Wen treffen die höheren Sorgfaltspflichten?
Verkehrsunfälle sollten zu Deiner juristischen Grundausstattung gehören und sind Dauerbrenner in Klausuren und Examen. Grund dafür ist, dass solche Fälle die Gerichte permanent beschäftigen. Bei den Klausurklassikern ist in der Regel mindestens ein Pkw beteiligt. Eher untypisch dürften die Fälle sein, in denen Fußgänger und Radfahrer miteinander kollidieren. Im Mittelpunkt solcher Fälle steht dann die Frage, wie sich die Haftungsquote zwischen diesen Verkehrsteilnehmern aufteilt. Treffen die Radfahrer automatisch die höheren Sorgfaltspflichten? Das Landgericht Wiesbaden hat diese Frage in seinem Urteil vom 02.07.2024 (Az. 9 S 3/24) eindeutig beantwortet.
Was ist passiert?
Am frühen Nachmittag an einem Märztag ging der Kläger, der Ultramarathon betreibt, mit seiner Tochter zusammen am Rhein joggen. Seine Tochter begleitete ihn auf Inline-Skates und fuhr ein Stück vor ihrem Vater. Bei dem Geh- und Radweg handelte es sich um einen ca. 3 Meter breiten asphaltierten Weg, der weitestgehend geradeaus führt und mit dem Zeichen 240 der StVO beschildert ist. Im Verlauf näherte sich der Beklagte von hinten auf seinem Rennrad dem Kläger und seiner Tochter. In dem Moment, als der Beklagte den Versuch unternahm, den Kläger links zu überholen, machte der Kläger ohne Schulterblick einen Schritt nach links, um zu wenden. Infolgedessen kam es zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu einem Körperkontakt. Sowohl der Kläger als auch der Beklagte stürzten zu Boden. Der Beklagte kündigte sein Überholmanöver im Vorfeld nicht durch Betätigung seiner Fahrradklingel an. Der Kläger erlitt durch den Sturz eine leichte Gehirnerschütterung sowie Schürfwunden am Ohr und am Kiefer.
Der Kläger macht nun gerichtlich einen Schmerzensgeldanspruch i.H.v. 1.000 Euro geltend.
Rechtlicher Hintergrund
Das Landgericht Wiesbaden sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld i.H.v. 500 Euro gemäß §§ 823 I, 253 II BGB zu und wies die Klage im Übrigen ab.
Das Gericht musste sich damit auseinandersetzen, inwieweit sich die Sorgfaltspflichten im Straßenverkehr im Verhältnis zwischen Radfahrern und Fußgängern aufteilen und wessen Verursachungsbeitrag schwerer ins Gewicht fällt.
Bei dem Vorschriftszeichen, welches eine Straße als gemeinsamen Fuß- und Radweg kennzeichnet (Zeichen 240), treffen laut LG Wiesbaden gemäß § 41 StVO Radfahrer die höheren Sorgfaltspflichten als Fußgänger. Denn für den Radfahrer gelte auch auf einem gemeinsamen Geh- und Radweg grundsätzlich das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 II StVO. Fußgänger hingegen dürften den Weg auf der gesamten Breite nutzen und auch stehen bleiben. Aufgrund dessen bestehe für Fußgänger gerade keine Pflicht zur Umschau nach Radfahrern, weil diese eben keinen Vorrang auf einem gemeinsamen Geh- und Radweg hätten. Vielmehr dürften Fußgänger darauf vertrauen, so das Landgericht, dass Radfahrer durch Betätigung der Fahrradklingel auf sich aufmerksam machen würden. Die Pflicht zur Verständigung treffe vorrangig den Radfahrer.
Demzufolge könne dem Beklagten durch sein Überholmanöver ein höherer Verursachungsbeitrag zur Last gelegt werden. Er konnte als Einziger die gesamte Szenerie überblicken und habe sich nicht durch Klingeln bemerkbar gemacht, bevor er zu seinem Überholvorgang angesetzt habe. Für das Gericht ist nicht ersichtlich, warum der Beklagte davon ausgegangen sei, dass der Kläger und seine Tochter ihre bisherige Fortbewegungsrichtung strikt einhalten würden. Ebenso wenig sei nachvollziehbar, wie der Beklagte davon ausgehen konnte, dass er auf einer Wegbreite von lediglich 3 m den Kläger und seine Tochter gefährdungsfrei überholen hätte können. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang, dass die Tochter mit Inline-Skates unterwegs war und daher durch ihren sogenannten Schlittschuhschritt eine gewisse Spurbreite für sich in Anspruch nahm.
