Dürfen Korrektor:innen die Gewichtung Ihrer Kritik grundsätzlich überdenken?
Jeder Studierende kennt das Wechselbad der Gefühle nach einer Klausur bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse: Auf das befreiende Gefühl nach der Abgabe der mühsam in mehreren Stunden aufs Papier gebrachten Lösung folgt das Zittern und Bangen, während der oder die Korrektor:in der Arbeit nachgeht. Und schließlich stellt sich hoffentlich die Freude über das Bestehen ein. Einigen wird diese Freude jedoch nicht vergönnt, so auch einem Referendar aus NRW. Doch statt zu resignieren, legte er Widerspruch gegen die Bewertung ein. Doch was dann geschah, ist genauso selten wie unglaublich.
Sachverhalt
Im Dezember 2019 trat der besagte Referendar die schriftlichen Aufsichtsarbeiten im Rahmen des zweiten juristischen Staatsexamens an. Im März 2020 erhielt er dann die Botschaft, die alle Prüfungsteilnehmer fürchten. Statt einem positiven Ergebnis und einer Ladung zur mündlichen Prüfung erhielt er den Bescheid, den in NRW zur Zulassung zur Mündlichen erforderlichen Gesamtdurchschnitt von 3,5 Punkte nicht erreicht zu haben. Daran konnte auch die von ihm mit 6 Punkten bestandene Strafrechtsklausur nichts ändern. Vermutlich gerade, weil ihm nur ein einziger Punkt mehr zum Überspringen der magischen 3,5-Punktegrenze fehlten, legte der Referendar fristgemäß Widerspruch gegen den Bescheid ein und stütze diesen unter anderem auf Einwendungen gegen die genannte Strafrechtsklausur.
Das LJPA holte im Rahmen des Widerspruchsverfahrens Stellungnahmen der Prüfer ein (sog. Überdenkungsverfahren), wobei sowohl der Erst- als auch der Zweitprüfer Gnade zeigten: Der Erstprüfer war der Auffassung, man könne „bei erneuter Abwägung der durchaus vorhandenen Stärken und Schwächen der Bearbeitung unter Berücksichtigung des Widerspruchsvorbringens auch eine Bewertung der Gesamtleistung mit befriedigend (7 Punkte) vertreten“. Der Zweitprüfer tat das, was viele Zweitprüfer tun, die das Votum des Erstprüfers nachvollzogen haben – er schloss sich an.
Man könnte jetzt erwarten, dass das LJPA die höhere Benotung hinnehmen würde. Dem war jedoch nicht so, denn das Prüfungsamt griff ein: Im September informierte es die beiden Prüfer schriftlich über seine Einschätzung, es habe im Überdenkungsverfahren nur eine Auseinandersetzung mit substantiierten Einwendungen des Prüflings stattzufinden. Durch die Blume vermittelte das LJPA den Korrektoren so, dass die Höherbewertung seiner Rechtsansicht nach eine unzulässige Verschiebung des Bewertungsmaßstabes darstellen würde, weil die Korrektoren ohne substantiierte Einwände eine neue Gewichtung der Vorzüge und Mängel der Klausurleistung vorgenommen hätten.
Nach erneuter Überprüfung ruderten die Korrektoren daraufhin schließlich zurück und teilten in einer weiteren Stellungnahme mit, es werde in Abweichung der vorherigen Stellungnahme an der früheren Bewertung mit 6 Punkten festgehalten. Dementsprechend wies das LJPA den Widerspruch schließlich im Dezember 2021 zurück.
Entscheidungen des VG Gelsenkirchen und OVG NRW
Hiergegen erhob der Referendar vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Februar 2021 erfolgreich Verpflichtungsklage. Das Gericht folgte dem Kläger in seiner Auffassung, das Prüfungsamt habe mit dem Schreiben an die Korrektoren in unzulässiger Weise in den Bewertungsspielraum der beiden eingegriffen. Die beiden Prüfer hätten ihre rechtlichen Kompetenzen nicht überschritten, weil nicht zu beanstanden sei, dass beide eine erneute Abwägung zwischen den Stärken und Schwächen der klägerischen Klausur im Rahmen des Überdenkungsverfahrens durchgeführt hätten. Der Argumentation des LJPA erteilte das VG eine Absage: Nur weil eine neue Abwägung stattgefunden hätte, ginge damit noch lange keine unzulässige Änderung des Bezugsrahmens einher. Die Bearbeitung des Klägers könne im Rahmen des Überdenkungsverfahrens nämlich auch ohne dass die Einwendungen des Prüflings einen Bewertungsfehler aufgedeckt hätten, innerhalb des bestehenden Bezugsrahmens neu zugeordnet werden. Hinsichtlich der Herabsetzung der Note von 7 auf (wieder) 6 Punkte stellte das Gericht einen Bewertungsfehler fest, weil ihr ein Irrtum der beiden Korrektoren über ihre rechtlichen Befugnisse zugrunde läge, die durch das Schreiben des beklagten LJPAs verursacht worden sei.
