
Mit der Verfahrensrüge wird die Verletzung von Verfahrensrecht geltend gemacht. Der BGH musste sich mit der Verletzung des § 258 II Hs. 2 StPO (Gewährung des letzten Wortes) und § 22 Nr. 5 StPO analog (Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen Staatsanwalts) auseinandersetzen. Da Verfahrensrügen für die Revisionsklausur im zweiten Staatsexamen wichtig sind, wollen wir uns diese Entscheidung einmal ansehen.
A. Sachverhalt
Der Angeklagte K war vom Landgericht Schweinfurt wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen schuldig gesprochen worden.
In der Hauptverhandlung hielten nach Abschluss der Beweisaufnahme zunächst die Vertreter der Staatsanwaltschaft sowie die Vertreter der Nebenkläger ihre Schlussvorträge. Am nächsten Tag folgte der Strafverteidiger des K und beantragte Freispruch, in seinem letzten Wort schloss sich der Angeklagte, der seine Schuld bestritten hatte, den Ausführungen seines Verteidigers an. Dann hielten die Verteidiger der Mitangeklagten D und N ihre Schlussvorträge. Im Anschluss erhielten D und N das letzte Wort. K wurde nicht erneut Gelegenheit zum letzten Wort gegeben, auch ergriff er es nicht eigenständig noch verzichtete er darauf.
Zudem wirkte am Verfahren als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft die Staatsanwältin R mit. Sie hatte als Berichterstatterin an der ersten, später allerdings ausgesetzten Hauptverhandlung (§§ 228, 229 StPO) mitgewirkt und hatte unter anderem an der Bestellung des für die nunmehrige Hauptverhandlung tätigen Sachverständigen mitgewirkt.
Die Verteidigung rügte eine Verletzung des § 258 II Hs. 2 StPO sowie des sich aus Art. 6 I MRK ergebenden Fair-Trail-Grundsatzes.
B. Entscheidung
Der BGH (Urt. v. 17.04.2024 – 6 StR 468/23) bejahte eine Verletzung des § 258 II Hs. 2 StPO und das Beruhen des Urteils auf diesem Fehler.
I. Das letzte Wort gem. § 258 II Hs. 2 StPO
§ 258 StPO dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs der Verfahrensbeteiligten. Diese sollen die Möglichkeit haben, zum Ergebnis der Verhandlung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Die Schlussvorträge, vor allem aber auch das letzte Wort des Angeklagten gehören gem. § 261 StPO zum Inbegriff der Hauptverhandlung und müssen bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden. (Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 258 Rn. 1)
Natürlich kann bei mehreren Angeklagten nicht jeder das letzte Wort haben. Es liegt im Ermessen des Gerichts, in welcher Reihenfolge es die Angeklagten zu Wort kommen lässt. Wesentlich ist aber, dass zwischen den Ausführungen der Verteidigung, der Staatsanwaltschaft oder der Nebenkläger und der Beratung des Gerichts, § 260 I StPO, das letzte Wort des Angeklagten stehen muss.
Hier war dem Angeklagten nach dem Plädoyer seines Verteidigers zwar die Möglichkeit gegeben worden, das letzte Wort zu ergreifen. Diese Möglichkeit hätte ihm aber erneut nach den Plädoyers der Verteidiger der Mitangeklagten gegeben werden müssen. Damit liegt ein Verstoß gegen § 258 II Hs. 2 StPO vor.
Anders als bei den absoluten Revisionsgründen gem. § 338 StPO, bei denen das Beruhen des Urteils auf dem Verstoß unterstellt wird, muss bei den relativen Revisionsgründen gem. § 337 StPO das Beruhen festgestellt werden.
Ein Beruhen liegt dann vor, wenn ein rechtsfehlerfreies Verfahren möglicherweise zu einem anderen Urteil geführt hätte, d.h. ein ursächlicher Zusammenhang darf nicht ausgeschlossen sein. Ein solches Beruhen wird von der Rechtsprechung üblicherweise dann angenommen, wenn der Angeklagte nicht geständig ist. (BGH BeckRS 2023, 10605) Im vorliegenden Fall hat der BGH das Beruhen ebenfalls bejaht und Folgendes ausgeführt:
„Der Senat kann nicht ausschließen, dass der Schuldspruch hierauf beruht, denn die bloße Möglichkeit genügt … Der Angeklagte hat sich zwar teilweise geständig zur Sache eingelassen, jedoch den Schuldvorwurf in Abrede gestellt. Dem ist das Landgericht nicht gefolgt. Bei dieser Sachlage ist keine Ausnahmekonstellation gegeben, in der das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensfehler auszuschließen wäre.“
Die vom Angeklagten erhobene Verfahrensrüge war damit begründet.
