Nach § 23 IV 1 StVO ist es Kraftfahrern verboten, das Gesicht so zu verhüllen, dass es nicht mehr erkennbar ist. Die praktizierende Muslima M lebt streng nach dem Koran, der es gläubigen Frauen vorschreibt, „ihre Scham zu hüten und ihre Reize nicht zur Schau zu tragen“. Sie sieht es deshalb als Nötigung an, wenn sie durch die StVO gezwungen wäre, ihren Niqab am Steuer abzulegen. Ihre dagegen gerichtete Klage wirft schwierige materielle und prozessuale Fragen auf, mit denen sich erstmals ein OVG befasst hat.
A. Vereinfachter Sachverhalt
§ 23 - Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) lautet:
(4) Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist. …
Strenggläubige Muslimas bedecken das Gesicht vollständig mit Ausnahme der Augenpartie mit einem Schleier, weil der Koran die Aussage enthält, dass Frauen ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen. Das verstößt gegen das Verbot des § 23 IV 1 StVO. Angesichts der Anzahl muslimischer Frauen in der Bundesrepublik besteht ein Bedürfnis an einer gutachterlichen Darstellung folgender Fragen:
Welche Rechtsnatur hat die StVO: Ist sie wie die GewO oder die LBauO ein Gesetz, oder ist sie wie die StVZO eine Rechtsverordnung? Welche Auswirkungen hat die Zuordnung auf die anzulegenden Rechtmäßigkeitsmaßstäbe?
Ist die Bestimmung in § 23 IV 1 StVO trotz ihrer Auswirkung auf die nach dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht einschränkbare Religionsfreiheit rechtmäßig?
In welcher Form kann Rechtsschutz angestrebt werden?
B. Entscheidung
Frage 1:
Rechtsnatur der StVO und daraus folgender Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit
1. Gesetze
Die erwähnte Gewerbeordnung ist ebenso wie etwa eine Landesbauordnung ein (Parlaments)-Gesetz. Gesetze sind rechtmäßig, wenn sie nicht gegen höherrangiges Recht (Grundgesetz, Landesverfassung) verstoßen. Prüfungsmaßstab ist damit der „Gesetzesvorrang“, wobei das höherrangige Recht formelle Vorgaben enthalten kann (Zuständigkeit, Gesetzgebungsverfahren und Form), aber auch materielle Einschränkungen durch das Verbot, inhaltlich gegen Grundrechte und materielle Vorgaben der Verfassung zu verstoßen (z.B. Rechtsstaats- und Demokratieprinzip, Art. 20 II und III, 28 I 1 GG).
2. Rechtsverordnungen
Die Straßenverkehrsordnung ist ebenso wie die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung eine Rechtsverordnung, die vom Bundesverkehrsminister erlassen worden ist. Verordnungen beruhen auf einer Durchbrechung der Gewaltenteilung: So ist es dem Bundestag unter Beachtung der Vorgaben des Art. 80 I GG gestattet, die Legislativgewalt punktuell auf die Verwaltung zu übertragen. Daraus folgt als Rechtmäßigkeitsmaßstab der „Gesetzesvorbehalt“: Es bedarf zum Erlass einer VO einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, deren Voraussetzungen formell (Zuständigkeit und Verfahren) und materiell (inhaltliche Vorgaben) erfüllt sein müssen. Die Rechtsfolge und damit der Inhalt der Verordnung darf nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen. Bei Prüfung des Gesetzesvorbehalts ist inzident der Gesetzesvorrang anzuwenden, wenn es um die Frage geht, ob die Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung ihrerseits rechtmäßig und damit gültig ist.
Frage 2:
Ist § 23 IV 1 StVO rechtmäßig?
I. Ermächtigungsgrundlage
§ 6 StVG enthält zahlreiche Einzelermächtigungen für Bestimmungen in der StVO und in der StVZO. Für das Niqab-Verbot findet sich jedoch in § 6 StVG keine Einzelermächtigung, sodass insoweit auf die – gleichfalls vorhandene – generalklauselartige Auffangregelung zurückzugreifen ist.
