Das BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO

Das BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO

Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu Ungunsten des Freigesprochenen—“ne bis in idem”

Jüngst hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Beantwortung der Frage auseinandersetzen müssen, ob der § 362 Nr. 5 StPO verfassungswidrig ist. Gemäß § 362 Nr. 5 StPO könne die Wiederaufnahme eines Verfahrens möglich sein, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden. In unserem hier besprochenen Fall stellte die zuständige Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Wiederaufnahme eines Verfahrens. Das Landgericht erklärte die Wiederaufnahme für zulässig. Hiergegen legte der zuvor Freigesprochene Beschwerde ein, welche vom Oberlandesgericht verworfen wurde. Sodann legte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde ein und das Bundesverfassungsgericht musste entscheiden.

A. Sachverhalt

Dem Beschwerdeführer (Bf) wurde vorgeworfen, 1981 eine 17 Jahre alte Schülerin vergewaltigt und getötet zu haben. Das LG Stade hat ihn im (rechtskräftigen) Urteil vom 13. Mai 1983 vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes freigesprochen.

Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zu Ungunsten eines Angeklagten ist in § 362 StPO geregelt. Die ersten drei Wiederaufnahmegründe beruhen im Wesentlichen auf Verfahrensfehlern im Prozess, Nr. 4 setzt ein nachträgliches Geständnis des Freigesprochenen voraus; § 362 Nr. 5 ist durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung vom 21. Dezember 2021 (Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit), BGBL I S. 5252 hinzugefügt worden. Danach ist eine Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zulässig „5. Wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden…“.

Die ersten vier Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO lassen sich auf die Reichsstrafprozessordnung vom 1. Februar 1877 zurückführen. In der Weimarer Republik wurde eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe um neue Tatsachen oder Beweismittel zu Lasten des Angeklagten auf dem 36. Deutschen Juristentag im Jahre 1931 kontrovers diskutiert und im Ergebnis abgelehnt.

In der nationalsozialistischen Zeit wurden die Wiederaufnahmegründe im Jahre 1943 aneinander angeglichen. Wichtiger als die formale Rechtskraft zum Schutz des Beschuldigten sei das Verlangen der Volksgemeinschaft nach Verwirklichung materieller Gerechtigkeit.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Rechtslage entsprechend der Reichsstrafprozessordnung wiederhergestellt, zunächst in den Besatzungszonen, 1950 dann aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung vom 20. September 1950 ( BGBL I S. 455).

Der Einführung des § 362 Nr. 5 StPO gingen mehrere, jeweils durch Einzelfälle angestoßene Reformversuche voraus, die alle scheiterten. Auch die Einführung des § 362 Nr. 5 StPO ist durch den Einzelfall, der Gegenstand des Verfahrens ist, veranlasst worden. Es gab eine Petition zur Reform der Wiederaufnahme, die ca. 180.000 Menschen unterschrieben haben.

Im Februar 2022 stellte die zuständige Staatsanwaltschaft beim LG Verden gemäß 362 Nr. 5 StPO einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und auf Erlass eines Haftbefehls. Das LG erklärte die Wiederaufnahme für zulässig und ordnete gegen den Bf Untersuchungshaft an. Die hiergegen erhobene Beschwerde verwarf das OLG Celle mit Beschluss vom 20. April 2022.

Gegen diese Beschlüsse und gegen die Norm des § 362 Nr. 5 StPO richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 III GG sowie aus Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 20 III GG geltend macht. Er rügt die Verfassungswidrigkeit des § 362 Nr. 5 StPO, der auch nicht verfassungskonform ausgelegt werden könne. Die Beseitigung der Rechtskraft des freisprechenden Urteils verstoße gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot.

Das BVerfG hat auf Antrag des Bf den Vollzug des Haftbefehls des LG mit Beschluss vom 14. Juli 2022 und mit Beschluss vom 20. Dezember 2022 unter Auflagen ausgesetzt.

I. Stellungnahme der Fraktionen des Deutschen Bundestages

Aus dem Deutschen Bundestag haben die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und die FDP gemeinsam Stellung genommen; die Fraktionen der SPD und die der CDU haben jeweils gesondert eine Stellungnahme abgegeben.