Das LJPA hatte jedoch kein Einsehen und verfolgte seine Meinung in der Berufung weiter. Es unterfütterte seinen Standpunkt im Berufungsverfahren zwar mit weiteren Argumenten, insbesondere damit, dass eine erneute Abwägung der Stärken und Schwächen im bestehenden Bezugsrahmen im Rahmen des Überdenkungsverfahrens (wie es das VG Gelsenkirchen für zulässig erachtet) einen Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit darstelle. Allerdings folgte auch das OVG NRW dieser Auffassung nicht und wies die Berufung als unbegründet zurück. Es betonte, ihm als Gericht stünde hinsichtlich der Einordnung der Prüfungsleistung in das bestehende Bewertungssystem lediglich eine eingeschränkte gerichtliche Kontrolle zu, wobei das prüfungsrechtliche Überdenkungsverfahren hier den erforderlichen Ausgleich biete. Eine Verletzung der Chancengleichheit läge zudem nicht vor, da das zugrunde gelegte Bewertungssystem sich bei der Neubewertung im Überdenkungsverfahren nicht geändert habe. Weder nach dem Juristenausbildungsgesetz NRW noch nach anderweitigen prüfungsrechtlichen Grundsätzen ließe sich ein dahin gehendes Verbot für die Prüfer entnehmen, ihre Gesamtbewertung (unabhängig von einer Substantiierung der Einwendungen des Prüflings) im Überdenkungsverfahren einer Überprüfung zu unterziehen.
Man könnte meinen, dass das LJPA nach der erfolglosen Befassung von zwei Gerichten wenigstens klein beigeben würde. Fehlanzeige: Es folgte eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, § 133 VwGO.
Entscheidung des BVerwG
Die Richter des BVerwG prüften sich schulmäßig durch den § 132 II VwGO und kamen schließlich im Dezember 2023 zu dem Ergebnis, dass kein Revisionszulassungsgrund einschlägig sei. Abgesehen von einer fehlenden grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 II Nr. 1 VwGO) und einer Divergenz (§ 132 II Nr. 2 VwGO) sah das Gericht auch keinen Verfahrensmangel (§ 132 II Nr. 3 VwGO), obwohl sich das LJPA bei seiner Begründung offensichtlich alle Mühe gab. Im Wesentlichen folgte das Gericht der bereits dargestellten Rechtsauffassung der Vorinstanzen und bestätigte zudem das, wofür der Referendar seit März 2020 kämpfte: Ein in zulässiger Weise angestoßenes Überdenkungsverfahren führt nicht dazu, dass die Prüfer auf die Einwände des Prüflings beschränkt sind.
Entsprechend minimal dürfte hier der Erkenntnisgewinn für alle zukünftigen Prüflinge ausfallen: Jeder weiß, dass die Bewertung einer Leistung zwar anhand nachvollziehbarer Kriterien stattfinden muss, allerdings ist und bleibt die Gewichtung und damit die Gesamtbewertung einer Prüfungsleistung unscharf. Die Antwort auf die Frage, ob es nun 6 oder 7 Punkte werden, lässt sich also auch weiterhin mit einem anderen Ausspruch für das Phrasenschwein beantworten: Mit guter Begründung ist beides vertretbar.
Fazit
Diejenigen, die insbesondere in den Staatsexamina nicht die erforderlichen Punkte in den Klausuren einsammeln konnten, sollten nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern sich schnellstmöglich zur Klausureinsicht aufrappeln, um die Möglichkeiten eines Widerspruchs zu prüfen. Wie dieser Rechtsstreit zeigt, ist die Situation nicht immer so aussichtslos, wie das jeweilige LJPA signalisieren mag. Zu bedenken bleibt allerdings die Zeit, die bei dem ganzen Unterfangen ins Land gehen kann.
Der Rechtsstreit sollte den Lesenden allerdings auch ausreichend Anreiz geben, sich mit den eigenen Klausuren und deren Bewertungen ausführlich zu beschäftigen. Auch wenn es nicht um eine Remonstration bzw. den Widerspruch gegen Examensergebnisse geht, nimmt man aus der aufmerksamen Lektüre der Bewertungen immer etwas mit. Ob es nun materiellrechtliche Fehler in der konkreten Klausur sind oder es darum geht, zu lernen, wie die Korrigierenden allgemein „denken“ und wie man beim nächsten Mal durch einige Stellschrauben noch mehr Punkte einsammeln kann. Lies dazu auch unseren Beitrag zur “perfekten” Klausur.
Es bleibt dem Kläger aus NRW unbekannterweise nur viel Erfolg für die mündliche Prüfung zu wünschen.
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