Nach § 6 I 1 Nr. 2 StVG in der heute geltenden Fassung ist der Bundesverkehrsminister ermächtigt, durch Rechtsverordnung zur „Abwehr von Gefahren für die Sicherheit“ des Verkehrs „das Verhalten im Verkehr, auch im ruhenden Verkehr“ zu regeln. Diese Auffangregelung ist neu gefasst worden. Der „ältere“ § 23 IV 1 StVO beruht allerdings auf der Fassung des § 6 StVG aus dem Jahr 2017. Sie enthielt eine ähnliche Auffangregelung: Nach § 6 I Nr. 3 StVG (aF) konnten im Wege der Rechtsverordnung „die sonstigen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen … erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr“ erlassen werden.
§ 6 I Nr. 3 StVG (aF) kann allerdings als Rechtsgrundlage nur herangezogen werden, wenn die gesetzliche Bestimmung ihrerseits verfassungsgemäß und damit gültig war. Außerdem stellt sich die Frage, ob auf eine so offen formulierte Auffangregelung eine Delegation von Legislativgewalt in einen Sachbereich gestützt werden kann, bei dem es um die ihrem Wortlaut nach nicht einschränkbare Religionsfreiheit (Art. 4 I GG) gehen kann.
1. Verfassungsgemäßheit des § 6 StVG
a) § 6 StVG ist formell verfassungsgemäß. Die Zuständigkeit des Bundes folgt aus Art. 74 I Nr. 22 i.V.m. Art. 72 II GG. Die Sicherheit des Straßenverkehrs betrifft eine Materie, die zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit einer bundeseinheitlichen Regelung bedarf.
b) Materiell gelten für Verordnungsermächtigungen durch Bundesgesetze insbes. die Anforderungen des Art. 80 I 2 GG. Danach müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnung im zugrundeliegenden Gesetz hinreichend umschrieben sein. Die Durchbrechung der Gewaltenteilung durch Verlagerung der Legislativgewalt auf die Verwaltung ist sinnvoll, um den Gesetzgeber von Einzelregelungen etwa über die Durchführung eines Gesetzes zu entlasten. Sie ist aber begrenzt durch die aus Rechtsstaats- und Demokratieprinzip folgende Vorgabe, dass die eigentliche Legislativentscheidung und damit die Regelung der wesentlichen Fragen beim Gesetzgeber verbleiben müssen.
Dem trägt § 6 StVG Rechnung. Die Vorschrift weist zahlreiche „Einzelermächtigungen“ auf, die deutlich machen, dass der Gesetzgeber selbst über die jeweils auf den Verordnungsgeber übertragene Einschränkung entschieden hat.
Die Auffangregelungen in § 6 I Nr. 2 (nF) bzw. in § 6 I Nr. 3 StVG (aF) ermächtigt zum Erlass von Verordnungen, wenn es um sonstige Regelungen zur Gewährleistung „der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen“ geht. Dabei hat sich der Gesetzgeber der unbestimmten Rechtsbegriffe „Sicherheit und Ordnung“ bezogen auf den Straßenverkehr bedient und damit auf Rechtsbegriffe, deren Auslegung seit Jahrzehnten durch die Rechtsprechung konkretisiert worden ist. Vergleichbar weisen die allgemeinen Gefahrenabwehrgesetze der Länder generalklauselartige Verordnungsermächtigungen auf. Die erforderliche Bestimmtheit (Art. 80 I 2 GG bzw. die entsprechende Vorschrift in der Landesverfassung) derartiger Verordnungsermächtigungen wird heute nicht infrage gestellt.
