Parallelen zum berühmtem Gemüseblatt-Fall?
Verkehrssicherungspflichten spielen sowohl in beiden Staatsexamina als auch in der Praxis eine große Rolle. Das OLG Zweibrücken hat jüngst eine neue Entscheidung zu den Verkehrssicherungspflichten eines Supermarktes getroffen. In dem streitgegenständlichen Fall ging es diesmal um eine Stolperfalle vor einem Supermarkt.
Worum geht es?
Die Beklagte betreibt ein Einkaufscenter. Am Nachmittag des Unfalltages kaufte die Klägerin dort, gemeinsam mit ihrem Ehemann, ein. Beim Verlassen des Einkaufscenters stürzte sie im Ein- und Ausgangsbereich des Supermarktes auf dem Weg in Richtung der Parkplätze. Aufgrund des Sturzes zog sich die Klägerin eine komplizierte Ellenbogenfraktur zu, welche insgesamt drei Mal operiert werden musste und in dessen Folge die Klägerin einige Wochen in stationärer Behandlung verbleiben musste. Zudem wird der Klägerin dauerhaft eine 16 cm lange Narbe am Ellenbogen verbleiben. Die Klägerin begehrte aufgrund der Sturzfolgen Schmerzensgeld, Schadensersatz und Feststellung der Einstandspflicht für künftige Schäden aus einem Unfallereignis, welches im Jahr 2013 stattfand.
Die Klägerin behauptete, im Eingangsbereich des Supermarktes habe sich eine Abdeckung für ein Stromkabel befunden, welches einen dort stehenden Imbisswagen versorgt habe. Die Gummiabdeckung habe sich an einer Stelle gelöst und nach oben gestanden, sodass sich eine Schlaufe gebildet habe, in welche sie hineingetreten und gestürzt sei.
Der beklagte Supermarkt stritt ab, dass sich im Eingangsbereich ein Stromkabel befunden habe. Die Stromversorgung des Imbisswagens sei über einen hinter dem Wagen stehenden Verteilerkasten mit Strom versorgt worden. In dem Bereich habe sich nur die Abdichtung einer Dehnungsfuge gelöst; dabei habe sich aber keine Schlaufe gebildet, in die die Klägerin habe reintreten können. Die Klägerin sei vielmehr aus Unachtsamkeit gestürzt.
In diesem Fall geht es insbesondere um die folgenden (prüfungsrelevanten) Lerninhalte:
- Schadensersatzansprüche im Schuldrecht AT
- Vertragspflichten, § 241 BGB
- Deliktische Anspruchsgrundlagen
- Rechtsgutsverletzung, § 823 I BGB
LG Kaiserslautern: Einstandspflicht dem Grunde nach (+)
Das LG Kaiserslautern entschied in erster Instanz, dass die Klägerin dem Grunde nach einen Anspruch auf Schmerzensgeld habe. Allerdings nicht wie beantragt in einer Höhe von 120.000 €, sondern in Höhe von 17.500 €. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme stehe fest, dass die Klägerin aufgrund der hochstehenden Gummiabdeckung gestolpert und gestürzt sei (Urt. v. 23.11.2020 - 2 O 351/16). Die Gummiabdeckung habe insoweit eine Gefahrenquelle dargestellt. Diesbezüglich sei die Verkehrssicherung durch die Beklagte verletzt worden. Sie sei nicht nur gehalten gewesen, den betreffenden Bereich regelmäßig zu kontrollieren, sondern auch dazu, hochstehende Teile unverzüglich zu beseitigen. Ein Mitverschulden sei der Klägerin nicht anzulasten.
Beide Parteien legten gegen dieses Urteil Berufung ein. Die Klägerin forderte mit ihrer Berufung ein deutlich höheres Schmerzensgeld, die Beklagte beantragte die Klageabweisung.
OLG Zweibrücken: Berufungen erfolglos
Das OLG Zweibrücken entschied in der Berufungsinstanz nun, dass die Berufungen der Parteien gleichermaßen keinen Erfolg haben. Hierzu führt das Gericht aus:
“Auf der Grundlage der fehlerfrei durchgeführten erstinstanzlichen Beweiserhebung und der nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung durch den Vorderrichter ist davon auszugehen, dass das Stolpern und der Sturz der Klägerin am 26.01.2013 im Eingangsbereich … auf der schuldhaften Verletzung einer (nach-)vertraglichen Schutzpflicht (§§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB) bzw. der vorwerfbaren Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht (§ 823 Abs. 1 BGB) - der Inhalt und die Reichweite beider Pflichten entsprechen sich im Streitfall - von Mitarbeitern der Beklagten beruhte. Ein Mitverschulden ist der Klägerin insoweit nicht anzulasten. Dieser sind aus dem Unfall (nur) die erstinstanzlich zugesprochenen Ansprüche entstanden; ein über den Betrag von 17.500 € hinausgehendes Schmerzensgeld steht der Klägerin nicht zu.”
