
Kann sich der Verkäufer eine beliebig lange Lieferzeit vorbehalten?
Störungen in der Lieferkette können zu erheblichen Verzögerungen führen. Verkäufer versuchen, dieses Risiko durch entsprechende Vertragsgestaltung zu minimieren. Das AG Hanau entschied nun, dass sich ein Fahrzeughändler keine beliebig lange Lieferzeit per AGB vorbehalten kann. Wenn er ein bestelltes Fahrzeug nicht innerhalb einer angemessenen Frist liefert, kann der Käufer vom Kaufvertrag zurücktreten, ohne dass eine vereinbarte Stornierungsgebühr anfällt.
Was war geschehen?
Der Käufer K kaufte am 25.07.2022 einen Neuwagen für 20.759,88 Euro von der Verkäuferin V. Die Verkäuferin konnte keinen Liefertermin nennen, da der Hersteller wegen Störungen der Lieferketten keine verbindlichen Zusagen machen konnte. Lieferfristen von über einem Jahr waren möglich. Dies teilte die Verkäuferin V dem Käufer K im Verkaufsgespräch mit. Der Kaufvertrag kam unter Einbeziehung der AGB der Verkäuferin zustande, die den Passus enthielten: “Aufgrund der aktuellen Liefersituation werden alle Bestellungen ohne Liefertermin und unverbindlich vorbehaltlich einer Produktion bestätigt.”
Die AGB der Verkäuferin verpflichteten den Käufer zudem, den Kaufgegenstand innerhalb von 14 Tagen ab Zugang einer Bereitstellungsanzeige abzunehmen. Bei Nichtabnahme sollte ein pauschalierter Schadensersatz in Höhe von 15 % des Kaufpreises fällig werden. Der Käufer K erkundigte sich von August 2022 bis Juni 2023 monatlich nach dem Liefertermin und setzte der Verkäuferin V mit Schreiben vom 16.06.2023 eine Frist bis zum 03.07.2023. Mit Schreiben vom 12.07.2023 erklärte der Käufer den Rücktritt vom Kaufvertrag. Die Verkäuferin V forderte daraufhin Stornogebühren i.H.v. 3.113,98 Euro. Mit der Herstellung des Fahrzeugs war noch nicht begonnen worden. Der Käufer beantragte nun gerichtlich festzustellen, dass der Verkäuferin kein Anspruch auf Zahlung der Stornogebühren zusteht.
Entscheidung des Gerichts
Das AG Hanau (Urteil vom 31.01.2024 – 39 C 111/23) gab der Feststellungsklage vollumfänglich statt. Der Verkäuferin stünde kein Anspruch auf Zahlung des Schadensersatzes in Form der Stornogebühr zu, da der Kläger wirksam vom Kaufvertrag gemäß §§ 323, 433 BGB zurückgetreten sei.
Das Gericht prüfte dann im klassischen Prüfungsschema, ob die Voraussetzungen des Rücktritts vorliegen. Wie Du in der Vorlesung Schuldrecht AT gelernt hast, setzt der Rücktritt die Nichtleistung nach Ablauf einer angemessenen Frist trotz Fälligkeit und Durchsetzbarkeit des Anspruchs voraus.
Das Gericht stellte zunächst die Fälligkeit des Anspruchs fest. Hier liegt direkt ein Schwerpunkt des Falles. Gem. § 271 I BGB gilt, dass wenn eine Zeit für die Leistung weder bestimmt noch aus den Umständen zu entnehmen ist, der Gläubiger die Leistung sofort verlangen kann.
Hier prüft das Gericht nun, ob in den AGB der Verkäuferin eine Bestimmung für die Leistungszeit liegt und kommt zum Ergebnis, dass die Klausel unwirksam ist. Nach § 308 Nr. 1 BGB sei in AGB insbesondere eine Bestimmung unwirksam, durch die sich der Verwender für die Annahme oder Ablehnung eines Angebots oder die Erbringung einer Leistung unangemessen lange oder nicht hinreichend bestimmte Fristen vorbehält. Der vorliegenden Klausel lässt sich nicht konkret oder annähernd entnehmen, wann die Lieferung des Neufahrzeugs erfolgt, weil die Herstellung des Fahrzeugs als Voraussetzung für die Lieferung offengehalten wird. Weil die Klausel unwirksam ist, tritt die Fälligkeit entsprechend der Regelung des § 271 I BGB sofort ein.