2. Anwendbarkeit auf ein Niqab-Verbot aus § 23 IV 1 StVO
Auch wenn die Generalklausel des § 6 I Nr. 3 StVG (aF) bzw. § 6 I 1 Nr. 2 StVG (nF) materiell verfassungsgemäß und damit gültig ist, stellt sich mit Blick auf die „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des BVerfG die Frage, ob es mit Rechtsstaats- und Demokratieprinzip vereinbar ist, dass relativ weitgehende Verbotsregelungen wie ein Niqab-Verbot in § 23 IV 1 StVO auf eine bloße Generalklausel gestützt werden können.
a) Wesentliche Fragen gehören ins Parlament. Überträgt ein Gesetz die Regelungsbefugnis auf den Verordnungsgeber, muss der Gesetzgeber selbst das Wesentliche normativ vorherbestimmen (vgl. Art. 80 I 2 GG). Dies ist der Hintergrund für die zahlreichen Einzelermächtigungen, die § 6 StVG aufweist. Man könnte deshalb die Meinung vertreten, dass auch für das Verhüllungsverbot namentlich wegen seiner erheblichen Auswirkung auf die Religionsfreiheit eine fachspezifische Entscheidung des Gesetzgebers erforderlich ist, an der es gegenwärtig mangelt.
Nach dieser Betrachtung wäre § 6 I Nr. 2 (nF) bzw. in § 6 I Nr. 3 StVG (aF) nicht etwa verfassungswidrig, aber bei verfassungskonformer Auslegung als Ermächtigung für § 23 IV 1 StVO nicht ausreichend. Das hätte zur Folge, dass § 23 IV 1 StVO mangels geeigneter Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig und damit ungültig wäre.
b) Das OVG Münster hat sich in seinem Urteil vom 05.07.2024 (8 A 3194/21) mit dieser Frage auseinandergesetzt, hat aber mit Blick auf Art. 80 I 2 GG und das Ausmaß der Grundrechtsbetroffenheit den Bezug zur Wesentlichkeitsrechtsprechung in anderer Weise hergestellt:
Rn. 102 „Demokratie- (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) und Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gebieten, dass der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst regelt. „Wesentlich“ bedeutet zum einen „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“. Eine Pflicht des Gesetzgebers, die für den fraglichen Lebensbereich erforderlichen Leitlinien selbst zu bestimmen, kann etwa dann bestehen, wenn miteinander konkurrierende Freiheitsrechte aufeinandertreffen, deren Grenzen fließend und nur schwer auszumachen sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte nach dem Wortlaut der Verfassung vorbehaltlos gewährleistet sind und eine Regelung, welche diesen Lebensbereich ordnen will, damit notwendigerweise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, die Schranken der widerstreitenden Freiheitsgarantien jedenfalls so weit selbst zu bestimmen, wie sie für die Ausübung dieser Freiheitsrechte erforderlich sind. Der Gesetzgeber ist zum anderen zur Regelung der Fragen verpflichtet, die für Staat und Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sind.“
Rn. 104 „Die Anforderungen des Wesentlichkeitsgrundsatzes werden durch Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG näher konkretisiert, der die mit einer Delegation auf den Verordnungsgeber verbundenen Bestimmtheitsan-forderungen ausdrücklich normiert. Danach kann die Bundesregierung durch Gesetz nur dann ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen, wenn Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Wann und inwieweit es einer Regelung durch den Gesetzgeber bedarf, lässt sich nur mit Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes bestimmen. Der Grad der dabei jeweils zu fordernden Bestimmtheit einer Regelung hängt auch davon ab, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist und wie intensiv die Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen sind. Insoweit berührt sich das Bestimmtheitsgebot mit dem Verfassungsgrundsatz des Vorbehalts des Gesetzes, der fordert, dass der Gesetzgeber die entscheidenden Grundlagen des zu regelnden Rechtsbereichs, die den Freiheits- und Gleichheitsbereich wesentlich betreffen, selbst festlegt und dies nicht dem Handeln der Verwaltung überlässt. Das Grundgesetz kennt allerdings keinen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts. Die in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierte organisatorische und funktionelle Trennung und Gliederung der Gewalten zielt auch darauf ab, dass staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen. Vor diesem Hintergrund kann auch die Komplexität der zu regelnden Sachverhalte den Umfang der Regelungspflicht des Gesetzgebers begrenzen.
Rn 106 Sollen Regelungen ergehen, die Freiheits- und Gleichheitsrechte der Betroffenen wesentlich betreffen, ist daher die Einbindung des Verordnungsgebers in die Regelungsaufgabe nicht schlechthin ausgeschlossen.
Rn 107 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2022 - 1 BvR 2649/21 -, juris Rn. 127, m. w. N.