Bündnis 90/Die Grünen und die FDP halten § 362 Nr. 5 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 III GG und wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbots (Art. 2 I in Verbindung mit Art. 20 III GG) für verfassungswidrig. Art. 103 GG garantiere die Einmaligkeit des Strafverfahrens; bereits die Reichsstrafprozessordnung habe bewusst auf eine Wiederaufnahme zu Lasten des Angeklagten aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel verzichtet. Aus dem Hintergrund des Art. 103 III GG folge, dass der Gesetzgeber die Wiederaufnahme zu Lasten des Angeklagten nicht um den Grund neuer Tatsachen oder Beweise erweitern dürfe (Reaktion auf die Erfahrungen in der Zeit der nationalsozialistischen Willkürherrschaft.). Jedes Strafverfahren sei zeitgebunden, weil das Gericht nur auf die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung verfügbaren Erkenntnismittel zurückgreifen könne. Freisprechende Urteile verlören an Autorität und könnten ihre rechtsfriedenstiftende Funktion nicht erfüllen, wenn der Freigesprochene mit der Gefahr wiederholter Strafverfolgung rechnen müsste. Das Argument der materiellen Gerechtigkeit könne nicht als rechtfertigender Belang herangezogen werden, zumal erst nach Durchführung eines erneuten Strafverfahrens feststehe, ob der Freispruch ungerechtfertigt sei.

Die Fraktion der SPD hält § 362 Nr. 5 StPO für verfassungsgemäß. Art. 103 III GG beinhalte nach seinem Wortlaut kein Mehrfachverfolgungs-, sondern nur ein Mehrfachbestrafungsverbot. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates fänden sich keine Hinweise, dass auch die erneute Strafverfolgung von Art. 103 III GG erfasst werden solle. Die rechtsstaatliche Grundlage des Mehrfachverfolgungsverbotes sei nicht mit der des Doppelbestrafungsverbotes identisch. Gegen das Mehrfachverfolgungsverbot sei eine Abwägung mit anderen Grundsätzen (hier der materiellen Gerechtigkeit) möglich. Art. 103 III GG sei nicht abwägungsfest, sondern verlange nur den Ausnahmecharakter der Wiederaufnahme. Dieser sei bei der Neuregelung des § 362 Nr. 5 StPO gegeben (Begrenzung auf besonders schwere Straftaten).

Die CDU/CSU Fraktion hält die Verfassungsbeschwerde ebenfalls für unbegründet. Art. 103 III GG verbiete eine doppelte Bestrafung und eine Strafverfolgung zum Zwecke einer doppelten Bestrafung. Er umfasse jedoch kein generelles Verbot mehrfacher Strafverfolgung. Eine Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen sei nach Art. 103 III GG nicht verboten. Auch die rückwirkende Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO sei zulässig und gerade nicht mit dem Rückwirkungsverbot in Konflikt.

II. Die Landesregierungen des Landes Niedersachsen, des Freistaates Bayern und der Länder Brandenburg und Hessen halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

Die Landesregierung des Freistaates Thüringen erachten § 362 Nr. 5 StPO wegen Verstoßes gegen Art. 103 III GG für verfassungswidrig.

Der Senat hat am 24. Mai 2023 eine mündliche Verhandlung durchgeführt und den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit der Ergänzung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens gegeben. Er hat zudem sachkundige Auskunftspersonen gehört.

B. Gründe

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde für zulässig erklärt. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Bf sei verfassungswidrig, § 362 Nr. 5 StPO verstoße gegen Art 103 III GG. Die Anwendung auf Freisprüche, die am 30. Dezember 2021 – in Kraft treten der Regelung- rechtskräftig waren, verletze zudem das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 III in Verbindung mit Art. 20 III GG (Rn 52/53).

I. Art. 103 III GG ein grundrechtsgleiches Recht

Das BVerfG sieht in Art. 103 III GG ein grundrechtsgleiches Recht, das es verbiete, die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil eines Betroffenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel zuzulassen (Rn 54). Art. 103 III GG enthalte ein Mehrfachverfolgungsverbot auch gegenüber dem Gesetzgeber. Der Artikel beinhalte eine verfassungsrechtliche Entscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Das Recht sei abwägungsfest, der Gesetzgeber habe insoweit keinen Spielraum.

