BVerwG zur Anwendbarkeit des Versammlungsgesetz auf eine Verhinderungsblockade

BVerwG zur Anwendbarkeit des Versammlungsgesetz auf eine Verhinderungsblockade

In dem nachfolgenden Fall geht es um Standardmaßnahmen des Polizeirechts, die typischerweise zur Anwendung kommen, wenn Straßenblockaden von der Polizei beendet werden. Wir folgen dem prozessualen Aufbau in den Urteilsdarstellungen des VGH und des BVerwG, zumal bei erledigten Verwaltungsakten und Realakten die Zulässigkeitsdarstellung immer wieder gefragt ist. Die materielle Prüfung bei den einzelnen Standardmaßnahmen („besondere Befugnisse“) wird im Interesse der Übersichtlichkeit vereinfacht dargestellt.

Schwerpunkt bildet das Verhältnis zwischen Versammlungsgesetzen und den allgemeinen Polizei- (und Ordnungs-) Gesetzen.

A. Vereinfachter Sachverhalt

Am frühen Morgen des 30.04.2016 besetzte eine mit Reisebussen angereiste Gruppe von mehreren hundert teilweise vermummten, fast ausschließlich schwarz oder mit weißen Einmalanzügen bekleideten Personen in Stuttgart einen Kreisverkehr zwischen Flughafen und Messegelände. Transparente machten deutlich, dass sich die Aktion gegen einen AfD-Parteitag vom selben Tag im Messegelände richtete („AfD-Parteitag verhindern – Nationalismus ist keine Alternative“). Es wurde Pyrotechnik gezündet, und alle Ausfahrten des Kreisverkehrs wurden mit von umliegenden Straßensperrungen entnommenen Barrikaden blockiert.

Der Polizei, die im Vorfeld Kenntnis von der Ankunft gewaltbereiter Personen aus dem linksautonomen Spektrum erlangt hatte und sich mit Einsatzfahrzeugen näherte, wurden Rauchbomben entgegengeworfen. Mit Lautsprecherdurchsage „an alle Teilnehmer, die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören“ wies die Polizei darauf hin, dass wegen der Vermummung und Errichtung von Barrikaden der Schutz des Versammlungsrechts nicht gelte und deshalb die Personen in Gewahrsam genommen würden.

K wurde um 8:10 Uhr aus dem Inneren des „Kessels“ herausgelöst, mittels Einwegschließen mit den Händen auf dem Rücken gefesselt und in einem Bus zu der ca. 600 Meter entfernten Gefangenensammelstelle der Polizei gebracht. Angesichts der großen Anzahl Festgenommener wurde K erst um 13:30 Uhr einer Identitätsüberprüfung und erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Im zeitlichen Zusammenhang dazu traf die Polizei die Prognose, dass mit einer Entscheidung über den Gewahrsam des K durch die vor Ort anwesenden und laufend über den Gewahrsam entscheidenden vier Richter des Amtsgerichts vor Wegfall des Gewahrsamsgrundes nicht zu rechnen sei. K wurde – jetzt ohne Fesseln – in einer Einzelzelle in einem Gefangenenbus eingeschlossen, gegen 17:00 Uhr zu dem ca. 16 Kilometer entfernten Bahnhof in E gebracht, wo er aus dem Gewahrsam entlassen wurde.

Während des Gewahrsams wurde K weder ein Toilettengang ermöglicht noch Trinkwasser zugänglich gemacht.

K hat kurz nach dem Vorfall durch einen Anwalt Akteneinsicht genommen. Daraus ergab sich, dass der Parteitag um 17:00 Uhr beendet war. Am 02.05.2017 hat er Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einkesselung, des Gewahrsams, der Fesselung und der Identitätsfeststellung einschließlich der erkennungsdienstlichen Behandlung sowie der Vorenthaltung von Trinkwasser und der Nichtermöglichung eines Toilettenganges erhoben. Wird er damit Erfolg haben?