Rn 108 Diesen Maßgaben folgend bedurfte die Regelung des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots für den Führer eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr in § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO keiner Regelung durch ein förmliches Gesetz.“
Folgt man der Sichtweise des OVG Münster, tritt mit Blick auf die Dynamik des Straßenverkehrsrechts das Erfordernis einer spezifischen gesetzlichen Absicherung zurück, der Grundrechtsschutz verlagert sich mit seinem Schwerpunkt auf den Verordnungsgeber.
Dies gilt umso mehr, wenn man mit Blick auf die Zahl der betroffenen muslimischen Frauen die „Wesentlichkeit“ der Regelung völlig verneint, ein Argument, auf das das OVG zusätzlich abstellt:
Rn. 126 „Angesichts der insgesamt geringen Anzahl der eine religiös begründete Vollverschleierung (Burka oder Niqab) praktizierenden Frauen in Deutschland liegt darüber hinaus die Annahme fern, dass es sich um eine Regelung mit wesentlicher Bedeutung für die Verwirklichung von Grundrechten oder das Zusammenleben in der Gesellschaft handeln könnte. Die Zahl der Frauen, die in Deutschland eine Vollverschleierung tragen, lässt sich nicht exakt bestimmen. Auch wenn diese im Zuge der Migration aus mehrheitlich muslimisch geprägten Staaten zugenommen haben mag, dürfte sie weiterhin in einem gemessen an der Gesamtbevölkerung sehr niedrigen Bereich liegen.“
II. Voraussetzungen
§ 23 IV 1 StVO ist gemessen an § 6 StVG rechtmäßig.
1. Die formellen Voraussetzungen sind erfüllt. Das zuständige Verkehrsministerium hat die Verordnung unter Mitwirkung des Bundesrats bei gleichzeitiger Beachtung des Zitiergebots erlassen.
2. Materiell dient das Verhüllungsverbot des § 23 IV 1 StVO der Sicherheit des Straßenverkehrs. Die mit dem Verhüllungsverbot angestrebte Identifizierbarkeit eines Fahrers bei automatisiert erfassten Verkehrsverstößen bezweckt, Fahrzeugführer zur Einhaltung der sicherheitsrechtlichen Anforderungen der StVO anzuhalten.
III. Rechtsfolge
Der Erlass einer Verordnung – hier des § 23 IV 1 StVO – steht im Ermessen der zuständigen Behörde. Bei Verwaltungsakten, deren Erlass im Ermessen steht, können sich aus Ermessensausfall, Ermessensüberschreitung und Ermessensfehlgebrauch Fehler und damit Rechtswidrigkeiten ableiten (vgl. § 40 VwVfG).
Der Erlass einer Verordnung beruht hingegen auf einer (delegierten) Normsetzung. Das hat zur Folge, dass sich die Überprüfung (der Rechtsfolge) wie bei Parlamentsgesetzen darauf beschränkt, Verstöße gegen höherrangiges Recht festzustellen, im Übrigen entzieht sich das „legislative Ermessen“ der gerichtlichen Kontrolle.
1. Verstoß gegen Art. 4 I GG
a) Die Entscheidung einer Muslimin, stets mit Niqab bekleidet in der Öffentlichkeit und damit auch beim Fahren eines Kraftfahrzeugs aufzutreten, ist Ausübung der Religionsfreiheit und damit dem Schutzbereich des Art. 4 I GG zuzuordnen.
b) Das Grundrecht ist – vergleichbar mit Art. 5 III und Art. 8 I GG für Versammlungen in Räumen – seinem Wortlaut nach vorbehaltlos gewährleistet. Aus der „Einheit der Verfassung“ und damit aus dem Gebot, gegenläufige Verfassungsaussagen zu vermeiden, folgt, dass die genannten Grundrechte verfassungsimmanente Schranken haben. Danach können Grundrechte anderer, aber auch objektive Verfassungswerte, wenn sie sich in einem zu beurteilenden Anwendungsfall als vorrangig erweisen, zu Beschränkungen führen. Aus der Wesentlichkeitstheorie folgt allerdings, dass verfassungsimmanente Schranken nur gezogen werden können, wenn sie letztlich auf ein Gesetz rückführbar sind. Dies ist im vorliegenden Fall – wie oben dargestellt – mit § 6 I Nr. 2 (nF) bzw. in § 6 I Nr. 3 StVG (aF) gewährleistet.