1. Art 103 III GG als subjektives grundrechtsgleiches Recht

Das subjektiv grundrechtsgleiche Recht aus Art. 103 III GG wirke sowohl gegenüber den Strafgerichten und den Strafverfolgungsorganen wie auch gegenüber dem Gesetzgeber (Rn 55/56). Der Grundsatz „ne bis in idem“ sei ein Prinzip des Strafklageverbrauches und lasse somit keine erneute Strafverfolgung zu. Zwar ließe der Wortlaut des Artikel 103 III GG eine Auslegung zu, wonach die Bestimmung nur für Verurteilte gelte. Eine solche Auslegung widerspräche jedoch der Entstehungsgeschichte sowie dem Zweck dieses Rechts und der Praxis der Strafgerichte (Rn 60).

Im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit, dass der Grundsatz „ne bis in idem“ bereits vor einer mehrfachen Verfolgung schützen und somit auch nach Freisprüchen gelten sollte. Niemand sollte wegen derselben Straftat wiederholt verfolgt werden. Vor dem Hintergrund der Willkürherrschaft im Nationalsozialismus sollte das Prinzip der Rechtskraft nicht durchbrochen werden (Rn 62/63). Das Reichsgericht ging von Anfang an von der Geltung des Grundsatzes als Mehrfachverfolgungsverbotes aus; diesem Verständnis entspricht auch die strafrechtliche Praxis. Der aus Mangel an Beweisen Freigesprochene soll geschützt werden. Ein Strafverfahren stelle für den Betroffenen eine erhebliche Belastung dar, der er nur ein Mal ausgesetzt sein solle (Rn 69). Art. 103 III GG soll über seinen Wortlaut hinaus auch vor Maßnahmen schützen, die eine mögliche Verurteilung bezwecken. Strafprozessual stellt Art. 103 III GG ein Verfahrenshindernis für eine erneute Einleitung eines Strafverfahrens dar (Rn 71).

Dies gilt auch gegenüber dem Gesetzgeber. Art. 103 III GG wäre wirkungslos, wenn der Gesetzgeber durch ein einfaches Gesetz eine Wiederaufnahme und damit eine erneute Strafverfolgung ermöglichen könnte (Rn 74). Insoweit trifft Artikel 103 III GG eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit (Rn 75/76). Beide Grundsätze haben Verfassungsrang. Diese Gleichstellung gilt jedoch nicht, wo das Grundgesetz bereits eine Entscheidung getroffen hat. Der Verfassungsgeber hat in Art.103 III GG entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang gegenüber dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit zukommt. Damit ist dieses Recht abwägungsfest. Diese Feststellung ergäbe sich zwar nicht aus dem Wortlaut, sondern aus der Entstehungsgeschichte, der Systematik und dem Zweck der Norm (Rn 83).

2. Besonderes Rückwirkungsverbot

Art. 103 III GG korrespondiert mit Art. 102 II GG, der dem Gesetzgeber ausnahmslos verbietet, rückwirkende Strafgesetze zu erlassen. Dieses besondere Rückwirkungsverbot ist absolut, folgt direkt aus Art 103 II und III GG und bedarf keiner gesetzlichen Umsetzung (Rn 84/85). Art. 103 III GG will verhindern, dass nach dem rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens der Betroffene erneut mit einem Verfahren belastet wird (Rn 87).

3. Sinn und Zweck des Art 103 III GG

Der Sinn und Zweck dieser Norm ist es, den staatlichen Strafanspruch zu begrenzen. Art. 103 III GG dient zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen und verhindert, dass der Einzelne zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird. Die Norm beschränkt die Durchsetzung des Legalitätsprinzips; sie dient dem Rechtsfrieden, indem sie die endgültige Feststellung der Rechtslage sichert (Rn 88/89). Eine Erforschung der Wahrheit um jeden Preis soll es nicht geben.

Dieses Ergebnis wird auch durch die bisherige Rechtsprechung des BVerfG, die durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts geprägt wurde, bestätigt.

4. Begrenzung des Art. 103 III GG

Art. 103 III GG bezieht sich nur auf Sanktionen aufgrund der allgemeinen Strafgesetze (nicht auf Ordnungswidrigkeitenverfahren, Dienst- und Disziplinarverfahren) und gilt nur für rechtskräftige Strafurteile deutscher Gerichte, die aufgrund einer Hauptverhandlung ergangen sind. Strafbefehle und Einstellungsverfahren der Staatsanwaltschaft fallen nicht darunter, ebenso wenig wie Gerichtsbeschlüsse mangels hinreichenden Tatverdachts, §§ 174 I, 204 StPO (Rn 101-109).

