Schürmannbau-Fall

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)

Im August 1992 beauftragte die Beklagte die Klägerin mit der Starkstrominstallation und weiteren Elektroarbeiten für den sogenannten Schürmannbau in Bonn.

Am 22./23. Dezember 1993 überstieg das Rheinhochwasser, das einen Pegelstand von 53,38 m über NN erreichte, den Rand der als Schlitzwandtopf ausgebildeten Baugrube und überflutete sie. Der durch das einströmende Wasser verursachte Auftrieb des Baukörpers hatte zur Folge, dass die Wände des Baukörpers rissen und die bis zu diesem Zeitpunkt erbrachten und nicht abgenommenen Leistungen der Klägerin zerstört wurden.

Die Beklagte hat sich mit folgender Begründung geweigert, den geforderten Abschlag zu zahlen:

Nach der Bauplanung sei ein Hochwasserschutz zur Rheinseite bis 53,85 m über NN, also ca. 0,50 m über dem Hochwasserstand vom 22./23. Dezember 1993 vorgesehen gewesen. Der Rohbauunternehmer habe den vorläufigen Hochwasserschutz an zwei Stellen entfernt, ohne sogleich den Spalt zwischen Schlitzwand und Baukörper endgültig abzudichten. Dadurch sei der vorgesehene Hochwasserschutz am 22./23. Dezember 1993 nicht gewährleistet gewesen. Für das fehlerhafte Verhalten des Vorunternehmers hafte sie nicht.

B. Worum geht es?

Es geht – nach dem Scheunen-Fall und dem Frostertunnel-Fall – wieder einmal um die Gefahrtragung im Werkvertragsrecht (§§ 644, 645 BGB):

Die Klägerin und die Beklagte sind durch einen Werkvertrag (§ 631 BGB) miteinander verbunden. Weil der Vergütungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte aus § 631 I BGB erst fällig wird, wenn das Werk (Elektroarbeiten) abgenommen wurde (§ 641 I BGB), die Arbeiten der Klägerin aber vor Abnahme durch das Hochwasser zerstört wurden, kommt ein Anspruch aus § 631 I BGB insoweit nicht in Betracht. Vielmehr trägt die Klägerin nach § 644 BGB grundsätzlich bis zur Abnahme des Werkes die Leistungs- und Vergütungsgefahr, weswegen sie verpflichtet ist, das Werk erneut herzustellen, ohne – soweit die Parteien darüber keine besondere Abrede treffen – für die „nutzlos“ erbrachten Leistungen eine Vergütung zu erhalten. Helfen könnte der Klägerin § 645 I BGB, der in Abweichung von der Grundregel in § 644 BGB dem Werkunternehmer einen Anspruch auf „einen der geleisteten Arbeit entsprechenden Teil der Vergütung und Ersatz der in der Vergütung nicht inbegriffenen Auslagen“ gewährt, wenn „das Werk vor der Abnahme infolge eines Mangels des von dem Besteller gelieferten Stoffes oder infolge einer von dem Besteller für die Ausführung erteilten Anweisung untergegangen, verschlechtert oder unausführbar geworden [ist], ohne dass ein Umstand mitgewirkt hat, den der Unternehmer zu vertreten hat“. Da der Wortlaut der Norm nicht einschlägig ist, bleibt nur noch eine entsprechende Anwendung des § 645 I BGB.

Im Scheunen-Fall hatte der BGH eine Analogie bejaht, im Frostertunnel-Fall hingegen verneint. Der BGH hatte damit im Schürmannbau-Fall die folgende Frage zu beantworten:

Kommt eine analoge Anwendung des § 645 I BGB in Betracht, wenn das Werk vor Abnahme infolge von Hochwasser zerstört wird?

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH bejaht im Schürmannbau-Fall (Urt. v. 21.08.1997 – VII ZR 17/96 (BGHZ 136, 303)) eine analoge Anwendung von § 645 I 1 BGB.

Der BGH wiederholt die im Frostertunnel-Fall aufgestellten Grundsätze zur entsprechenden Anwendung von § 645 I BGB:

„Der Bundesgerichtshof hat zu den Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendbarkeit des § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB im Einzelfall folgenden Grundsatz entwickelt: ‚Diese Vorschrift beruht auf Billigkeit. Ihre entsprechende Anwendung ist deshalb in Fällen geboten, in denen die Leistung des Unternehmers aus Umständen untergeht oder unmöglich wird, die in der Person des Bestellers liegen (…) oder auf Handlungen des Bestellers zurückgehen (…), auch wenn es insoweit an einem Verschulden des Bestellers fehlt. In derartigen Fällen steht der Besteller der sich aus diesen Umständen ergebenden Gefahr für das Werk näher als der Unternehmer (…). Die entsprechende Anwendung des § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB führt in solchen Fällen zu einem beiden Parteien des Werkvertrages gerecht werdenden billigen Interessenausgleich. Der Unternehmer erhält (nur) die erbrachte und untergegangene Werkleistung bezahlt. Der Besteller braucht den darüber hinausgehenden Teil der vereinbarten Vergütung nicht zu entrichten‘ (BGH, Urteil vom 6. November 1980 - VII ZR 47/80, aaO, S. 354 f).

Rechtfertigung für die entsprechende Anwendung des § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Fallsituationen, die vom Wortlaut der Vorschrift nicht erfaßt werden, ist die objektive Verantwortlichkeit des Auftraggebers für den Eintritt des Schadens in Risikolagen, die den geregelten Fällen vergleichbar sind.“

 

Danach bejaht der BGH einen Vergütungsanspruch der Klägerin in entsprechender Anwendung des § 645 I BGB. Die beklagte Bauherrin habe das Risiko einer Überflutung zurechenbar herbeigeführt:

„Nach diesen Grundsätzen ist § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB entsprechend anwendbar, weil die Beklagte das Risiko einer Überflutung dadurch objektiv zurechenbar herbeigeführt hat, daß - für die Beteiligten ersichtlich - der von ihr vorgesehene und ausreichende vorläufige Hochwasserschutz ausgeführt wurde und daß dieser zur Zeit der Hochwassergefahr teilweise wieder beseitigt worden war. Da die Beklagte den sehr aufwendigen endgültigen Hochwasserschutz und den vorläufigen Hochwasserschutz während der Bauzeit übernommen hatte, die Klägerin dagegen keine Möglichkeit der Einwirkung auf die Ausführung dieses Schutzes hatte, steht die Beklagte als Bauherrin der Gefahr, die sich aus der Beschaffenheit des Hochwasserschutzes ergab, näher als die Klägerin. Es entspricht deshalb der Billigkeit, in entsprechender Anwendung des § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB einen für beide Parteien gerechten und billigen Interessenausgleich herbeizuführen.

Die Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs entsprechend § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB liegen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts vor. Danach war die Beklagte objektiv zurechenbar verantwortlich dafür, daß der errichtete vorläufige Hochwasserschutz zur Zeit der Hochwassergefahr teilweise beseitigt und dadurch das Schadensrisiko begründet worden war.“

D. Fazit

Der Schürmannbau-Fall ist (nach dem Scheunen-Fall und dem Frostertunnel-Fall) der Schlusspunkt unserer „Klassiker-Trilogie“ zur entsprechenden Anwendung von § 645 I BGB. Die wesentlichen Eckpunkte der Rechtsprechung sind unseren Leserinnen und Lesern damit bekannt und werden in der Klausur keine Probleme mehr bereiten!