Die vom BGH angesprochene Ausnahmekonstellation kann zum Beispiel dann vorliegen, wenn ein Angeklagter vollumfänglich gestanden hat und dieses Geständnis zusätzlich durch weitere Beweismittel gestützt wurde. (BGH NStZ-RR 2021, 84) In einem solchen Fall steht zu erwarten, dass der Angeklagte in seinem letzten Wort sich seinem vorherigen Geständnis anschließt, das Urteil also auch bei Berücksichtigung des letzten Wortes nicht anders ausgefallen wäre.
II. Verletzung des sich aus Art. 6 I MRK ergebenden Fair-Trail-Grundsatzes
Die Verteidigung hat zudem gerügt, dass der Fair-Trail-Grundsatz verletzt sei, da die Staatsanwältin R zuvor in der Hauptverhandlung, die ausgesetzt worden war, Berichterstatterin der Strafkammer war. Nach Auffassung der Verteidigung besaß die Staatsanwältin damit ein überlegenes Wissen, welches sich auf das Urteil ausgewirkt haben könnte. Die Verteidigung sah das Gebot der Waffengleichheit (BVerfGE 110, 226) verletzt.
Gem. § 229 StPO kann eine Hauptverhandlung unterbrochen werden. In der Regel beträgt die Dauer der Unterbrechung 3 Wochen. Gelingt es dem Gericht nicht, die Hauptverhandlung nach der zulässigen Höchstdauer der Unterbrechung fortzusetzen, so erfolgt eine Aussetzung des Verfahrens. Die Hauptverhandlung endet und beginnt erneut.
Der BGH hat zunächst deutlich gemacht, dass auch eine Verletzung von § 22 Nr. 5 StPO in Betracht kommen könnte. Diese Norm regelt die Ausschließung von Richtern, wird aber nach Auffassung der Rechtsprechung analog auch auf Staatsanwälte angewendet.
Sofern ein nach dieser Vorschrift kraft Gesetzes auszuschließender Richter an der Urteilsfindung mitgewirkt hat, besteht bereits ein absoluter Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 2 StPO. Im Fall eines ggfs. nach § 22 Nr. 5 StPO analog auszuschließenden Staatsanwalts kommt nur ein relativer Revisionsgrund in Betracht, bei dem - wie schon ausgeführt - das Beruhen festgestellt werden muss. Dieses Beruhen hat der BGH vorliegend verneint:
„Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer dieses Prozessgeschehen mit Recht am Fairnessgrundsatz misst oder aber eine entsprechende Anwendung von § 22 Nr. 5 StPO in Betracht kommt (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2018 – 1 StR 382/17, JR 2019, 160 mit Anm. Stuckenberg…) … Er schließt jedenfalls aus, dass das Urteil auf einem solchen Verstoß beruhte (§ 337 StPO). Die Besetzung der Strafkammer in der ausgesetzten Hauptverhandlung unterschied sich vollständig von der personellen Zusammensetzung des nunmehr entscheidenden Spruchkörpers. Damit ist auszuschließen, dass sich ein – mit Blick auf die objektive Verfahrensrolle der Staatsanwaltschaft (vgl. BVerfGE 133, 168, 219) und das Gebot der „Waffengleichheit“ (vgl. BVerfGE 110, 226, 253) bedenkliches – überlegenes Wissen der Sitzungsvertreterin auf das Urteil ausgewirkt hat.“
C. Prüfungsrelevanz
In der Klausur im zweiten Staatsexamen wird mit großer Wahrscheinlichkeit eine Revisionsklausur gestellt. Dann musst Du die Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Revisionsgründen beherrschen und die wesentlichen Fallgruppen kennen, bei denen Revisionsgründe angenommen werden können. Die Nichtgewährung des letzten Wortes gehört in diesem Zusammenhang zu den „Klassikern“. Wie Du diesem Sachverhalt entnehmen konntest, kann eine Verletzung des § 258 II Hs. 2 StPO auch dann vorliegen, wenn der Angeklagte das letzte Wort bereits erhalten hatte. Als Grundsatz kannst Du Dir hier merken: Zwischen dem letzten Wort und der Urteilsberatung darf grundsätzlich kein Statement eines Verteidigers, Staatsanwalts oder Nebenklägers liegen.
(BGH Urt. v. 17.04.2024 – 6 StR 468/23)
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