Das Gleiche gilt für eine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zur Aufhebung eines Strafurteils gemäß § 362 Nr. 1-4 StPO; diese Bestimmungen stellen immanente Schranken des Art. 103 III GG dar (Rn 118). Das Ziel der Wiederaufnahme ist in den Fällen des § 362 Nr. 1-3 StPO nicht ein im Ergebnis anderes Urteil, sondern primär die Wiederholung des fehlerhaften Verfahrens (Rn 119). § 362 Nr. 4 StPO soll verhindern, dass sich ein Freigesprochener in aller Öffentlichkeit seiner Straftat rühmt, das Opfer verhöhnt und den Staat lächerlich macht (Rn122).

Demgegenüber verbietet Art. 103 III GG dem Gesetzgeber die Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel, um eine mögliche Diskrepanz zwischen dem Inhalt des Strafurteils und der materiell-rechtlichen Wirklichkeit zu beseitigen (Rn 123-126). Der Rechtsstaat nimmt im Einzelfall um der Rechtssicherheit willen eine unrichtige Entscheidung in Kauf (Rn 127). Auch die Belange von Opfern und Angehörigen können nach Auffassung des BVerfG eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens nicht rechtfertigen (Rn 132). Deren Anspruch auf effektive Strafverfolgung geht nicht über die Erzwingung einer Anklage und die Verfahrensrechte als Nebenkläger hinaus. Der Staat ist nur zur Strafverfolgung selbst, nicht aber zu ihrem Erfolg im Sinne der absoluten Wahrheit verpflichtet.

II. Verletzung des Rückwirkungsverbotes, Art. 103 III GG in Verbindung mit Art. 20 III GG

Das BVerfG sieht in der Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten dieser Bestimmung durch rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren, eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes (Rechtsstaatsprinzip) (Rn 142).

Das BVerfG unterscheidet in ständiger Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit „echter“ und „unechter“ Rückwirkung.

Eine Norm entfaltet eine echte Rückwirkung, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung für Tatbestände gelten soll, die zum Zeitpunkt der Verkündung der Norm bereits abgeschlossen waren.

Von einer „unechten“ Rückwirkung ist auszugehen, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen einwirkt und somit die betroffene Rechtsposition entwertet (Rn 144). Eine „echte“ Rückwirkung ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig (Rn 145). Mit diesem Verbot wird das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der auf Grundlage der Rechtsordnung erworbenen Rechte geschützt. Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze (s. BVerfGE 13.261,271; 88,384,404;156,354,406). Eine Ausnahme hiervon ist nur zulässig, wenn der Betroffene nicht auf den Fortbestand der gesetzlichen Regelung vertrauen durfte und mit deren Änderung rechnen musste- z.B. bei unklarer, verworrener Rechtslage. Eine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO für Verfahren, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens rechtskräftig abgeschlossen waren, stellt eine echte Rückwirkung dar, die auch nicht ausnahmsweise zulässig ist (Rn 147, 152).

Dies trifft auf den streitgegenständlichen Fall zu. § 362 Nr. 5 StPO erfasst auch Freisprüche, die vor Inkrafttreten der Nr. 5 in Rechtskraft erwachsen sind. Freigesprochene dürfen darauf vertrauen, dass die Rechtskraft des Freispruches nur aufgrund der bisherigen Rechtslage durchbrochen werden kann. Der Grundsatz „ne bis in idem“ erkennt die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in ein freisprechendes Urteil an, Art. 103 III GG verleiht diesem Vertrauensschutz Verfassungsrang (Rn 153). Dabei ist es unerheblich, ob der Betroffene wusste, dass das Urteil materiell-rechtlich falsch war. Der Betroffene muss sich nicht selbst belasten und hat im Strafverfahren ein Recht auf Schweigen (Rn 156). Dieser Vertrauensschutz kann auch nicht wegen zwingender Gründe des Gemeinwohls nachträglich beseitigt werden (Rn 157).