B. Entscheidung

Die Klage hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

1. Rechtsweg

Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 I VwGO eröffnet, da es sich um eine öffentlich-rechtliche, nicht verfassungsrechtliche Streitigkeit handelt und eine abdrängende Sonderzuweisung nicht eingreift. Das typisch hoheitliche Verwaltungshandeln der Polizei ist öffentlich-rechtlicher Natur. Denkbar ist, dass Identitätsfeststellung und ED-Behandlung auch der Strafverfolgung dienten. Gleichwohl greift die abdrängende Zuweisung des § 23 EGGVG nicht ein, da Schwerpunkt des mehraktigen Einsatzes das Gefahrenabwehrrecht bildete.

2. Klageart

Die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der einzelnen Maßnahmen gerichteten Klagen sind Feststellungsklagen, die nach § 44 VwGO miteinander verbunden werden können.

3. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

Die besonderen Sachurteilsvoraussetzungen der Feststellungsklagen müssen erfüllt sein.

a) Fortsetzungsfeststellungsklage

Soweit es sich bei den einzelnen Maßnahmen um Verwaltungsakte handelte, findet § 113 I S. 4 VwGO Anwendung.

(1) VA-Qualität haben die Einkesselung, die Ingewahrsamnahme als deren Fortsetzung, die Identitätsfeststellung einschließlich der erkennungsdienstlichen Behandlung und die Verbringung zum Bahnhof.

Denn diese Maßnahmen implizieren, soweit sie nicht ausdrücklich auf eine Verhaltenspflicht gerichtet waren, gleichwohl Duldungspflichten und damit einseitige verbindliche Ge-/Verbotsaussagen.

(2) Die Erledigung ist – abweichend von der Vorgabe des § 113 I S. 4 VwGO – nicht erst während eines Anfechtungsprozesses, sondern schon am Einsatztag eingetreten. Es ist gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass die Vorschrift auch bei vorprozessualer Erledigung anwendbar ist.

(3) Das besondere Interesse an der Überprüfung eines vergangenen erledigten Verwaltungshandelns („Fortsetzungsfeststellungsinteresse“) kann sich aus Wiederholungsgefahr, aus einem Rehabilitationsinteresse nach schwerwiegenden Grundrechtseingriffen und aus prozessökonomischen Gründen ergeben, letzteres aber nur bei Erledigung nach Klageerhebung, wenn die Feststellung zur Vorfrage eines beabsichtigten Staatshaftungsprozesses gemacht werden soll (drei Fallgruppen).

Demgegenüber haben die Senate des BVerwG zur Vermeidung einer Abweichungsüberprüfung durch den Großen Senat nach § 11 II VwGO klargestellt, dass sich allein aus Situationen, die sich typischerweise „so kurzfristig erledigen, dass sie ohne die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses regelmäßig keiner Überprüfung zugeführt werden können“ (so die Formulierung in BVerwGE 146, 303, 310 Rn. 32 und in BVerwGE 171, 242, 244 Rn. 11) allein kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse als 4. Fallgruppe ableiten lässt; entscheidend bleibt auch bei dieser Konstellation das Erfordernis eines Rehabilitationsinteresses anlässlich eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs (BVerwG, Beschl. vom 29.01.2024, 8 AV 1/24, 6 C 2/22 Rn. 11).

Der VGH Mannheim hatte im hier zu beurteilenden Fall als Vorinstanz ein Rehabilitationsinteresse verneint, weil inzwischen 5 Jahre zwischen dem Ereignis und der gerichtlichen Entscheidung lagen. Der VGH hatte deshalb auf die Tatsache der kurzfristigen Erledigung als (vierte) Fallgruppe eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses abgestellt (Rn. 31).

