht genehmigten Spiel mitzuspielen (RGZ 51, 156; Gruchot 47, 932; 50, 957 = JW 1906, 228; JW 1936, 2067 a. E.); denn den Auftraggeber treffen im Ergebnis die gleichen Verbindlichkeiten, wie wenn er selbst spielen würde, und er soll daher, soweit ein unmittelbar Spielbeteiligter nicht verpflichtet werden kann, ebenfalls nicht verpflichtet werden. Das trifft aber auf einen Auftrag, der sich auf eine staatlich genehmigte Lotterie oder Ausspielung bezieht, nicht zu. Die Gleichstellung von unmittelbar und mittelbar Spielbeteiligtem muß hier gerade dazu führen, daß der Auftraggeber - ebenso wie gemäß § 763 BGB der Spieler - rechtswirksam verpflichtet werden kann (vgl. RGZ 93, 348; OLG Hamburg SeuffA 76 Nr. 83).
Die entsprechende Anwendung des § 762 BGB ist auch nicht etwa deswegen gerechtfertigt, weil - wie das Berufungsgericht meint - der Spielbeauftragte bei einer staatlich genehmigten Lotterie oder Ausspielung wegen der möglichen Schadensersatzpflicht ein ebenso gefährliches “Spielrisiko” eingehe wie der Spieler bei einem staatlich nicht genehmigten Spiel und daher wie dieser schutzbedürftig sei. Beide Fälle lassen sich nicht miteinander vergleichen. Der Spieler geht das Risiko des Verlusts seines Einsatzes ein, um als Gegenleistung dafür die Chance eines Spielgewinns zu erlangen. Demgegenüber würde der Spielbeauftragte, wenn das im Einzelfall gewollt ist, das mit jedem Auftrag verbundene Haftpflichtrisiko auf sich nehmen, ohne daß ihm hierfür als Gegenleistung die Chance des Spielgewinns zufallen würde.“

Sodann rekurriert er auf die Grundsätze aus dem Lkw-Fahrer-Fall, den wir bereits als „Klassiker“ vorgestellt haben, wonach die Frage nach dem Rechtsbindungswillen unter Berücksichtigung der Interessenlage beider Parteien nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu prüfen sei:

„Die Frage, ob und inwieweit ein unentgeltlich übernommener Auftrag rechtsgeschäftlich bindend oder nur unverbindlich ist, kann im allgemeinen - da insoweit ein ausdrücklich oder stillschweigend erklärter Wille der Beteiligten in der Regel nicht feststellbar ist - nur unter Berücksichtigung der Interessenlage beider Parteien nach Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte geprüft werden (BGHZ 21, 102, 106 f; 56, 204, 210). Dabei kommt es einerseits darauf an, ob für den “Auftraggeber” wesentliche Interessen - insbesondere Interessen wirtschaftlicher Art - auf dem Spiele stehen, er also, wenn die versprochene Leistung nicht oder nicht ordnungsgemäß erbracht wird, erhebliche, mit Wahrscheinlichkeit eintretende Schäden zu erwarten hat. Andererseits ist darauf abzustellen, ob die Annahme einer Rechtspflicht und das sich daraus ergebende Schadensersatzrisiko auch für den “Beauftragten” unter Berücksichtigung der Unentgeltlichkeit der übernommenen Geschäftsbesorgung zumutbar ist (vgl. zum letzteren BGH Urt. v. 22.5.1967 - VII ZR 309/64)“

Danach verneint der BGH einen Rechtsbindungswillen. Dabei stellt er maßgeblich auf die drohende Schadensersatzpflicht ab, die unverhältnismäßig hoch sei. Zudem würde eine derartige rechtliche Bindung dem Charakter der Verbindung der 5 Personen als Spielgemeinschaft zuwiderlaufen:

„Würde man eine rechtliche Verbindlichkeit des beauftragten Mitspielers annehmen, so würde dies für ihn ein außerordentliches Schadensersatzrisiko mit sich bringen. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, ist die Gefahr, daß der beauftragte Spieler gegen die von den Mitspielern getroffene Abrede verstößt, verhältnismäßig groß. Es kann leicht vorkommen, daß er das Ausfüllen der Wettscheine wegen anderweitiger Verpflichtungen unterläßt, es vergißt oder versehentlich andere Zahlen ankreuzt als vereinbart. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, daß aus einem solchen Fehler ein erheblicher Schaden erwächst - ebenso wie die Chance eines hohen Gewinns - sehr klein (vgl. die Wahrscheinlichkeitsangaben bei Schlund, Das Zahlenlotto S. 54 Fn. 128). Wenn aber ein Schaden eintritt, kann dieser eine außergewöhnliche Höhe erreichen, insbesondere bei Gewinnen der I. und II. Gewinnklasse. Die Ersatzpflicht hätte in diesen Fällen für den beauftragten Spieler vielfach eine Vernichtung seiner wirtschaftlichen Existenz zur Folge; jedenfalls würde sie ihn ungleich härter treffen, als wenn den Mitspielern ein Ersatzanspruch wegen des entgangenen Spielgewinns, mit dem sie nicht ernsthaft rechnen konnten, versagt wird. Im allgemeinen ist allerdings ein entgangener Gewinn nicht weniger schadensersatzwürdig als der Verlust bereits vorhandener Vermögenswerte. Doch handelt es sich in den Fällen der vorliegenden Art nicht um einen normalen Gewinn, der - wie etwa ein entgangener Arbeitsverdienst oder der entgangene Gewinn eines Gewerbetreibenden - durch einen in etwa gleichwertigen Einsatz “verdient” war und mit einiger Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Sondern zu ersetzen wäre ein Spielgewinn, der, soweit es die höheren Gewinnklassen betrifft, nur einen unverhältnismäßig geringen Einsatz gekostet hat und für den Gewinner, wenn er eingetreten wäre, einen ganz außerordentlichen - zwar erhofften, aber gar nicht zu erwartenden - Glücksfall bedeutet hätte.
Im allgemeinen würde es auch dem Gedanken des gemeinsamen Spiels widersprechen, den beauftragten Spiels, der das Ausfüllen der Wettscheine ohne Entgelt übernimmt, für etwaige Fehler nach Rechts- und Schadensersatzgrundsätzen haftbar zu machen. Eine Spielgemeinschaft wird - abgesehen von dem Motiv, Spannung und Erfolg oder Mißerfolg des Spiels gemeinsam zu erleben - meist mit dem Ziel verabredet, durch den erhöhten Einsatz die geringe Gewinnchance etwas zu erweitern. Dagegen liegt es völlig außerhalb der Vorstellung der Beteiligten, daß sich aus ihrem Zusammenschluß für einen von ihnen eine - unter Umständen existenzvernichtende - Schadensersatzpflicht ergeben könnte. Keiner der Spieler würde, falls die Frage im voraus bedacht und ausdrücklich erörtert würde, ein solches Risiko übernehmen oder es den Mitspielern zumuten. Denn auch das Glücksspiel, bei dem hohe Gewinne in Aussicht stehen, bleibt im Regelfall Spiel, d.h. freies, außerhalb wirtschaftlicher Zwecke und Notwendigkeiten stehendes Handeln, womit ein rechtlicher Zwang und Schadensersatz, wie er sonst zum Schutz wesentlicher Interessen und Güter notwendig ist, nicht vereinbar wäre. Anders ist es nur dort, wo das Glücksspiel von geschäftlichen Zwecken überlagert ist, etwa bei einem Spielbeauftragten, der - wie insbesondere die Lottoannahmestellen - für die Durchführung des Spieleinsatzes ein Entgelt bekommt (vgl. die Fälle RGZ 93, 348 und OLG Hamburg, SeuffA 76 Nr. 83), oder wenn beispielsweise mehrere Kaufleute sich aufgrund planmäßig- spekulativer Überlegungen zusammengetan haben und mit besonders hohen Einsätzen spielen. Liegen aber, wie hier, solche Umstände nicht vor, so widerspricht eine rechtliche Verpflichtung in der Regel der Intention der Parteien, und es bedarf, wenn sie ausnahmsweise doch gewollt ist, einer besonderen Vereinbarung. Eine solche ist im vorliegenden Fall nicht getroffen worden, so daß die Schadensersatzklage von den Vorinstanzen zu Recht abgewiesen worden ist.“

D. Fazit

Eine im Ergebnis überzeugende Entscheidung. Alternativ hätte man – wenn man den Rechtsbindungswillen der Parteien und damit einen Gesellschaftsvertrag bejahen wollte – den Fall über eine angemessene Anwendung der Haftungsprivilegierung aus §§ 708, 277 BGB lösen können. Deliktische Ansprüche scheiden aus, weil der Beklagte kein von § 823 I BGB geschütztes Rechtsgut verletzt hat (bloßer Vermögensschaden) und kein Sondertatbestand (etwa § 823 II BGB oder § 826 BGB) erfüllt ist.