Der Beklagte konnte darüber hinaus nicht darlegen und beweisen, dass er während des Überholvorgangs die Geschwindigkeit situationsgerecht angepasst habe. Das Unfallgeschehen und die Unfallverletzungen deuten laut dem Landgericht vielmehr darauf hin, dass der Beklagte nicht in Schrittgeschwindigkeit und jederzeitiger Bremsbereitschaft fuhr.
Der Kläger müsse sich jedoch ein anspruchskürzendes Mitverschulden gemäß § 254 I BGB anrechnen lassen. Denn dieser habe ohne vorherigen Schulterblick zum Wendemanöver angesetzt und sei einen Schritt nach links ausgeschert. Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme gemäß § 1 II StVO erfordere es jedoch, dass sich der Verkehrsteilnehmer zuvor versichert, dass er sein Vorhaben gefahrlos durchführen könne. Das Recht, den Geh- und Fußweg in voller Breite zu nutzen, gelte grundsätzlich nur für die kontinuierliche Vorwärtsbewegung. „Sollte die Fortbewegungsrichtung aber mittels eines Wendemanövers geändert werden, so gebiete die damit verbundene Gefahrerhöhung für den entgegenkommenden Verkehr […] die vorherige […] Umschau bzw. Rückschau“.
Die Höhe des Schmerzensgelds hat das Landgericht gemäß § 253 II BGB nach einer umfassenden Abwägung unter Berücksichtigung des Mitverschuldens des Klägers, der Schwere der Verletzungen und der Funktion des Schmerzensgelds auf 500 Euro bestimmt. Maßgeblich hierfür war, dass der Kläger lediglich eine leichte Gehirnerschütterung erlitten habe, weder an Bewusstlosigkeit, Amnesie, starken Kopfschmerzen noch an Schwindel und Übelkeit gelitten habe.
Prüfungsrelevanz
Mach Dir bei Verkehrsunfällen zunächst einmal bewusst, ob an dem Unfall ein Pkw beteiligt war oder nicht. Davon hängt nämlich ab, ob Du im StVG landest oder im Deliktsrecht. Im StVG hat der Gesetzgeber mit §§ 7 ff. StVG spezielle Anspruchsgrundlagen geschaffen. § 823 BGB wird dann nur am Rande geprüft. § 823 BGB ist hingegen dann die zentrale Anspruchsnorm, wenn an dem Unfall kein Pkw beteiligt ist. Im Vordergrund solcher Verkehrsunfall-Klausuren steht regelmäßig die Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge der Beteiligten. Bei Pkw-Fahrern gilt, dass jeder Fahrer grundsätzlich erstmal eine eigene Betriebsgefahr von 50 % für seinen Pkw trägt. Je nachdem wie schwerwiegend die dann hinzukommenden Verstöße gegen die StVO sind, kann sich diese Quote verschieben. Maßgeblich hierfür sind dann die Vorschriften der StVO, die die allgemeinen Verkehrsregeln des Straßenverkehrs beinhalten. Entscheidend ist dann, dass Du prüfst, wer gegen welche Vorschriften verstoßen hat und wie diese Verletzungen ins Gewicht fallen. Die sogenannten Anscheinsbeweise, die in einigen Vorschriften der StVO geregelt sind, können Dir dabei eine praktische Hilfe sein. Vergiss aber nicht, dass die anderen Verkehrsteilnehmer durchaus auch ein Mitverschulden treffen kann. Weiterhin solltest Du in solchen Klausuren Deinen nächsten Schwerpunkt auf die Bemessung des Schmerzensgeldes gemäß § 253 II BGB legen. Denn hier ist eine besondere Abwägung unerlässlich. Welche Kriterien für die Abwägung maßgeblich sind, solltest Du im Schlaf beherrschen können. Merke Dir, dass Du unter dem Prüfungspunkt “Schaden” Schmerzensgeld niemals nur mit einer Floskel bejahen solltest.
Bei diesen Klausuren solltest Du auf die oben genannten Prüfungspunkte einen Schwerpunkt legen und hier ausführlich und einzelfallbezogen argumentieren. Das hilft Dir, um wertvolle Punkte in solchen Klausuren zu sammeln.
Resümee
Bei Zeitproblemen solltest Du versuchen, dass Du auf die oben angesprochenen Punkte: Verursachungsbeitrag, Mitverschulden, Bemessung des Schmerzensgelds hinarbeitest. In aller Regel wollen die Klausursteller:innen zu diesen Prüfungspunkten etwas hören. Wichtig ist, dass Du auf dem Schirm hast, dass sich “das Mitverschulden des Geschädigten eben nicht quotal auf die Höhe des Schmerzensgeldes auswirkt, sondern in dessen absoluter Bemessung zu berücksichtigen ist”.
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