Die schwere Ellenbogenverletzung, der langwierige und komplizierte Heilungsverlauf und die bei der Klägerin zurückbleibenden Schäden würden den erstinstanzlich ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag rechtfertigen, so das OLG. Dieser füge sich bereits im oberen Bereich der Judikatur zu vergleichbaren Verletzungen und Verletzungsfolgen ein. Der Senat nahm in seiner Entscheidung konkret Bezug auf fünf vergleichbare Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte, welche sich an einem vergleichbaren Wert orientieren.
Auch die Berufung der Beklagten hatte vor dem OLG Zweibrücken keinen Erfolg. Die in erster Instanz getroffenen Tatsachenfeststellungen und die Überzeugungsbildung des Vorderrichters seien nicht zu beanstanden. Das LG habe zutreffend festgestellt, dass die Klägerin auf dem Gehweg an einer quer liegenden, zum Teil wellenförmig an mehreren Stellen hochstehenden Abdeckung hängen geblieben und deshalb gestürzt sei. Das habe die Klägerin voll bewiesen. Infolgedessen sei von einer Verletzung von vertraglichen Nebenpflichten sowie von Verkehrssicherungspflichten von Mitarbeitern der Beklagten auszugehen, die zum Unfall und zur Verletzung der Klägerin geführt hätten.
Das OLG führt in seiner Begründung aus, dass derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, grundsätzlich dazu verpflichtet sei, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern - jeder abstrakten Gefahr müsse jedoch nicht begegnet werden.
“Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich bei sachkundiger Betrachtung die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden können. In diesem Fall sind diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die ein umsichtiger, verständiger, gewissenhafter und in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (BGH, Urteil vom 20.09.1994, Az. VI ZR 162/93, Juris). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S.v. § 276 Abs. 2 BGB ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält (BGH, Urteil vom 03.06.2008, Az. VI ZR 223/07, Juris). Eingedenk dessen hat der Betreiber eines Ladengeschäftes dafür Sorge zu tragen, dass die Kunden keinen Gefahren ausgesetzt sind, denen sie bei Anwendung zumutbarer eigener Vorsicht nicht zuverlässig begegnen können. Die Verkehrssicherungspflicht erstreckt sich namentlich auch darauf, dass die Laufflächen der dem Publikumsverkehr gewidmeten Räume - im Rahmen des Zumutbaren und Möglichen - während der Geschäftszeiten frei von Gefahren gehalten werden (OLG Koblenz, Urteil vom 17.06.2014, Az. 3 U 1447/13, Juris). Das betrifft im Grundsatz auch die zum Ladengeschäft gehörenden Parkflächen für Kundenfahrzeuge (BGH, Urteil vom 02.07.2019, Az. VI ZR 184/18, Juris), ebenso die Wege zwischen Parkplatz und Ladengeschäft (BGH, Urteil vom 22.09.1992, Az. VI ZR 4/92, Juris).”, so das OLG Zweibrücken in seiner Begründung.
Gemessen an diesen Voraussetzungen sei von einer Verletzung der Verkehrssicherungspflichten durch Mitarbeiter der Beklagten auszugehen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats seien im Regelfall plötzliche Niveauunterschiede des Bodenbelags von zwei bis 3 cm hinzunehmen. Dabei handele es sich zwar nicht um eine starre Grenze, sondern um eine Richtgröße, die im Einzelfall anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls anzupassen sei. Im Streitfall sei nicht mit erheblichen Stolperfallen zu rechnen gewesen. Warnschilder oder ähnliches seien nicht aufgestellt gewesen.
“Die taschenförmigen Höhlen waren geradezu dafür prädestiniert, dass Fußgänger mit einem Fuß beim Voranschreiten hineingeraten und hängenbleiben. Die Beklagte wäre deshalb gehalten gewesen, die Unebenheiten unverzüglich nach deren Entstehung zu beseitigen, ggfl. (wie später auch geschehen) die Fugenabdichtung ganz zu entfernen, sollten Nachklebungen sich als unmöglich oder erfolglos darstellen. Dieser Sicherungspflicht hat sie nicht genügt.”
Der Fall ist wie gemacht für eine Klausur, zumal er an den berühmten “Gemüseblatt-Fall” erinnert, bei dem es ebenfalls um Verkehrssicherungspflichten in einem Supermarkt ging – allerdings mit der Besonderheit, dass sich damals ein Kind verletzte und dabei auch die Grundsätze über den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zu diskutieren waren. Diesen Klassiker solltest Du unbedingt kennen, denn er wird in verschiedenen Konstellationen häufig in Klausuren geprüft: Gemüseblatt-Fall.
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