
Wie ist die Haftungsverteilung bei einer Kollision eines Pedelec-Fahrers mit einem Pkw?
Ein Pedelec-Fahrer ist vom Fahrradweg auf die für Pkw zu benutzende Fahrbahn gewechselt. Kurz danach ist es zu einer Kollision mit einem nachfolgenden Pkw gekommen. Wie ist die Haftungsverteilung?
A. Sachverhalt
Der Kläger (K) befuhr mit seinem Pedelec mit elektrischer Tretunterstützung bis 25 km/h auf dem linksseitig gelegenen gemeinsamen Geh- und Radweg, welcher für beide Fahrtrichtungen freigegeben war, die Straße. Der Beklagte zu 1 (B1) befuhr mit einem Pkw, dessen Halter er nicht war, die Straße in dieselbe Richtung. Kurz nachdem K von dem Radweg nach rechts auf die Straße gefahren ist, ist er von B1 angefahren worden. Dabei hat er unter anderem eine Wirbelfraktur erlitten, welche zu einer Querschnittslähmung geführt hat, sodass er dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Die Beklagte zu 2 (B2) ist die Haftpflichtversicherung für den Pkw des B1. K steht mittlerweile unter Betreuung.
K begehrt die Feststellung, dass B1 und B2 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem K allen materiellen und immateriellen Schaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen und zur Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 4.200,00 Euro verpflichtet sind.
B. Entscheidung
K begehrt insofern eine entsprechende Feststellung und macht einen Schadensersatzanspruch geltend.
Deliktische Ansprüche
(Vertragliche, vertragsähnliche oder dingliche Ansprüche kommen nicht in Betracht). Es könnte ein deliktischer Anspruch bestehen.
A. Zulässigkeit der Klage
Die Klage müsste zunächst zulässig sein.
I. Prozessfähigkeit
Die Tatsache, dass K nunmehr unter Betreuung (vgl. § 1814 BGB) steht, hindert nicht seine Prozessfähigkeit. Nach § 53 I ZPO richtet sich die Prozessfähigkeit von Betreuten nach den allgemeinen Vorschriften und somit nach §§ 104 f. BGB. Mangels entgegenstehender konkreter Anhaltspunkte ist dabei ein Betreuter grundsätzlich als geschäftsfähig anzusehen nach §§ 106, 2 BGB und somit auch als prozessfähig.
II. Feststellungsinteresse
Ferner ist das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben, da die Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen war.
Er war in diesem Fall weder gehalten, sein Klagebegehren hinsichtlich der bereits entstandenen Schäden mittels Leistungsklage zu verfolgen, noch musste er seinen Feststellungsantrag nachträglich in einen Leistungsantrag abändern, wenn dies aufgrund der Schadensentwicklung im Laufe des Rechtsstreits möglich wurde …
Zwischenergebnis
Die Klage ist zulässig.
B. Begründetheit der Klage
Die Klage müsste auch begründet sein.
I. Anspruch gegen B1 nach §§ 18 I 1, 7 I StVG
K könnte gegen B1 einen entsprechenden Anspruch nach § 18 I 1 StVG haben. Danach ist in den Fällen des § 7 I StVG auch der Führer des Kraftfahrzeugs zum Ersatz des Schadens nach §§ 8-15 StVG verpflichtet.
Ein Schadensersatzanspruch nach § 7 I StVG setzt voraus:
Rechtsgutsverletzung, Halter, Betrieb eines Kfz, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Betrieb eines Kfz), kein Ausschluss nach § 7 II StVG, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden).
1. Rechtsgutsverletzung
Eine Rechtsgutsverletzung als Körper- und Gesundheitsverletzung des Geschädigten K ist durch den Verkehrsunfall erfolgt.
2. Halter
Der Schädiger B1 (und Versicherungsnehmer von B2) ist zwar nicht Halter des gegnerischen Kfz, aber dessen Führer gewesen.
3. Betrieb eines Kfz
Die Körper- und Gesundheitsverletzung muss bei dem Betrieb des Kfz eingetreten sein. B1 fuhr mit dem Kfz zur Zeit des Unfalls. Folglich ist der Schaden bei dem Betrieb des Kfz eingetreten.
4. Haftungsbegründende Kausalität
Die haftungsbegründende Kausalität ist die Kausalität zwischen der Rechtsgutsverletzung und dem Betrieb eines Kfz. Auch diese ist gegeben.
