BGH zur Entschädigung eines Berufsmusikers für ersten Corona-Lockdown

BGH zur Entschädigung eines Berufsmusikers für ersten Corona-Lockdown

Ein Fall aus dem Staatshaftungsrecht

Der erste Corona-Lockdown von März bis Juli 2020 ist nun schon einige Jahre her. Seine rechtliche Aufarbeitung dauert aber noch an. Mit Urteil vom 3. August 2023 hat der BGH eine weitere Grundsatzentscheidung zu Entschädigungen aufgrund des Lockdowns getroffen. Eine gute Gelegenheit, das Staatshaftungsrecht aufzufrischen oder sich erstmals damit auseinanderzusetzen.

A. Sachverhalt

Der Kläger ist unter anderem Leiter einer Musikgruppe. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt großteils von Live-Auftritten. Da Baden-Württemberg im ersten Lockdown mehrere Verordnungen zur Bekämpfung des Coronavirus erließ, konnte er zunächst gar nicht mehr und im weiteren Verlauf nur mit begrenzten Teilnehmerzahlen und unter Schutzauflagen auftreten. Daher begehrt der Kläger vom Land Baden-Württemberg eine Entschädigung in Höhe von 8.326,48 Euro für seine Einnahmeausfälle. Zu Recht?

B. Entscheidung des BGH

Dem Kläger könnte ein Anspruch auf Entschädigung aus dem Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs zustehen.

I. Herleitung des Haftungsinstituts

Die rechtliche Grundlage des Haftungsinstituts ist umstritten, während das Bestehen des Instituts im Ergebnis aber allgemein anerkannt ist. Für Sonderopfer aufgrund von rechtswidrigem staatlichen Handeln muss der Staat Entschädigungen zahlen.

Das Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs wurde richterrechtlich auf Grundlage des §§ 74, 75 der Einleitung des prALR (Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794) hergeleitet. Dort ist geregelt, dass Menschen, die ihre besonderen Rechte und Vorteile dem Allgemeinwohl aufopfern, zu entschädigen sind. Zwar war das prALR im Grundsatz auf rechtmäßiges Staatshandeln zugeschnitten, indes muss erst recht ein Anspruch auf Entschädigung für rechtswidriges staatliches Handeln bestehen. Das Rechtsinstitut wird zum Teil auch als Ausdruck des Prinzips der Lastengleichheit nach Art. 3 I GG angesehen oder aus Art. 14 I GG hergeleitet. Jedenfalls ist es gewohnheitsrechtlich anerkannt.

Voraussetzung für einen enteignungsgleichen Anspruch ist, dass als Schutzobjekt das Eigentum im Sinne des Art. 14 I GG betroffen ist (II.). In das Eigentum muss unmittelbar und hoheitlich eingegriffen worden sein (III.). Das eingreifende staatliche Handeln muss sich außerdem als Sonderopfer des Betroffenen darstellen (IV.) und der Vorrang des Primärrechtschutzes darf dem Anspruch nicht entgegenstehen.

II. Eigentum im Sinne des Art. 14 I GG

Es müsste eine Rechtsposition des Klägers im Sinne des Art. 14 I GG betroffen sein. Eigentum in diesem Sinne sind

grundsätzlich alle vermögenswerten Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, dass er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf.

(BVerfGE 83, 201)

Rechtsposition in diesem Sinne ist auch der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb.

III. Unmittelbarer und hoheitlicher Eingriff

Mit den Coronaverordnungen müsste das Land Baden-Württemberg hoheitlich und unmittelbar in den Gewerbebetrieb des Klägers eingegriffen haben. Die staatlichen Verordnungen stellen eine hoheitliche Maßnahme da. Durch diese war es dem Kläger

vorübergehend verwehrt bzw. nur in eingeschränktem Maße möglich (…), die vorhandenen Betriebsmittel bestimmungsgemäß zu nutzen und (…) bereits vertraglich vereinbarte Auftrittsmöglichkeiten wahrzunehmen.

Somit lag ein unmittelbarer Eingriff in den Gewerbebetrieb des Klägers vor.

IV. Sonderopfer

Der Eingriff müsste zu einem Sonderopfer des Klägers geführt haben. Das Vorliegen eines Sonderopfers gegenüber der Allgemeinheit wird bei Rechtswidrigkeit des Eigentumseingriffs in der Regel indiziert. Voraussetzung ist damit, dass der Eingriff rechtswidrig war. Zu prüfen ist mithin, ob die Coronaverordnungen des Landes Baden-Württemberg rechtswidrig waren.

Verordnungen sind rechtswidrig, wenn sie nicht auf einer ausreichenden gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen, formell oder materiell rechtswidrig sind. Die Coronaverordnungen beruhten auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage aus dem Infektionsschutzgesetz und waren formell rechtmäßig. Die Verordnungen könnten aber materiell rechtswidrig gewesen sein. Insbesondere könnten sie mit Art. 14 I GG oder Art. 12 I GG unvereinbar gewesen sein.