C. Abweichende Meinung des Richters Müller und der Richterin Langenfeld

Die abweichende Meinung des Richters und der Richterin beruht im Wesentlichen auf drei Gründen:

I. Offenheit des Art. 103 III GG

Art. 103 III GG ist nach deren Auffassungen für eine Abwägung mit entgegenstehenden Verfassungsgütern offen. Er enthält keine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit (Rn 3,4). Zwar habe der Gesetzgeber in Art. 3 III GG eine Grundsatzentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit getroffen, so dass die Wiederaufnahme eines Verfahrens die Ausnahme bleiben und auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen müsse. Eine regelhafte Durchbrechung der Rechtssicherheit dürfe es nicht geben. Allerdings gewähre Art. 103 III GG keinen absoluten Schutz, sonst wären die Ausnahmegründe in § 362 Nr. 1-4 StPO nicht möglich. Dem Gesetzgeber stehe es offen, unter Beachtung der engen Grenzen des Art. 103 III GG die bestehenden Wiederaufnahmegründe zu Ungunsten des Betroffenen zu ergänzen. Art. 103 III GG unterliege insoweit den allgemeinen Regeln der verfassungsimmanenten Schranken (Rn 5). Allein das Grundrecht auf Menschenwürde habe absoluten Schutz und sei nicht abwägbar.

II. Bisherige Rechtsprechung des BVerfG

Das BVerfG habe bisher die verfassungsrechtlichen Grenzen einer Wiederaufnahme zu Ungunsten des Betroffenen nicht bestimmt. Daher könne die Senatsmehrheit sich für die Abwägungsfestigkeit des Art. 103 III GG auch nicht auf die Rechtsprechung des BVerfG berufen (Rn 6).

III. Enstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck des Art. 103 III GG

Nach der Auffassung der abweichenden Meinung sprechen weder die Entstehungsgeschichte (a), die Systematik (b), noch der Sinn und Zweck der Norm (c) für eine uneingeschränkte Abwägungsfestigkeit (Rn 7,8).

1. Entstehungsgeschichte

Der Entstehungsgeschichte lassen sich keine eindeutigen Folgerungen zugunsten einer absoluten Abwägungsfestigkeit des Art. 103 III GG entnehmen - so auch die Senatsmehrheit (Rn 81). Im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit, dass der vorgrundrechtliche Besitzstand der Reichsstrafprozessordnung fortgeschrieben werden sollte (Rn8). Dies habe auch das BVerfG in einer frühen Entscheidung aus dem Jahr 1953 (BVerfGE 3,248,252) so gesehen. Die Materialien böten für eine restriktive Auslegung des Art. 103 III GG keinen Anhalt (Rn 9).

2. Systematik des Art. 103 III GG

Die Vertreter der abweichenden Meinung sind nicht überzeugt, dass zur Begründung der Abwägungsfestigkeit die Systematik des Art. 103 III GG herangezogen werden könne. Der Verfassungsgeber habe der Rechtssicherheit gerade keinen absoluten Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt, sondern er habe lediglich die vorgefundenen Wiederaufnahmetatbestände unangetastet gelassen. Nach § 163 Nr. 1-3 StPO könne eine Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens bei schweren Verfahrensmängeln in Betracht kommen, sowie bei einem glaubwürdigen Geständnis eines Freigesprochenen (§ 362 Nr. 4 StPO). In diesen Fällen überwiege das Gewicht der Wiederaufnahmegründe den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen (Rn 11,12). Dies gelte auch für den neu eingefügten § 362 Nr. 5 StPO, der keinen Paradigmenwechsel darstelle, sondern einen Freispruch korrigiere, der auf Grund von Beweismitteldefiziten zustande gekommen sei (Rn 13). Dies sei nur bei schwersten, unverjährbaren Verbrechen möglich (Rn 24). Sowohl bei § 362 Nr. 4 und Nr. 5 StPO gehe es um die nachträgliche Störung des Rechtsfriedens und das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung. Beides seien vergleichbare Ausnahmefälle, die verfassungsrechtlich gleich zu beurteilen seien (Rn 14).

3. Sinn und Zweck der Norm des Art. 103 III GG

Der Sinn und Zweck des Art. 103 III GG erfordere nicht dessen Abwägungsfestigkeit. Der Zweck des Individualgrundrechts bestehe darin, den staatlichen Strafanspruch, um der Rechtssicherheit des Einzelnen willen zu begrenzen und das Legalitätsprinzip insoweit einzugrenzen (Rn 16). § 362 Nr. 5 StPO heble nicht das durch Art. 103 III GG vorgegebene Regel- Ausnahme- Verhältnis aus, sondern ermögliche die Wiederaufnahme für eng begrenzte, extreme Ausnahmefälle, die in einem rechtsstaatlich abgesicherten Rahmen stehen und nicht das „grundrechtsgleiche“ Recht aus Art. 103 III GG aushöhlen (Rn 17). Es sei ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, den staatlichen Strafanspruch auf der Grundlage einer zutreffenden Tatsachenermittlung durchzusetzen (Rn 20). Daher sei es verfassungsrechtlich legitim, im Falle schwerster Straftaten, der materiellen Gerechtigkeit den Vorrang vor der Rechtssicherheit einzuräumen. Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches berücksichtige auch die Belange der Opfer und ihrer Angehörigen. Ein solches Verständnis des staatlichen Strafanspruches stehe auch im Einklang mit dem geltenden Völkerstrafrecht (Rn 22-29).

