EGMR zu „Oben-Ohne“-Protest in katholischer Kirche: Bewährungsstrafe verstößt gegen EMRK

EGMR zu „Oben-Ohne“-Protest in katholischer Kirche: Bewährungsstrafe verstößt gegen EMRK

Wo liegt die Grenze von Protestaktionen und wann sind sie von der Meinungsfreiheit gedeckt?

Die Aktivistin protestierte „oben ohne“ vor dem Altar in einer katholischen Kirche und setzte sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche ein. Das französische Gericht verurteilte sie dafür zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung. Ob der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Strafe für (un-)verhältnismäßig hält, haben wir in diesem Beitrag für Dich zusammengefasst.

Worum geht es?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass die Verurteilung einer Aktivistin, die „oben ohne“ in einer katholischen Kirche protestierte, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar sei. Mitgliedstaat Frankreich muss der Frau nun eine Entschädigung zahlen. Ein spannender Fall – der sich insbesondere für eine mündliche Prüfung anbietet.

Bewährungsstrafe für Aktivistin

Betroffen ist eine Aktivistin der feministischen Protestgruppe FEMEN. Die Organisation ist für sogenannte „Oben-Ohne“-Proteste bekannt, mit denen die enthüllten Frauen Aufmerksamkeit auf politische Geschehen ziehen. Im Jahr 2013 trug sich ein solcher Protest in einer Pariser Kirche zu. Als Aktion gegen die Einstellung der katholischen Kirche zur Abtreibung zeigte sich eine Aktivistin oben-ohne in der Kirche La Madeleine. Vor einem Altar stellte sie eine Abtreibung nach.

Der Fall ging in ganz Frankreich durch die Medien, doch auch die französischen Strafverfolgungsbehörden wurden auf die Aktion aufmerksam. Die Aktivistin wurde zu einem Monat Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Außerdem musste sie der Kirche 2.000 Euro (immateriellen) Schadensersatz zahlen und die Anwalts- und Gerichtskosten der Gegenseite in Höhe von 1.500 Euro übernehmen. Eine gegen die Verurteilung eingelegte Berufung der Frau blieb erfolglos.

Doch die Protestgruppe gab noch nicht auf – und zog vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In Straßburg wurde nun entschieden.

Was ist der EGMR überhaupt?

Bevor wir uns die Entscheidung des EGMR genauer anschauen, ist es vorab hilfreich zu wissen, was der EGMR überhaupt ist. Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg gibt es bereits seit 1959. Er ist als Organ beim Europarat angesiedelt. Vor dem EGMR können Personen gegen Mitgliedstaaten des Europarats klagen. Die meisten Fälle dürften dabei auf die Verletzungen von Rechten fallen, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet werden. Die EMRK gewährleistet einen völkerrechtlich verbindlichen Grundrechtsschutz, der von Jedermann einklagbar ist – vor dem EGMR. Spannend: Die Urteile der Straßburger Richter:innen sind für die Prozessparteien (also für die klagende Person und den beklagten Mitgliedstaat) mit inter partes Wirkung bindend.

EGMR sieht französische Strafe als unverhältnismäßig an

Und eines der einklagbaren Grundrechte findet sich in Art. 10 EMRK, der die Freiheit der Meinungsäußerung gewährleistet. Hier hatte der EGMR seine Bedenken und entschied, dass die französische Freiheitsstrafe auf Bewährung angesichts des Schutzes der Meinungsfreiheit unverhältnismäßig sei.

Das Gericht betonte, dass die Protestaktion der Aktivistin unter dem Schutz der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK stünde. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe für eine Straftat im Bereich von politischen Äußerungen sei daher nur in engen Ausnahmefällen mit Art. 10 EMRK vereinbar, nämlich nur bei „außergewöhnlichen Umständen“. Beispielhaft nannten die Straßburger Richter:innen die Phänomene der Hassrede oder der Aufstachelung zur Gewalt.

Ein solch enger Ausnahmefall liege hier aber nicht vor. Die Aktivistin habe sich nicht in der Kirche enthüllt, um die Religionsfreiheit anzugreifen, sondern ihre Meinung zu einer politischen Debatte zu äußern. Ihr könne daher gerade kein hasserfülltes Verhalten vorgeworfen werden. Vielmehr habe sie auf die öffentliche Debatte bezüglich Abtreibungen aufmerksam machen wollen, einschließlich des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch im Rahmen der freien Selbstbestimmung. Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung müsse dabei geschützt werden, da der Inhalt ihrer Botschaft ein Thema von öffentlichem Interesse betreffe, so der EGMR.

Diese Umstände habe das französische Gericht bei seiner Verurteilung nicht ausreichend berücksichtigt. Der EGMR habe vielmehr den Eindruck, dass sich das Gericht auf das Enthüllen in einem Gotteshaus konzentriert habe. Ihre durch die Aktion geäußerte Meinung hätte aber in das Urteil eingezogen werden müssen.

In Straßburg wurde daher „a violation of Article 10 (freedom of expression) of the European Convention on Human Rights” festgestellt. Abschließend heißt es in der Entscheidung, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe auf Bewährung in einem solchen Fall „in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig“ sei.

Mitgliedstaat Frankreich muss der Frau nun eine Entschädigung zahlen.