LG Gießen: Strafbarkeit des Einlösens eines versehentlich zugesandten Online-Gutscheins

Die A erwirbt bei dem Internetanbieter I einen Online-Geschenkgutschein über 30 €, den sie an ihre Freundin verschenken möchte. Versehentlich versendet sie den Gutschein wegen eines Tippfehlers aber nicht an ihre Freundin, sondern an eine ihr unbekannte E-Mail-Adresse, die vom Anbieter X-GmbH gehostet wird. Kurze Zeit später löst eine unbekannte Person den Gutschein ein, indem der Gutscheincode bei der Bestellung eingibt. A erstattet Anzeige. Die Staatsanwaltschaft beantragt einen Durchsuchungsbeschluss gegen die X-GmbH, um die zu der genannten E-Mail-Adresse gehörenden weiteren Daten zu erlangen, mit denen eine Identifizierung der den Gutschein einlösenden Person erfolgen sollte.

Das LG Gießen (Beschl. v. 29.5.2013, Az. 7 Qs 88/13) verwirft den Antrag in der Beschwerdeinstanz (vgl. § 304 StPO) als unbegründet.

Die Regelungen über eine Durchsuchung finden sich in den §§ 102 ff. StPO. In Abgrenzung zu bloßen Betretungs-, Besichtigungs- und Kontrollrechten kennzeichnet eine Durchsuchung das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Amtsträger in einer Wohnung, um dort planmäßig etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung nicht von sich aus offen legen oder herausgeben will. Zuständig für die Anordnung ist grds. - sofern nicht Gefahr im Verzug vorliegt - der (Ermittlungs-)Richter (§§ 105 I, 162, 169 StPO, Art. 13 II GG). Der Begriff der Wohnung ist weit auszulegen und erfasst auch Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1971 unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte von Art. 13 GG entschieden:

“Art. 13 I GG umschreibt den von ihm geschützten Grundrechtsbereich mit einer seit Langem feststehenden Formel. Schon die belgische Verfassung von 1831 hatte in Art. 10 dieses Grundrecht in die kurze und einprägsame Fassung gebracht: Le domicile est inviolable. Sie ist unverändert in den Grundrechtsabschnitt der Frankfurter Reichsverfassung von 1848/49 (§ 140) und in Art. 6 der Preuß. Verf. v. 5. 12. 1848/31. 1. 1850 übergegangen. Im Anschluss daran bestimmte Art. 115 der WRV: „Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich.”

Im Geltungsbereich der Preuß. Verf. war es einhellige Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass der Begriff „Wohnung” weit auszulegen sei und die Geschäftsräume (auch von Vereinen) mitumfasse.

Die Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit folgte ganz überwiegend dieser Auffassung.

Bei den Vorarbeiten zum GG ging man zunächst im Anschluss an den Herrenchiemsee-Entwurf (Art. 5) von der Fassung des Art. 115 der WRV aus. Die Redaktoren kehrten schließlich jedoch zu der einfachen Formel der Preuß. Verf. und der Frankfurter Reichsverfassung zurück. Eine Änderung der bisherigen Auslegung des Wohnungsbegriffs war nicht beabsichtigt. Das verfassungsrechtliche Schrifttum hat sich durchweg diese Auslegung zu eigen gemacht und bezieht Geschäftsräume in den Schutzbereich des Grundrechts ein. Dabei wird die Kontinuität der Rechtsentwicklung ebenso betont wie der Schutzzweck der Norm, die den räumlichen Bereich individueller Persönlichkeitsentfaltung sichern solle, zu der auch die ungestörte Berufsarbeit gehöre. Auch auf die praktischen Schwierigkeiten, die sich bei einer engeren Auslegung des Wohnungsbegriffs ergeben würden, wird hingewiesen.