5. Kein Ausschluss nach § 7 II StVG
Ein Ausschluss der Ersatzpflicht nach § 7 II StVG aufgrund einer Verursachung durch höhere Gewalt ist nicht gegeben.
6. Schaden
Ferner müsste ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. Nach § 249 I BGB kann grundsätzlich Naturalrestitution verlangt werden. Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann der Differenzschaden als Schadensersatz gefordert werden. Nach § 249 II 1 BGB kann statt der Herstellung der dazu erforderliche Geldbetrag bzw. zunächst die entsprechende Feststellung verlangt werden.
7. Haftungsausfüllende Kausalität
Ferner ist die haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden) gegeben im Sinne der Äquivalenz, der Adäquanz und nach dem Schutzzweck der Norm.
8. Beweislast
Die Beweislast der anspruchsbegründenden Voraussetzungen trägt der Anspruchsteller und somit K. Dies gilt auch im Rahmen des § 7 I StVG. Diesen Beweis hat K erbracht.
9. Mitverschulden
K könnte jedoch ein Mitverschulden treffen.
a) Kein Mitverschulden nach §§ 17, 18 StVG
Den K trifft kein Mitverschulden nach §§ 17, 18 StVG, da es sich bei dem Pedelec nicht um ein Kraftfahrzeug im Sinne des StVG handelt. Bei dem Pedelec des K handelt es sich um ein Fahrrad mit elektrischer Tretunterstützung bis 25 km/h. Damit ist es kein Kraftfahrzeug nach § 1 III 1 StVG. Nur falls die elektrische Tretunterstützung bis 45 km/h erfolgt, handelt es sich um ein Kraftfahrzeug im Sinne von StVG und StVO.
b) Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB
Jedoch trifft K ein Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB. Zum einen hat K gegen § 10 S. 1 StVO verstoßen.
Bei der Einfahrt vom Geh-/ Radweg auf die Fahrbahn hatte der Kläger die Sorgfaltsanforderungen des § 10 Satz 1 StVO zu beachten …
Dem ist K nicht gerecht geworden. Ferner hat er gegen § 2 IV 2 StVO verstoßen. Danach besteht eine Pflicht zur Nutzung der Radwege nur, wenn dies durch die Zeichen 237, 240 oder 241 angeordnet ist.
Die Anordnung der Radwegebenutzungspflicht beruht auf dem unfallverhütenden Entmischungsgrundsatz …. Durch die weitgehende Trennung der Verkehrsarten sollen in erster Linie die für Radfahrer bestehenden spezifischen Gefährdungen ausgeschaltet oder wenigstens gemindert und auch besondere Gefahrenlagen für Kraftfahrer bekämpft werden, die sich mit Radfahrern auf der Fahrbahn – wegen des Verbots der Fahrbahnnutzung unerwartet – auseinandersetzen müssen …
Vorliegend bestand das Zeichen 240, welches die gemeinsame Nutzung als Geh- und Radweg anordnete. Der Radweg endete auch nicht vor der Unfallstelle. Insofern hätte K den Radweg weiter befahren müssen.
Dass Vegetation in den Weg hineinragte, änderte hieran nichts. Zwar kann ein Radfahrer von dem grundsätzlichen Benutzungszwang befreit sein, wenn ihm die Benutzung des Radweges wegen dessen Beschaffenheit oder Zustands (z. B. tiefer Schnee, Eis, Löcher) unzumutbar ist … So liegt es hier aber nicht. …. Dem Kläger war es zudem zumutbar, zum Passieren der Vegetation entweder kurzzeitig abzusteigen oder den äußersten linken Fahrbahnrand zu befahren und danach unmittelbar wieder auf den Radweg aufzufahren …. Durch die verbotswidrige Nutzung der Fahrbahn hat der Kläger eine wesentliche Unfallursache gesetzt und selbst zu seiner Gesundheitsverletzung beigetragen, was gemäß § 254 BGB zu berücksichtigen ist…
Aber auch B1 trifft ein Verschulden an dem Unfall durch einen ursächlichen Verstoß gegen § 1 II StVO. Danach hat sich derjenige, der am Verkehr teilnimmt, unter anderem so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt oder gefährdet wird. B1 hat den Unfall dadurch verursacht,
dass er völlig unzureichend auf den in seinem unmittelbaren Blickfeld bereits längere Zeit auf der rechten Fahrbahn fahrenden Kläger reagiert hat.