Dem ist das BVerwG unter Hinweis auf die oben dargestellte Klarstellung der Rechtsprechung entgegengetreten, ohne eindeutig hervorzuheben, dass das zeitliche Moment („kurzfristige Erledigung“) allein nicht mehr trägt:

Rn. 23 „Der Kläger verfügt zudem im Hinblick auf alle hier in Rede stehenden Maßnahmen über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung. Dabei kann dahinstehen, ob entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ein rechtlich erhebliches Rehabilitierungsinteresse zu bejahen ist. Denn es handelt sich jedenfalls durchweg um Akte, die sich zum einen typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie während des Andauerns der mit ihnen verbundenen Beschwer keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich sind, und die sich zum anderen als tiefgreifend zu beurteilende Grundrechtseingriffe darstellen können.“

Die Polizeimaßnahmen beinhalteten Grundrechtseingriffe (z.B. in Art. 2 II S. 2 GG) mit erheblicher Intensität, sodass dem Kläger unter dem Gesichtspunkt des Rehabilitationsinteresses das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht abgesprochen werden kann.

(4) §§ 42 II, 68-74 VwGO gelten bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage mit der Maßgabe, dass eine vor Erledigung mangels Klagebefugnis oder durch Verfristung unzulässige Anfechtungssituation nicht durch die Tatsache der Erledigung als zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführt werden kann.

Das für die Klagebefugnis erforderliche subjektive Recht des Klägers folgt aus seiner Grundrechtsbetroffenheit. Eine Verfristung kann angesichts der sofortigen Erledigung nicht eingetreten sein.

Rn. 22 „Die Klagebefugnis des Klägers nach § 42 Abs. 2 VwGO steht wegen der möglichen Verletzung seiner Grundrechte der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (wegen des polizeilichen Gewahrsams), der informationellen Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (wegen der Identitätsfeststellung und der erkennungsdienstlichen Behandlung) sowie der allgemeinen Handlungsfähigkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG (wegen der räumlichen Distanzierung) nicht in Zweifel.

Sämtliche genannten Maßnahmen hatten sich bereits am 30. April 2016 und damit vor Klageerhebung und einer gegebenenfalls eintretenden Bestandskraft erledigt, so dass die Fortsetzungsfeststellungsklage nicht an die Einhaltung der Klagefrist aus § 74 VwGO gebunden war (BVerwG, Urteile vom 14. Juli 1999 - 6 C 7.98 - BVerwGE 109, 203 <206 ff.> und vom 24. Mai 2022 - 6 C 9.20 - BVerwGE 175, 346 Rn. 15).“

(5) Auch wenn erst nach einem Jahr Klage erhoben wurde, hatte der Kläger das Recht dazu nicht verwirkt. Er hatte bereits vorher Akteneinsicht gefordert und damit deutlich gemacht, dass er möglicherweise die Gerichte einschaltet.

Rn. 21 „Obwohl der Kläger die Klage erst am 2. Mai 2017 erhoben hat, war das Klagerecht nicht verwirkt. Der Beklagte durfte nicht darauf vertrauen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt keine Klage mehr erheben werde. Denn der Kläger hatte bereits mit anwaltlichem Schriftsatz vom 11. Mai 2016 unter Bezug auf seine polizeiliche Ingewahrsamnahme am 30. April 2016 Akteneinsicht begehrt, woraufhin der Beklagte eine Rückmeldung angekündigt hatte, dann jedoch untätig geblieben war.“

b) Allgemeine Feststellungsklage

Soweit die übrigen Maßnahmen den Charakter eines nichtregelnden Verwaltungshandelns haben (wie etwa die Vorenthaltung von Trinkwasser und Toilettengängen), ist die Klage als allgemeine Feststellungsklage zulässig. Ihre besonderen Sachurteilsvoraussetzungen richten sich nach § 43 I iVm § 43 II S. 1 VwGO.

Das danach erforderliche konkrete Rechtsverhältnis folgt aus dem Streit über die Zulässigkeit des Eingriffs in die grundrechtlichen Rechte des Klägers. Bezogen auf das Feststellungsinteresse, das rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art sein kann, ist darauf hinzuweisen, dass es nicht durch die Beendigung der Maßnahme entfallen ist, wenn hinzukommt, dass trotz des in der Vergangenheit liegenden Eingriffs noch heute ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse besteht. Insoweit kann auf die Ausführungen zum Rehabilitationsinteresse verwiesen werden. Da andere Klagen nicht in Betracht kommen, scheitert die allgemeine Feststellungsklage nicht an der Subsidiaritätsklausel des § 43 II S. 1 VwGO.

