Überholverbot-Fall

A. Sachverhalt

Der Kläger, der als selbstständiger Fuhrunternehmer Segel- und Motorjachten transportiert, wendet sich gegen Lkw-Überholverbote auf der Bundesautobahn A 8 Ost.

Dort ist zwischen km 97,65 und km 125 in Richtung Salzburg und zwischen km 123,2 und km 87,2 in Richtung München eine Streckenbeeinflussungsanlage (SBA) installiert, die am 1. März 2000 zunächst in Probe- und später in Dauerbetrieb genommen wurde. Sie zeigt seit dem 6. Oktober 2000 das Verkehrszeichen für Lkw-Überholverbote automatisch an, wenn in der jeweiligen Fahrtrichtung eine Verkehrsstärke von 2 700 Pkw-E/h und ein Lkw-Anteil von 15 % erreicht werden; zuvor, seit der ersten Schaltung der Anlage im April 2000, wurden Lkw-Überholverbote erst ab einem Aufkommen von 4 000 Pkw-E/h angezeigt. Darüber hinaus sind zwischen km 97,65 und km 100,9 sowie zwischen km 122 und km 125 in Richtung Salzburg sowie zwischen km 123,2 und km 87,2 in Richtung München starre Verkehrsschilder und Prismenwender aufgestellt, die ebenfalls Lkw-Überholverbote anzeigen.

Den im August 2001 erhobenen Widerspruch des Klägers hat der Beklagte nicht beschieden. Nach Einlegung des Widerspruchs wurden bestimmte Verbotsschilder durch Prismenwender ersetzt.

Das Verwaltungsgericht hat die am 18. Juli 2003 erhobenen Klagen nach Einholen eines Sachverständigengutachtens mit Urteilen vom 14. November 2007 als unbegründet abgewiesen.

Die Berufungen des Klägers hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, der den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung nochmals angehört hat, mit Urteil vom 29. Juli 2009 zurückgewiesen.

 

B. Worum geht es?

Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Frage, ob der Kläger seinen (Anfechtungs-)Widerspruch gegen das Überholverbot rechtzeitig erhoben hat. Die Widerspruchsfrist beträgt grundsätzlich einen Monat und beginnt mit der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (§ 70 I 1 VwGO). Fehlt es – wie bei Verkehrszeichen üblich – an einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung, beträgt die Anfechtungsfrist ein Jahr (§§ 70 II, 58 II VwGO).

Im Halteverbot-Fall hatte das BVerwG entschieden, dass Verkehrszeichen (Allgemeinverfügungen iSv § 35 S. 2 VwVfG) nicht im Wege der Einzelbekanntgabe nach §§ 41 I, 43 I VwVfG bekannt gegeben werden; vielmehr erfolge die Bekanntgabe von in Verkehrszeichen enthaltenen Ge- und Verboten als öffentliche Bekanntgabe durch „Aufstellung“ (vgl. § 45 Abs. 4 StVO) des Verkehrsschildes, weil die Vorschriften der StVO die Bekanntgabe speziell regelten. Damit war aber nicht geklärt, wann die Widerspruchsfrist zu laufen beginnt. Nimmt man den Wortlaut des § 70 I VwGO, der auf die Bekanntgabe abstellt, ernst, wäre auf das „Aufstellen“ des Schildes abzustellen. So hat es beispielsweise der VGH Baden-Württemberg im Jahr 2009 entschieden:

„Ist aber von einer durch ordnungsgemäße Aufstellung der Verkehrszeichen bereits erfolgten wirksamen (öffentlichen) Bekanntgabe auszugehen, hatte auch die nach §§ 70 Abs. 2, 58 Abs. 2 VwGO einjährige Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1 S. 1 VwGO zu laufen begonnen (zutreffend HessVGH, Beschl. v. 05.03.1999 - 2 TZ 4591-98 -, NJW 1999, Seite 1651 <1652>). Diese beginnt mit der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts und nicht mit dem Zeitpunkt einer etwa erst späteren, erstmaligen (konkreten) Betroffenheit. Anderes lässt sich - wie ausgeführt - auch dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.12.1996 nicht entnehmen.“ (Beschl. v. 2.3.2009 – 5 S 3047/08)

Das würde bedeuten, dass Verkehrsschilder nach einem Jahr bestandskräftig werden. Verkehrsteilnehmern, die sich dem Schild überhaupt erst nach Ablauf eines Jahres nach dem Aufstellen gegenübersehen, wäre es damit von vornherein verwehrt, mit Erfolg Widerspruch gegen die Regelung zu erheben – ein Ergebnis, dass unter dem Gesichtspunkt der Rechtsweggarantie des Art. 19 IV GG Befremden auslöst.