Ein Blick auf ausländische Regelungen zeigt, dass bei gleicher oder annähernd gleicher Fassung der Gesetzestexte die weite Auslegung des Wohnungsbegriffs vorherrscht (vgl. etwa für die Schweiz BGE 81 I, 119 ff.; für Österreich die Entscheidungen des VerfGH v. 22. 11. 1932 Nr. 1486, v. 14. 3. 1949 Nr. 1747, v. 2. 7. 1955 Nr. 2867 und v. 16. 12. 1965 Nr. 5182, sowie Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, 1963, S. 241; für Italien: Enciclopedia del Diritto XIII (1964) S. 859 ff., und Faso, La Libertà di Domicilio, 1968, S. 34 ff.; für die USA die Dissenting opinion von Justice Frankfurter zur Entscheidung Davis v. United States v. 10. 6. 1946 - 328 US 582, 596 f. - und die Entscheidung See v. City of Seattle v. 5. 6. 1967 - 387 US 541 -).” (BVerfG NJW 1971, 2299)

Im Hinblick auf die materiellen Voraussetzungen unterscheidet das Gesetz zwischen der Dursuchung beim Verdächtigen (§ 102 StPO) und der Dursuchung bei anderen Personen (§ 103 StPO), die nur unter engeren Voraussetzungen zulässig ist. Da eine juristische Person kein “Verdächtigter” sein kann und auch keinerlei Verdachtsmomente gegen Organe der X-GmbH vorliegen (dann kann eine Durchsuchung auch auf § 102 StPO gestützt werden), ist der Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 103 I 1 StPO zu beurteilen.

Voraussetzung ist jedenfalls zunächst, dass ein Anfangsverdacht gegen eine Person, die namentlich nicht bekannt zu sein braucht, vorliegt. Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte oder kriminalistischer Erfahrungen angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen wurde. Eines hinreichenden (vgl. §§ 170 I, 203 StPO) oder gar dringenden Tatverdachts (vgl. §§ 112, 103 I 2 StPO) bedarf es nicht.
Fraglich ist also, ob sich die unbekannte Person durch das Einlösen des nicht für sie bestimmten Gutscheins strafbar gemacht.

Das LG Gießen arbeitet zunächst einige denkbare Tatbestände ab:

“1. Für eine Strafbarkeit wegen Unterschlagung (§ 246 StGB) fehlt es an einer beweglichen Sache, da es sich lediglich um einen „virtuellen“ Gutschein handelt.

  1. Weil der den Gutschein einlösenden Person weder gegenüber der Anzeigerstatterin, noch gegenüber der Fa. [I] oder der zu Beschenkenden eine Vermögensbetreuungspflicht oblag, liegt keine Untreue (§ 266 StGB) vor.

  2. Die Vorschriften bezüglich des strafbaren Umgangs mit Daten (§§ 202a bis 202c, 303a und 303b StGB) sind nicht einschlägig.

  3. Der Betrugstatbestand des § 263 StGB greift nicht, weil es an der Täuschung und Irrtumserregung einer natürlichen Person fehlt.”

In Betracht kommt aber eine Strafbarkeit nach § 263a StGB.
Da offensichtlich weder § 263a I 1. Fall StGB noch § 263a 2. Fall StGB einschlägig sind, ist zunächst ist eine Strafbarkeit nach § 263a I 3. Fall StGB (unbefugte Verwendung von Daten) zu prüfen. Dazu müsste die unbekannte Person unbefugt Daten verwendet haben. Bekanntlich ist die Auslegung des Merkmals “unbefugt“ umstritten.
Nach der subjektiven Auslegung handelt unbefugt, wer Daten gegen den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Berechtigten verwendet. Danach hätte die unbekannte Person unbefugt gehandelt.
Die Vertreter der computerspezifischen Auslegung verlangen einen besonderen Bezug zum Datenverarbeitungsvorgang. Die unbefugt verwendeten Daten müssen entweder computerspezifische Abläufe selbst betreffen oder der entgegenstehende Wille des Berechtigten muss im Datenverarbeitungsvorgang seinen Niederschlag gefunden haben. Beides liegt hier nicht vor.
Nach der herrschenden betrugsnahen Auslegung ist eine Datenverwendung nur dann unbefugt, wenn sie gegenüber einer natürlichen Person Täuschungscharakter hätte. Der BGH hat dazu ausgeführt:

“Nach der gesetzgeberischen Intention ist der Anwendungsbereich dieser Tatbestandsalternative durch die Struktur- und Wertgleichheit mit dem Betrugstatbestand bestimmt. Mit § 263a StGB sollte die Strafbarkeitslücke geschlossen werden, die dadurch entstanden war, dass der Tatbestand des Betrugs menschliche Entscheidungsprozesse voraussetzt, die bei dem Einsatz von EDV-Anlagen fehlen. Eine Ausdehnung der Strafbarkeit darüber hinaus war nicht beabsichtigt (vgl. GE der BReg., Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität [2. WiKG], BT-Dr 10/318, S. 19; Bericht des Rechtsausschusses, BT-Dr 10/5058, S. 30). Dem entspricht eine betrugsnahe oder betrugsspezifische Auslegung, wie sie auch von der überwiegenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung vertreten wird. Danach ist nur eine solche Verwendung von Daten „unbefugt”, die täuschungsäquivalent ist.” (BGH NJW 2002, 905)

Gestützt auf diese h.M. verneint das LG Gießen eine Strafbarkeit nach § 263a I 3. Fall:

“Wie das Amtsgericht bereits ausgeführt hat, ist die Verwendung der Daten dann unbefugt, wenn sie gegenüber einer natürlichen Person Täuschungscharakter hätte. Abzustellen ist dabei auf die Berechtigte des Datenverarbeitungsvorgangs, die Fa. [I], der gegenüber die unbekannte Person den Code zur Einlösung des Gutscheins eingab. Nicht erfasst von § 263a StGB ist die nur im Verhältnis zu einem Dritten - hier der Anzeigeerstatterin – unberechtigte Datenverwendung.

Mit der Eingabe des Gutschein-Codes hat die unbekannte Person die Fa. [I] bzw. deren Mitarbeiter aber nicht über eine entsprechende Berechtigung getäuscht. Denn durch die Einlösung des Gutscheins wird gegenüber der Fa. [I] nicht zugleich konkludent die entsprechende materielle Berechtigung, d.h. der Anspruch, behauptet. Ein Mitarbeiter der Fa. [I] hätte sich bei Vorlage eines entsprechenden Gutscheins in Papierform nämlich keine Gedanken über die Berechtigung des Inhabers des Gutscheins gemacht, sondern lediglich überprüft, ob der Gutschein von der Fa. [I] an den Einlöser ausgegeben wurde. Denn die Fa. [I] wird mit der Einlösung von ihren Leistungspflichten frei.

Auch eine Täuschung durch Unterlassen liegt nicht vor. Eine solche betrugsspezifisch täuschende Verwendung des Gutscheins wäre nur gegeben, wenn die unbekannte Person auf die fehlerhafte Zusendung des Gutscheins hätte hinweisen müssen. Eine Strafbarkeit durch Unterlassen eines solchen Hinweises setzt eine entsprechende Offenbarungspflicht im Sinne einer Garantenpflicht nach § 13 StGB voraus. Eine Garantenpflicht besteht jedoch nicht. Es ist weder eine gesetzliche noch eine vertragliche Pflicht der unbekannten Person gegenüber der Fa. [I] zur Offenbarung der fehlenden materiellen Berechtigung ersichtlich. Auch hat die unbekannte Person die „Gefahrenlage“ nicht herbeigeführt, da ihr der Gutschein unaufgefordert zugesandt wurde. Schließlich ergibt sich eine solche Pflicht nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, da auch insoweit ein besonders Vertrauensverhältnis vorausgesetzt wird.”

Schließlich bleibt noch § 263a I 4. Fall StGB (sonstige Einwirkung auf den Ablauf). Doch auch dieser Tatbestand sei nicht erfüllt:

“Zwar kommt dieser Variante nach dem gesetzgeberischen Konzept eine Auffangfunktion für solche strafwürdigen Manipulationen zu, die nicht unter die Varianten 1 bis 3 fallen. Jedoch stellt das datenverarbeitungstechnisch richtige Einlösen eines Gutscheins keine derartige Manipulation dar. Gegenüber der Fa. [I] wird nicht unbefugt gehandelt. Denn auf die Anweisung für den Verarbeitungsvorgang wird nicht manipulativ eingewirkt, auch der maschinelle Ablauf des Programms wird nicht verändert. Das lediglich im Verhältnis zur Anzeigeerstatterin materiell unberechtigte Verwenden des Gutscheins wird von § 263a StGB auch in dieser Variante nicht erfasst.”

Eine Entscheidung, die sich - nicht zuletzt wegen des strafprozessualen Einstiegs - insbesondere für eine mündliche Prüfung eignet.