Du siehst also, dass sich ein Schwerpunkt des Falles im Prüfungspunkt „Fälligkeit“ abspielt. Hier dockt das Gericht dann die Prüfung an, ob durch die AGB eine Vereinbarung über den Leistungszeitraum getroffen wurde. Durch diesen Kniff und die Verknüpfung der AGB-Kontrolle mit dem allgemeinen Leistungsstörungsrecht wird die Entscheidung für die Prüfungsämter interessant. Hier kann das Prüfungsamt variieren und hätte z.B. auch eine bestimmte Leistungsfrist von einem Jahr wählen können. Ob diese dann auch angemessen im Sinne von § 308 Nr. 1 BGB ist, muss dann durch Auslegung ermittelt werden. Hier kommt es dann auf eine gute Argumentation mit dem Sachverhalt an.
Neben der Fälligkeit und Durchsetzbarkeit setzt das Rücktrittsrecht noch den Ablauf einer angemessenen Frist voraus.
Kurz noch einmal für Dich als Erinnerung:
Die Angemessenheit bestimmt sich aufgrund der Umstände des Einzelfalles nach objektiven Maßstäben und der Interessenlage der Parteien. Aber auch wenn der Gläubiger eine zu kurze Frist setzt, wird eine angemessene Frist in Lauf gesetzt.
Hier gilt es nun zu argumentieren und die Interessen der Parteien darzulegen. Aber keine Sorge hierfür wird Dir der Sachverhalt genügend Futter geben! Wichtig ist, dass Du Interessen beider Parteien darstellst und nicht einseitig argumentierst. Sonst schneidest Du Dir wertvolle Punkte ab. Im Ergebnis sind im Zweifel beide Ergebnisse vertretbar.
Hier hat das AG Hanau mustergültig die Interessen beider Parteien dargestellt und gegeneinander abgewogen: Bei der Bestimmung einer angemessenen Frist sei aufseiten des Klägers zu berücksichtigen, dass er ein zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht lieferbares Neufahrzeug bestellt habe, allerdings sein Kapital durch den Kaufvertrag gebunden habe. Aufseiten der Beklagten sei das Interesse an dem Handel mit noch zu produzierenden Neufahrzeugen zu berücksichtigen. Zudem treffe die Beklagte das Risiko ihrer Leistungsfähigkeit. Weiterhin seien die Mitteilungen der Beklagten von Bedeutung, wonach die Bestellung aufgrund der Liefersituation ohne Liefertermin und unverbindlich vorbehaltlich einer Produktion erfolge. Nach Auffassung des Gerichts liege die angemessene Frist im vorliegenden Fall im Bereich von einem Jahr, die auch erfolglos verstrichen sei.
Letztlich stellte das Gericht fest, dass die Verkäuferin keinen Anspruch auf Schadensersatz in Form der Stornogebühren habe. Es ist bereits fraglich, ob man von einer „Nichtabnahme“ sprechen könne, wenn der abzunehmende Gegenstand noch gar nicht existiere. Jedenfalls fehle es am Verschulden des Käufers, da diesem nicht vorgeworfen werden kann, ein Neufahrzeug nicht abzunehmen, das noch nicht existiert.
Prüfungsrelevanz
Die Prüfungsämter allerorts lieben Autos. Die Entscheidung ist von hoher Relevanz, da sie sich im „Kernbereich“ des Pflichtfachstoffes im Studium zwischen AGB-Recht und allgemeinem Schuldrecht bewegt. Gerade die Verzahnung der AGB-Kontrolle mit den allgemeinen Rücktrittsvoraussetzungen bietet dem Prüfungsamt die Möglichkeit, Systemverständnis zu prüfen. Hier gilt es, Ruhe zu bewahren, in den bekannten Schemata zu bleiben und sich von der Klausur leiten zu lassen. Es kommt darauf an, die verschiedenen „Bausteine“ der Klausur an die richtige Stelle im Prüfungsschema zu setzen.
Neben den materiell-rechtlichen Besonderheiten weist die Entscheidung auch eine prozessuale Besonderheit auf. Der Käufer klagte auf Feststellung, dass der Verkäuferin keine Ansprüche gegen den Verkäufer zustehen. Es handelt sich um eine sogenannte negative Feststellungsklage. Diese hat hinsichtlich ihrer Zulässigkeit die Besonderheit, dass zusätzlich ein Feststellungsinteresse nach § 256 I ZPO erforderlich ist. Das Feststellungsinteresse ergibt sich bei der negativen Feststellungsklage daraus, dass sich der Beklagte des betreffenden Anspruchs berühmt. Wichtig ist auch, die Darlegungs- und Beweislast nicht zu verwechseln. Diese richtet sich nach materiellem Recht, sodass der Gläubiger die anspruchsbegründenden Tatsachen darlegen und beweisen muss, obwohl er Beklagter ist.
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