II. Begründetheit

Das Verwaltungsgericht stellt die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahmen fest, wenn sie vor ihrer Erledigung rechtswidrig in die Grundrechte des Klägers eingegriffen haben. Da es sich um Grundrechtseingriffe handelte, gilt als Rechtmäßigkeitsmaßstab der Gesetzesvorbehalt.

1. Versammlungsgesetz

Auf der Grundlage der Versammlungsgesetze der Länder können Versammlungsverbote, die Auflösung einer Versammlung und auch vergleichbare geringer belastende Maßnahmen („Minusmaßnahmen“ – etwa Ausschluss einzelner Teilnehmer) getroffen werden.

§§ 15, 18 VersammlG in Brandenburg, Thüringen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bremen, Sachsen und Saarland; §§ 13, 14 VersG NRW; §§ 14, 16 VersFG BE; §§ 14, 22 HVersFG; §§ 13, 16 VersammlG LSA; §§ 8, 10 NVersG; §§ 13, 14 VersFG SH; Art. 15 BayVersG; §§ 15, 18 SächsVersG

2. Polizeigesetze

Die im vorliegenden Fall zu beurteilenden Maßnahmen sind als versammlungsgesetzliche Instrumentarien nicht vorgesehen. Damit könnte das allgemeine Polizeirecht aufleben. Von den Ermächtigungsgrundlagen für die Vollzugspolizei käme dann vorrangig der Abschnitt der „Besonderen Befugnisse“ in Betracht, zumal die hier zu beurteilenden Polizeimaßnahmen wegen ihrer besonderen Grundrechtsrelevanz auf Rechtsgrundlagen angewiesen sind, die – anders als die polizeigesetzliche Generalklausel – auf die in der Verfassung vorgegebene Schrankensystematik der betroffenen Grundrechte abgestimmt sein müssen (z.B. Art. 2 II i.V.m. 104 II GG).

§§ 11 ff BbgPolG; §§ 9 ff PolG NRW; §§ 13 ff PAG (Thüringen); §§ 18 ff ASOG Bln; §§ 11 ff SOG (Hamburg); §§ 12 ff HSOG; §§ 27 ff SOG MV; §§ 9a ff POG (Rheinland-Pfalz); §§ 14 ff SOG LSA; §§ 12 ff NPOG; §§ 199 ff LVwG SH; §§ 27 ff PolG (Baden-Württemberg); Art. 12 ff PAG (Bayern); §§ 11 ff BremPolG; §§ 13 ff SächsPVDG; §§ 9 ff SPolG

Die polizeiliche Generalklausel wäre heranzuziehen, wenn einzelne Handlungsformen im Abschnitt der „Besonderen Befugnisse“ nicht aufgeführt sind.

§§ 10 Abs. 1 BbgPolG; 8 Abs. 1 PolG NRW; 12 Abs. 1 PAG (Thüringen); 17 Abs. 1 ASOG Bln; 3 Abs. 1 SOG (Hamburg); 11 HSOG; 13, 16 MV; 9 Abs. 1 POG (Rheinland-Pfalz); 13 SOG LSA; 11 NPOG; 174, 176 LVwG SH; 3 PolG (Baden-Württemberg); Art. 11 PAG (Bayern); 10 Abs. 1 BremPolG; 12 SächsPVDG; §§ 8 Abs. 1 SPolG

Das alles setzt voraus, dass das allgemeine Polizeirecht überhaupt anwendbar ist und nicht durch das Versammlungsrecht verdrängt wird (dazu a). Erst als Weiteres wäre dann zu prüfen, ob die Voraussetzungen nach allgemeinem Polizeirecht erfüllt waren, insbes., ob die Maßnahmen verhältnismäßig waren (dazu b).

a) Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes?