aa) Zu den gegenläufigen Verfassungswerten führt das OVG aus:
Rn. 129 „Mit der Glaubensfreiheit in Widerstreit tretende Verfassungsgüter, deren Schutz § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO dient, sind die Grundrechte Dritter auf Leben, körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) sowie die allgemeine Sicherheit des Straßenverkehrs als Gemeinschaftswert von Verfassungsrang.“
bb) Entscheidend ist, inwieweit sich diese Verfassungswerte gegenüber der Glaubensfreiheit als vorrangig erweisen. Das OVG beantwortet diese Frage mit einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit:
Rn. 131 § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO verfolgt den legitimen Zweck, die Verfassungsgüter zu schützen, indem er dazu beiträgt, im Fall automatisiert erfasster Verkehrsverstöße die Identität des verantwortlichen Fahrzeugführers festzustellen… Mit dieser Zielrichtung dient die Vorschrift der allgemeinen Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer.
Rn. 136 Sie begegnet der Gefahr, dass eine Gesichtsverhüllung - allein aufgrund ihrer Beschaffenheit oder durch Hinzutreten äußerer Umstände - die Rundumsicht des Fahrers eines Kraftfahrzeugs einschränkt. Im Fall der Verwirklichung dieser Gefahr drohen durch Unfälle unmittelbare Schäden an den hochrangigen Rechtsgütern Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum Dritter.
Rn. 152 Zur Erreichung der genannten legitimen Ziele ist § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO auch geeignet.
Rn. 153 Der Gesetzgeber verfügt in der Beurteilung der Eignung einer Regelung über eine Einschätzungsprärogative. Verfassungsrechtlich genügt bereits die Möglichkeit, durch die Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Der Spielraum des Gesetzgebers bezieht sich insofern auf die Einschätzung und Bewertung der Verhältnisse, der etwa erforderlichen Prognose und der Wahl der Mittel, um seine Ziele zu erreichen. Eine Regelung ist erst dann nicht mehr geeignet, wenn sie die Erreichung des Gesetzeszwecks in keiner Weise fördern kann oder sich sogar gegenläufig auswirkt.
Rn. 158 Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot im Straßenverkehr ist im verfassungsrechtlichen Sinne auch erforderlich.
Rn. 159 Eine Regelung ist erforderlich, wenn kein anderes, gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel zur Verfügung steht. Die sachliche Gleichwertigkeit der alternativen Maßnahmen zur Zweckerreichung muss dafür in jeder Hinsicht eindeutig feststehen. Bei der Einschätzung der Erforderlichkeit verfügt der Gesetzgeber über einen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Dieser bezieht sich unter anderem darauf, die Wirkung der von ihm gewählten Maßnahmen auch im Vergleich zu anderen, weniger belastenden Maßnahmen zu prognostizieren.
Rn. 161 Ein gleich wirksames, aber mit geringeren Grundrechtseinschränkungen verbundenes Mittel zur Erreichung der hier verfolgten Zwecke steht nicht zur Verfügung.
Rn. 170 Die Regelung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne.
Rn. 171 Dies erfordert, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen dürfen. Angemessen und damit verhältnismäßig im engeren Sinne ist eine gesetzliche Regelung dann, wenn bei der Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt wird.
Rn. 173 Danach bestehen keine Bedenken dagegen, dass der Verordnungsgeber sich bei der Abwägung der geschützten Rechtsgüter Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum von Verkehrsteilnehmern bzw. allgemein der Sicherheit im Straßenverkehr auf der einen Seite und der Religionsfreiheit auf der anderen Seite zu einem grundsätzlichen Verbot der Verhüllung und Verdeckung beim Führen eines Kraftfahrzeugs im Sinne von § 23 Abs. 4 Satz 1 StVO im Straßenverkehr entschieden hat.