1. Unvereinbarkeit mit Art. 14 I GG

Wie bereits dargestellt, griffen die Verordnungen in durch Art. 14 I GG geschützte Eigentumspositionen des Klägers ein. Dieser Eingriff dürfte nicht gerechtfertigt gewesen sein. Eine fehlende Rechtfertigung kann sich insbesondere daraus ergeben, dass unverhältnismäßig in das Grundrecht eingegriffen wurde. Ein unverhältnismäßiger Eingriff liegt vor, wenn kein verfassungsrechtlich legitimer Zweck vorliegt, die Maßnahme nicht geeignet, nicht erforderlich oder nicht verhältnismäßig im engeren Sinne ist.

a) Legitimer Zweck und Eignung

Die angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen (…) dienten einem verfassungsrechtlich legitimen Zweck, weil sie darauf abzielten, durch die Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen und das exponentielle Wachstum der Infektionen zu durchbrechen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden und die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Das Robert Koch-Institut hat in seinen täglichen Lageberichten gerade auch die “soziale Distanzierung” als geeignete Gegenmaßnahme zur Verbreitung des Virus und zur Überlastung des Gesundheitswesens bezeichnet.

b) Erforderlichkeit

Die befristet und abgestuft angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen waren auch erforderlich, weil gleich geeignete, mildere Mittel nicht zur Verfügung standen. Unter Berücksichtigung des ihm zustehenden weiten Beurteilungsspielraums durfte das beklagte Land Mitte März 2020 davon ausgehen, dass es auf die möglichst rasche und umfassende Unterbindung sozialer Kontakte ankam, um der Gefahr einer unkontrollierten Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 und den damit verbundenen Bedrohungen für das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung sowie die Funktionstüchtigkeit des Gesundheitssystems wirksam zu begegnen. Mit dem vorrangigen Ziel schnellstmöglicher und umfassender Kontakt Beschränkungen waren differenzierende Übergangs- und Ausnahmeregelungen nicht zu vereinbaren. Verhaltensregeln für Versammlungen und Veranstaltungen stellten selbst bei vollumfänglicher Beachtung kein gleich wirksames Mittel dar. Hinzu tritt das Risiko bewusst oder unbewusst fehlerhafter Anwendung der Regeln (gerade bei Veranstaltungen wie Hochzeiten, Firmenfeiern und Konzerten, auf denen die Musikgruppe des Klägers auftritt).

c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne

Die von dem beklagten Land in der Zeit von März bis Juli 2020 angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen waren auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Die öffentliche Hand hat für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen der Grundrechtsbeeinträchtigung des Klägers und dem mit dem Veranstaltungsverbot verfolgten Schutz besonders bedeutsamer Gemeinwohlbelange gefunden. Die angeordneten Maßnahmen, also auch das Veranstaltungsverbot, waren von Anfang an zeitlich befristet. Der Verordnungsgeber hatte von vornherein eine “Ausstiegsstrategie” im Blick und verfolgte ein stufenweises Öffnungskonzept. Eine weitere Abmilderung des Eingriffs in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG bewirkten großzügige staatliche Hilfsprogramme. (…)

d) Zwischenergebnis

Die Coronaverordnungen waren nicht mit Art. 14 I GG unvereinbar.

2. Unvereinbarkeit mit Art. 12 I GG

Soweit durch die angeordneten Veranstaltungsverbote und -beschränkungen zugleich in das Grundrecht des Klägers aus Art. 12 Abs. 1 GG eingegriffen wurde, gilt nichts anderes. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete Kunstfreiheit zusätzlich in den Blick nimmt. Die Kunstfreiheit ist in Fällen, in denen es um den Ausgleich von Erwerbsschäden auf Grund von infektionsschutzrechtlichen Veranstaltungsverboten und -beschränkungen geht, nicht in ihrer immateriellen, sondern in ihrer vermögensrechtlichen Dimension betroffen, sodass Art. 12 Abs. 1 GG maßgeblich ist.

3. Zwischenergebnis

Die Verordnungen waren auch materiell rechtmäßig und stellten damit insgesamt keinen rechtswidrigen Eingriff dar. Es liegt kein Sonderopfer des Klägers vor.

V. Ergebnis

Der Kläger hat keinen Anspruch gegen das Land Baden-Württemberg aus enteignungsgleichem Eingriff.

C. Ergänzung

Entschädigungsansprüchen aus dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht beziehungsweise aus enteignendem Eingriff hat der BGH (Urt. v. 17. März 2022, Az. III ZR 79/21) in einer ähnlichen Konstellation abgelehnt, da

die im Zwölften Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes enthaltenen Entschädigungsbestimmungen eine abschließende spezialgesetzliche Regelung mit Sperrwirkung

enthielten.

Der Amtshaftungsanspruch nach § 839 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG käme schon deshalb nicht in Betracht,

weil die öffentliche Hand (als Gesetz- bzw. Verordnungsgeber) gegenüber dem Kläger keine drittbezogene Amtspflicht verletzt hätte.

D. Prüfungsrelevanz

Obwohl der BGH (wegen § 40 II 1 VwGO) über diesen Fall entschieden hat, wird er eher die öffentlich-rechtlichen Klausurersteller*innen hellhörig werden lassen. Vor dem Staatshaftungsrecht haben viele Studierende so viel Angst, dass sie es lieber ganz ignorieren. Wer sich doch daran wagt, kann mit recht wenig Aufwand zum Einäugigen unter den Blinden werden.

(BGH Urteil v. 3. August 2023 - Az. III ZR 54/22)