Nach der bisherigen Sichtweise entfaltet das Versammlungsgesetz als lex specialis gegenüber den allgemeinen Polizeigesetzen Sperrwirkung mit der Folge, dass erst nach Auflösung einer Versammlung nach Versammlungsgesetz die Anwendbarkeit des allgemeinen Polizeirechts auflebt und damit möglich wird („Auflösungsvorbehalt“).

(1) Der VGH Mannheim hat die Anwendbarkeit des allgemeinen Polizeirechts im vorliegenden Fall damit begründet, dass es sich wegen der Gewaltbereitschaft der betroffenen Personengruppe nicht um eine Versammlung iSd. Versammlungsgesetzes gehandelt habe. Zwar erfüllt eine Zusammenkunft mehrerer Personen zum Zwecke der gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung den Begriff einer Versammlung. Erfasst wird auch die unfriedliche Versammlung, wie sich aus den versammlungsgesetzlichen Instrumentarien zur Gefahrenabwehr ablesen lässt. Dies gelte aber nicht für Ansammlungen, die nur auf Widerstand gerichtet seien.

Rn. 45 „Danach können auch sogenannte Blockadeaktionen in den Anwendungsbereich und damit unter den Auflösungsvorbehalt des Versammlungsgesetzes fallen, wenn und soweit diese von dem - tatbestandlich für die Annahme einer Versammlung vorausgesetzten - gemeinschaftlichen Zweck der Meinungskundgabe getragen sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.01.1987 - 1 B 219.86 für eine unfriedliche Sitzblockade).

Rn. 46 Unter den Begriff der Versammlung fallen auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.03.2011 - 1 BvR 388/05).

Rn. 47 Dies erfasst Veranstaltungen, bei denen die Teilnehmer ihre Meinungen zusätzlich oder ausschließlich auf andere Weise als in verbaler Form, etwa durch ihre bloße Anwesenheit z.B. in der Gestalt einer Blockade, zum Ausdruck bringen (sog. „demonstrative Blockade“; vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90). Die Blockade darf dabei jedoch nicht Selbstzweck, sondern muss ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes Mittel zur symbolischen Unterstützung des Protests und damit zur Verstärkung der kommunikativen Wirkung in der Öffentlichkeit sein (BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20 …).

Rn. 48 Demgegenüber handelt es sich bei strategischen Blockaden, die nicht nur kurzfristig symbolischen Protest ausdrücken wollen, bei dem die Behinderung Dritter bloße Nebenfolge ist, sondern deren primärer Zweck es ist, eigene Forderungen zwangsweise durchzusetzen, die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was - wie etwa eine andere Versammlung - politisch missbilligt wird, tatsächlich zu stören oder zu verhindern, nicht um eine geschützte Versammlung (sogenannte „Verhinderungsblockade; vgl. Senat, Urt. v. 06.11.2013 - 1 S 1640/12; BVerfG, Beschl. v. 24.10.2001 - 1 BvR 1190/90; HambOVG, Beschl. v. 03.07.2017 - 4 Bs 142/17; HessVGH, Beschl. v. 02.10.2020 - 2 B 2369/20; OVG Nds., Urt. v. 29.5.2008 - 11 LC 138/06).“

Die Gewalttätigkeiten, der Widerstandswille und die Absicht, den AfD-Parteitag zu verhindern, sieht der VGH als zwingende Indizien dafür, dass es sich um eine „Verhinderungsblockade“ handelte, die mangels argumentativen Ansatzes zwar eine Personenansammlung, aber keine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes ist.

Nach dieser Argumentation ist das allgemeine Polizeirecht anwendbar, ohne dass es darauf ankäme, inwieweit der Lautsprecherhinweis der Polizei, dass wegen der Vermummung und Errichtung von Barrikaden der Schutz des Versammlungsrechts nicht gelte, als Auflösung zu verstehen war. Dabei ist anzumerken, dass eine Auflösung wegen ihrer erheblichen grundrechtsrelevanten Auswirkungen (Wegfall des Schutzes durch das vorrangige Versammlungsgesetz) ohnehin ausdrücklich erfolgen müsste, was hier nicht geschehen ist.