IV. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Um verfassungsgemäß zu sein, müsse § 362 Nr. 5 StPO dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen und zudem hinreichend bestimmt sein. Die Richter betonen in ihrer abweichenden Meinung, dass wegen der erheblichen Beeinträchtigung für den Freigesprochenen hier sehr hohe Anforderungen gestellt werden müssen, um den staatlichen Strafanspruch durchsetzen zu können. Der Betroffene dürfe nicht ein Leben lang unter dem Damoklesschwert eines erneuten Strafverfahrens leben müssen.

Dieser Anforderung genüge § 362 Nr. 5 StPO einerseits dadurch, dass ein Wiederaufnahmeverfahren nur bei schwersten Verbrechen vorgesehen sei (Rn 33,34). Andererseits müssten Sicherheitsmechanismen verhindern, dass ein Unschuldiger ein zweites Mal einem Strafverfahren wegen derselben Tat unterworfen werden (Rn 35). Dies bedeute, dass die neuen Beweismittel von solcher Qualität sein müssen, dass eine Verurteilung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.

Vor dem Hintergrund der Auffassung der Senatsmehrheit lässt die abweichende Meinung offen, ob der Wortlaut des § 362 Nr. 5 StPO diese hohen Anforderungen erfüllt.

Das Gleiche gelte für die Bestimmtheit. Hier werden in der abweichenden Meinung Bedenken geäußert, ohne diese weiter auszuführen.

V. Verstoß gegen das Verbot der „echten“ Rückwirkung

In Übereinstimmung mit der Senatsmehrheit sehen die Vertreter der abweichenden Meinung in § 362 Nr. 5 StPO einen Verstoß gegen das Verbot der „echten“ Rückwirkung (Art. 20 III in Verbindung mit Art. 103 III GG). Das Vertrauen in die Gerechtigkeit und in die Rechtsordnung erfordere es nicht, die Wiederaufnahme auf solche rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren zu erstrecken, die mit einem Freispruch endeten (Rn 38).

Anmerkung

Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung zu Art. 103 III GG den Charakter dieses Rechts als subjektives, grundrechtsgleiches Recht hervorgehoben, das nicht nur ein Mehrfachbestrafungsverbot, sondern auch ein Mehrfachverfolgungsgebot beinhaltet.

Es wirkt nicht nur gegenüber den Strafverfolgungsorganen und den Gerichten, sondern auch gegenüber dem Gesetzgeber, der die vorhandenen Ausnahmen in § 362 Nr. 1-4 StPO nicht erweitern darf, um aufgrund neuer Tatsachen ein materiell unrichtiges Urteil zu korrigieren. Das BVerfG hat somit klar dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt und Art. 103 III GG für abwägungsfest gegenüber anderen rechtsstaatlichen Grundsätzen erklärt.

Hier setzt die Kritik des Richters und der Richterin ein, die insoweit eine abweichende Meinung vertreten. Sie sind der Auffassung, dass die Verfassung in Art. 103 III GG gerade keine absolute Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit getroffen habe, und verweisen auf die Ausnahmegründe in § 362 Nr. 1-4 StPO. Diese wäre nicht verfassungsgemäß, wenn Art. 103 III GG einen absoluten Schutz böte und belegen dies mit Beispielen.

Auch wenn man der Auffassung der abweichenden Meinung zuneigt, ist festzuhalten, dass das BVerfG eine klare mehrheitliche Entscheidung zugunsten des Prinzips der Rechtssicherheit getroffen hat.

Es hat den Schutz des einmal Freigesprochenen vor einer erneuten Strafverfolgung aufgrund neuer Beweise als allein verfassungsgemäß festgestellt.

Auch die (unstreitigen) Ausführungen zum Verbot echter Rückwirkung und die Abgrenzung zur unechten Rückwirkung sind von Bedeutung, auch wenn sie nicht neu sind.

(BVerfG Urteil des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2023, 2 BvR - 900/22)