Dass K bereits längere Zeit auf der rechten Fahrbahn vor der Kollision gefahren ist, ergibt sich aber nicht aus den GPS-Daten seiner „Runtastic-App“. Diese Daten geben
keinen verlässlichen Aufschluss über die konkrete Annäherung des Klägers an die Unfallstelle. …Der Sachverständige Dr. … hat … nachvollziehbar und schlüssig ausgeführt, dass es sich bei der schematisch dargestellten Fahrroute in der „Runtastic-App“ in der Regel um Berechnungen in der verwendeten App handelt, die nur dann hinsichtlich ihrer Genauigkeit überprüft werden können, wenn die konkreten Geopositionsdaten im Roh- bzw. Originalformat vorliegen. Diese liegen hier nicht vor. Ferner hat der Sachverständige ausgeführt, dass eine nachträgliche Feststellung der Genauigkeit der Aufzeichnung von Geopositionsdaten in der Regel nie eindeutig ist, da die Genauigkeit der Positionsbestimmung von zahlreichen Faktoren zur Ereigniszeit abhängt (Störeinflüsse bei der Kommunikation zwischen Geopositions-Satelliten und Empfangsgeräten, lokalen Gegebenheiten, Anzahl und Konstellation der Satelliten, physikalische Aufzeichnungsparameter und Berechnungsalgorhytmen), die nicht abschließend bekannt bzw. rekonstruierbar sind.
Dass K jedoch schon einige Zeit vor dem Unfall auf der rechten Fahrbahn gefahren ist und B1 darauf dementsprechend nicht angemessen reagiert hat, ergibt sich jedoch aus der Schilderung des K,
der insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen hat,…
und
den glaubhaften Bekundungen der Zeugin ….
Im Rahmen der Haftungsabwägung kommt eine Alleinhaftung des K nicht in Betracht. Dies ist zwar möglich,
wenn er die im Straßenverkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und quasi blindlings auf die Fahrbahn einfährt …. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem Senat steht ein solch grob verkehrswidriges Verhalten des Klägers aber nicht fest. Das Verschulden des Klägers überwiegt unter den gegebenen Umständen nicht die durch das Verschulden des Erstbeklagten erhöhte Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs. Damit erscheint eine Haftungsteilung angemessen.
Ergebnis
K kann die Feststellung verlangen, dass B1 verpflichtet ist, dem K 50 % von allen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen und zur Zahlung von den hälftigen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 2.100,00 Euro verpflichtet ist nach §§ 18 I 1, 7 I StVG.
II. Anspruch gegen B2 § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG
Dementsprechend kann K auch die Feststellung verlangen, dass B2 als Haftpflichtversicherung für den Pkw des B1 verpflichtet ist, dem K 50 % von allen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen und zur Zahlung von den hälftigen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 2.100,00 Euro verpflichtet ist nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG, § 1 S. 1 PflVG, § 7 I StVG.
Gesamtergebnis
K kann die Feststellung verlangen, dass B1 und B2 als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem K 50 % der materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen und zur Zahlung von den hälftigen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 2.100,00 Euro verpflichtet sind.
III. § 823 I BGB; § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO
(Weitergehende Ansprüche aus § 823 I BGB und § 823 II BGB i.V.m. § 1 II StVO konnten und mussten vom OLG nicht geprüft werden.
Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 I BGB setzt voraus:
Rechtsgutsverletzung, Handlung, haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden.
Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 II BGB setzt voraus:
Schutzgesetz, Verletzung (Handlung), haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutsverletzung und Schaden).
C. Prüfungsrelevanz
Das Deliktsrecht in Form der Gefährdungshaftung nach §§ 18 I 1, 7 I StVG ist nicht selten Gegenstand von Prüfungsklausuren. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um die Frage der Haftungsverteilung bei einem Verkehrsunfall mit einem Pedelec und einem Kfz.
Die Prüfungsrelevanz der Entscheidung ergibt sich daraus, dass ein Schadensersatzanspruch nach §§ 18 I 1, 7 I StVG in Kombination mit einem Direktanspruch gegen den Versicherer nach § 115 VVG zu prüfen ist und das Mitverschulden über § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB zu prüfen ist.
(OLG Saarbrücken Urt. v. 23.8.2024 – 3 U 33/23)
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