(2) Das BVerwG kommt zum selben Ergebnis, begründet es aber ganz anders: Zwar sei das Versammlungsgesetz anwendbar, aber bei einer gewalttätigen Versammlung gelte zugleich das allgemeine Polizeigesetz mit der Folge, dass eine Sperrwirkung nicht entstehen kann. Denn auch die „Verhinderungsblockade“ sei eine Versammlung iSd. Versammlungsgesetzes (LS 1), solange es zu Meinungsbekundungen kommt (Rn. 42). Der Auflösungsvorbehalt nach Versammlungsgesetz als Ausschlussgrund für das allgemeine Polizeirecht – so Leitsatz 2 – gelte jedoch nicht, wenn die Versammlung wegen ihrer Unfriedlichkeit nicht dem Schutzbereich des Art. 8 I GG unterfällt.

Rn. 42 „Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Kann ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festgestellt werden, bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln ist (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 2016 - 1 BvR 458/10 - BVerfGE 143, 161 Rn. 112 f., Kammerbeschluss vom 12. Juli 2001 - 1 BvQ 28/01 u. a. - NJW 2001, 2459 <2461>; BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2007 - 6 C 23.06 - BVerwGE 129, 42 Rn. 16 ff., vom 22. August 2007 - 6 C 22.06 - Buchholz 402.44 VersG Nr. 14 Rn. 14, 22 und vom 24. Mai 2022 - 6 C 9.20 - BVerwGE 175, 346 Rn. 21).“

Nach Einschätzung des BVerwG (Rn. 50) handelte es sich trotz des von Anfang an gewalttätigen Verlaufs der Protestaktion um eine Versammlung iSd. Versammlungsgesetzes, weil die Personen ihre Ablehnung des Parteitages auch auf Plakaten kundtaten. Eine inhaltliche Bewertung der Meinung steht der Versammlungsbehörde nicht zu. Eine für die Annahme einer Versammlung iSd. Versammlungsgesetzes erforderliche kommunikative Kundgabe ist nur zu verneinen, wenn der Einsatz von Kommunikationsmitteln „in handgreiflicher Weise“ lediglich einen „Vorwand“ darstellt, um allein eine Blockade durchzuführen. Davon kann angesichts der mitgeführten Plakate nicht die Rede sein, die Aktion diente auch einem politischen Zweck.

Der Schutzbereich des Art. 8 I GG umfasst Versammlungen hingegen nur, wenn sie friedlich und ohne Waffen durchgeführt werden, andernfalls lebt Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht auf. Daraus schließt das BVerwG, dass bei unfriedlichen Versammlungen die Sperrwirkung des Auflösungsvorbehalts nicht gilt (Leitsatz 2), sodass neben dem Versammlungsgesetz ohne Einschränkungen das allgemeine Polizeirecht anwendbar ist.

Rn. 56 „Unter Berücksichtigung der ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgebers, unfriedlichen Versammlungen den Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG zu versagen, kommt jedenfalls einer unfriedlichen Versammlung, die - wie im vorliegenden Fall - von Beginn an und dann durchgehend einen unfriedlichen Charakter hat, die mit dem Auflösungsvorbehalt nach § 15 Abs. 3 VersG verbundene verfahrensrechtliche Privilegierung nicht zugute.

Rn. 64 ….Die versammlungsgesetzliche Sperrwirkung gegenüber einer Anwendung des Landespolizeirechts …ist… in dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG angelegt. Es ist eine Folge dieser verfassungsrechtlichen Wurzel der Sperrwirkung, dass die in Art. 8 Abs. 1 GG enthaltene Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers, unfriedliche Versammlungen von dem Schutzbereich der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit auszunehmen, bei der Auslegung der Reichweite der durch den Auflösungsvorbehalt des § 15 Abs. 3 VersG bewirkten Sperre einer Anwendung des Landespolizeirechts ihren Niederschlag finden muss. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht … etwa einen auf allgemeines Polizeirecht gegründeten Platzverweis - nur - für ausgeschlossen erachtet, solange sich eine Person in einer Versammlung befinde und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen könne (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Oktober 2004 - 1 BvR 1726/01 - NVwZ 2005, 80 <81>)“.

b) Polizeigesetzliche Rechtfertigung

Bei Anwendung der polizeigesetzlichen Befugnisnormen ist der Vorrang der Standardmaßnahmen („Besondere Befugnisse“) gegenüber der Generalklausel zu beachten.