Das BVerwG war daher aufgerufen, folgende Frage zu beantworten:

Wann beginnt bei Verkehrszeichen die Widerspruchsfrist zu laufen?

 

C. Wie hat das BVerwG entschieden?

Das BVerwG hält im Überholverbot-Fall (Urt. v. 23.9.2010 – 3 C 37.09 (BVerwGE 138, 21 ff.)) die Klage für zulässig, insbesondere habe der Kläger die Anfechtungsfrist gewahrt.

Einleitend verweist das BVerwG auf seine Rechtsprechung, wonach es sich bei Verkehrszeichen um Allgemeinverfügungen iSv § 35 S. 2 Var. 3 VwVfG („Regelung der Benutzung einer Sache durch die Allgemeinheit“) handele, die öffentlich bekannt gegeben würden:

„Das Lkw-Überholverbot nach Zeichen 277, das wie andere Verkehrsverbote und -gebote ein Verwaltungsakt in der Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 VwVfG ist (stRspr seit den Urteilen vom 9. Juni 1967 - BVerwG 7 C 18.66 - BVerwGE 27, 181 <182> und vom 13. Dezember 1979 - BVerwG 7 C 46.78 - BVerwGE 59, 221 <224>), wird gemäß § 43 VwVfG gegenüber demjenigen, für den es bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem es ihm bekannt gegeben wird. Die Bekanntgabe erfolgt nach den bundesrechtlichen (Spezial-)Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung durch Aufstellen des Verkehrsschildes (vgl. insbesondere § 39 Abs. 1 und § 45 Abs. 4 StVO). Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon „mit einem raschen und beiläufigen Blick“ erfassen kann (BGH, Urteil vom 8. April 1970 - III ZR 167/68 - NJW 1970, 1126 f.), äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht (Urteil vom 11. Dezember 1996 - BVerwG 11 C 15.95 - BVerwGE 102, 316 <318>). Das gilt unabhängig davon, ob die Bekanntgabe in Form starrer Verkehrszeichen erfolgt oder mithilfe einer Anzeige über eine Streckenbeeinflussungsanlage oder einen Prismenwender.“

 

Das BVerwG führt sodann aus, dass die Anfechtungsfrist nicht bereits mit dem Aufstellen des Verkehrszeichens zu laufen beginne. Das würde die Rechtsschutzmöglichkeiten unter Verstoß gegen Art. 19 IV GG unzulässigerweise verkürzen. Maßgeblich sei vielmehr der Zeitpunkt, in dem sich der jeweilige Verkehrsteilnehmer „der Regelung gegenübersehe“:

„Damit ist nicht gesagt, dass auch die Anfechtungsfrist gegenüber jedermann bereits mit dem Aufstellen des Verkehrszeichens in Gang gesetzt wird. Diese Frist wird vielmehr erst dann ausgelöst, wenn sich der betreffende Verkehrsteilnehmer erstmals der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht. Jedes andere Verständnis geriete in Konflikt mit der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die es verbietet, den Rechtsschutz in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Liefe die Anfechtungsfrist für jedermann schon mit dem Aufstellen des Verkehrsschildes, könnte ein Verkehrsteilnehmer, der erstmals mehr als ein Jahr später mit dem Verkehrszeichen konfrontiert wird, keinen Rechtsschutz erlangen; denn bis zu diesem Zeitpunkt war er an der Einlegung eines Rechtsbehelfs mangels individueller Betroffenheit (§ 42 Abs. 2 VwGO) gehindert, danach würde ihm der Ablauf der einjährigen Anfechtungsfrist entgegengehalten. Dieses Rechtsschutzdefizit wird auch durch die Möglichkeit, ein Wiederaufgreifen des Verfahrens zu beantragen, nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise ausgeglichen, dies schon wegen der besonderen Voraussetzungen, die § 51 VwVfG an einen solchen Rechtsbehelf stellt.

Dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Dezember 1996 (a.a.O.) lässt sich Gegenteiliges nicht entnehmen (so aber VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. März 2009 - 5 S 3047/08 - JZ 2009, 738). Es stellt ausdrücklich klar, dass es nicht im Widerspruch zur Aussage des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 13. Dezember 1979 (a.a.O.) stehe, wonach ein Verkehrsteilnehmer von dem Verwaltungsakt erst dann betroffen werde, „wenn er sich (erstmalig) der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersieht“. Dass in dem Urteil aus dem Jahre 1996 die Bekanntgabe nach den Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung als eine besondere Form der öffentlichen Bekanntmachung bezeichnet wird, zwingt ebenso wenig zu dem Schluss, dass auch die Anfechtungsfrist für jedermann mit dem Aufstellen des Verkehrszeichens zu laufen beginnt; denn es handelt sich - wie dort zutreffend ausgeführt wird - um eine „besondere“ Form der öffentlichen Bekanntmachung, die von der Wirkung anderer Formen öffentlicher Bekanntmachung durchaus abweichen kann.“

 

Ein wiederholtes oder nochmaliges „Gegenübersehen“ führe aber nicht dazu, dass die Rechtsbehelfsfrist erneut zu laufen beginne. Das sei nur dann anders, wenn es sich bei dem Verkehrszeichen um einen Verwaltungsakt handele:

„Entgegen der Auffassung des Klägers beginnt die gemäß § 58 Abs. 2 VwGO einjährige Rechtsbehelfsfrist allerdings nicht erneut zu laufen, wenn sich derselbe Verkehrsteilnehmer demselben Verkehrszeichen ein weiteres Mal gegenübersieht. Das Verkehrsge- oder -verbot, das dem Verkehrsteilnehmer bei seinem ersten Herannahen bekannt gemacht wurde, gilt ihm gegenüber fort, solange dessen Anordnung und Bekanntgabe aufrechterhalten bleiben. Kommt der Verkehrsteilnehmer erneut an diese Stelle, hat das Verkehrszeichen für ihn nur eine erinnernde Funktion. Daraus, dass Verkehrszeichen gleichsam an die Stelle von Polizeivollzugsbeamten treten (so etwa Beschluss vom 7. November 1977 - BVerwG 7 B 135.77 - NJW 1978, 656), kann der Kläger nichts anderes herleiten. Trotz der Funktionsgleichheit und wechselseitigen Vertauschbarkeit einer Verkehrsregelung durch Verkehrszeichen einerseits und durch Polizeibeamte andererseits unterscheiden sie sich dadurch, dass Verkehrszeichen die örtliche Verkehrssituation regelmäßig dauerhaft regeln (so auch bereits Urteil vom 13. Dezember 1979 a.a.O. S. 225).

Dagegen begann mit der Änderung der Ein- und Ausschaltwerte an der Streckenbeeinflussungsanlage zum 6. Oktober 2000 - wie der Verwaltungsgerichtshof zutreffend erkannt hat - die einjährige Rechtsmittelfrist neu zu laufen. Denn von da an ging die Anzeige des Zeichens 277 auf eine wesentliche Änderung der dem Lkw-Überholverbot zugrunde liegenden verkehrsrechtlichen Anordnung zurück, was nach außen zur Bekanntgabe eines neuen Verwaltungsaktes führt. Auch soweit nach den Feststellungen des Berufungsgerichts am 7. August 2001 an starr angebrachten Verkehrszeichen 277 die Zusatzschilder entfernt wurden, mit denen das Lkw-Überholverbot auf Fahrzeuge mit einem Gesamtgewicht von mehr als 7,5 t beschränkt worden war, liegt darin eine Neuregelung, für die der Lauf der Rechtsmittelfrist neu zu bestimmen ist.“

 

D. Fazit

Nach dem Halteverbot-Fall ist der Überholverbot-Falle ein weiterer wichtiger Meilenstein in der „Verkehrszeichen-Rechtsprechung“.

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