2. Verstoß gegen Art. 2 I GG
Soweit eine Gesichtsverhüllung am Steuer aus anderen als religiösen Gründen erfolgt, greift § 23 IV 1 StVO in die grundrechtlich geschützte allgemeine Handlungsfreiheit ein (Art. 2 I GG). Sie wird begrenzt durch die „verfassungsmäßige Ordnung“ und damit auf der Grundlage verhältnismäßiger Gesetze. Angesichts der geringfügigen Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit bestehen insoweit keinerlei Bedenken.
§ 23 IV 1 StVO erweist sich nach allem als rechtmäßig.
Frage 3:
Welche Form des Rechtsschutzes kommt in Betracht?
I. Direkter Rechtsschutz
Mit einer prinzipalen Normenkontrolle kann unter den Voraussetzungen des § 47 VwGO die Nichtigkeitsfeststellung von Verordnungen und Satzungen durch das Oberverwaltungsgericht bzw. den VGH angestrebt werden. Die Regelung ist jedoch auf untergesetzliche Vorschriften des Landesrechts beschränkt (§ 47 I Nr. 1 VwGO: Satzungen nach BauGB; § 47 I Nr. 2 VwGO i.V.m. landesgesetzlicher Ermächtigung: sonstige Verordnungen und Satzungen der (un-)mittelbaren Landesverwaltung). Eine Bundesverordnung wie § 23 IV 1 StVO ist vom Anwendungsbereich des § 47 I VwGO nicht erfasst.
II. Indirekter Rechtsschutz
Eine Muslimin, die über eine Fahrerlaubnis für Kraftfahrzeuge verfügt, kann im Wege des indirekten Rechtsschutzes eine gerichtliche Überprüfung des § 23 IV 1 StVO erreichen. In Betracht kommt eine Klage vor dem Verwaltungsgericht auf Feststellung, dass sie unter Verwendung eines Niqab ein Kraftfahrzeug iSd. § 23 IV StVO führen kann.
1. Zulässigkeit der Klage
a) Der Verwaltungsrechtsweg wäre eröffnet, weil streitentscheidend mit § 23 IV StVO eine Vorschrift ist, durch die ein Hoheitsträger (die Straßenverkehrsbehörde) einseitig berechtigt wird. Sachlich zuständig wäre nach § 45 VwGO das Verwaltungsgericht.
b) Parteien des Rechtsstreites wären die Klägerin und das Land, vertreten durch die Straßenverkehrsbehörde (vgl. §§ 61, 63 VwGO).
c) Klageart wäre eine allgemeine Feststellungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass die Klägerin berechtigt ist, ein Kraftfahrzeug bekleidet mit Niqab am Steuer im Verkehr zu nutzen.
d) Die besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der allgemeinen Feststellungsklage richten sich nach §§ 43 I, 43 II 1 VwGO. Das erforderliche konkrete Rechtsverhältnis ist gegeben, wenn im Einzelfall Rechte oder Pflichten zwischen den Parteien streitig sind.
Dazu gehört das aus Art. 4 I GG abgeleitete Recht der Klägerin, mit Niqab ein Fahrzeug zu führen. Das rechtliche, wirtschaftliche oder ideelle Feststellungsinteresse der Klägerin ist angesichts ihrer Grundrechtsbetroffenheit gegeben. Die Subsidiarität der Feststellungsklage wirkt sich nicht aus, weil weitergehende Klagemöglichkeiten für dieses Klageziel nicht in Betracht kommen.
2. Begründetheit der Klage
Die Klage wäre begründet, wenn § 23 IV 1 StVO nicht anwendbar oder rechtswidrig und damit ungültig wäre. Anders als bei nachkonstitutionellen Gesetzen, die ausschließlich der Verwerfungskompetenz des BVerfG unterfallen (Art. 100 GG), haben die Verwaltungsgerichte bei untergesetzlichen Rechtsvorschriften die Prüfungs- und die Verwerfungskompetenz.
Da § 23 IV 1 StVO nach Auffassung des OVG anwendbar und rechtmäßig ist, wird die Klage als unbegründet abgewiesen.
(Urteil vom 05.07.2024 – 8 A 3194/21)
Du möchtest weiterlesen?
Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.
Paket auswählen