(1) Bei der Einkesselung, der anschließenden Verbringung des K zur Gefangenensammelstelle mit dem dort verbundenen Aufenthalt handelt es sich um eine Ingewahrsamnahme, die unter anderem nur zulässig ist, wenn sie unerlässlich ist, weil auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht verhindert oder eine bereits eingetretene Störung nicht beseitigt werden kann. Angesichts der Blockade des Verkehrs, der Sachbeschädigungen durch Zweckentfremdung der Baustelleneinrichtungen und des Abbrennens von Pyrotechnik war mit erheblichen Straftaten zu rechnen (z.B. §§ 240 I, 224 und 125 I StGB). K hat in zurechenbarer Weise den Anschein seiner Beteiligung erweckt und war deshalb Anscheinsstörer.

Verfahrensrechtlich war der aus Art. 104 II GG folgende Richtervorbehalt zu beachten. Dem war durch die anwesenden Bereitschaftsrichter Rechnung getragen, auch wenn es bezogen auf K zu organisatorischen Verzögerungen kam. Gleichwohl konnte letztlich auf eine richterliche Entscheidung verzichtet werden, weil sich anderenfalls der Freiheitsentzug unnötig verlängert hätte.

Das polizeiliche Ermessen ist durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt. Die Fesselung einer Person kann danach nur zulässig sein, soweit dies zur Gefahrenabwehr erforderlich ist – etwa zur Verhinderung einer Selbstgefährdung oder der Beschädigung eines Haftraums. Da sich dafür im vereinfachten Sachverhalt keine Anhaltspunkte ergeben, war die Fesselung rechtswidrig. Dies betrifft auch die weiteren Modalitäten der Ingewahrsamnahme (Vorenthaltung von Trinkwasser und Toilettengang).

(2) Die Identitätsfeststellung und die erkennungsdienstliche Behandlung konnten sowohl als Standardmaßnahmen nach Polizeigesetz als auch nach §§ 163b I, 81b Alt. 1 StPO zur Strafverfolgung angeordnet werden. Deshalb bedarf es keines Eingehens auf § 17 II S. 1 GVG, wonach das angerufene Gericht – hier: das Verwaltungsgericht – auch rechtswegfremde Befugnisse überprüfen kann (§ 23 III EGGVG).

(3) Da K schließlich zu einem 16 km entfernten Bahnhof verbracht worden ist, ist darin eine zusätzliche Belastung zu sehen. Die Maßnahme war rechtswidrig. Aus dem Sachverhalt lässt sich nicht entnehmen, aus welchem Grund die Verbringung erfolgt ist – ob sich dies als Fortsetzung der Ingewahrsamnahme darstellen sollte („Verbringungsgewahrsam“) oder als zusätzliche Sicherungsmaßnahme nach der polizeigesetzlichen Generalklausel. Jedenfalls war der Gefahrentatbestand mit Ende des Parteitages um 17:00 Uhr entfallen, sodass ein darüber hinausgehender Verbringungsgewahrsam ebenso rechtswidrig wäre wie eine unbenannte Sicherungsmaßnahme auf der Grundlage der polizeigesetzlichen Generalklausel.

Ergebnis

Das Verwaltungsgericht stellt fest, dass die Freiheitsentziehung des Klägers insoweit rechtswidrig war, als sie über 17:00 Uhr hinaus aufrechterhalten wurde. Es wird weiter festgestellt, dass die Fesselung des Klägers, die Vorenthaltung von Trinkwasser und von Toilettengängen während des Gewahrsams rechtswidrig waren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

(BVerwG Urteil vom 27.03.2024 (6 C1/22))

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