Fluglärm-Fall

Fluglärm-Fall

Rechtsschutz gegen Abflugroute

In diesem Klassiker der Rechtsprechung machte der Kläger geltend, durch die Flugroutenplanung erheblichem Fluglärm – insbesondere zur Nachtzeit – ausgesetzt zu sein.

Gegen die Festlegung von An- und Abflugstrecken von und zu Flugplätzen gemäß § 27a Abs. 2 S. 1 LuftVO durch Rechtsverordnung können betroffene Flughafenanwohner Rechtsschutz im Wege der Feststellungsklage erlangen. Die Klage kann nur dann Erfolg haben, wenn das Interesse eines Klägers am Schutz von unzumutbarer Lärmbeeinträchtigungen willkürlich unberücksichtigt geblieben ist.

In diesem Fall geht es insbesondere um die folgenden Lerninhalte:

A. Sachverhalt

Der Kläger ist Miteigentümer eines selbstgenutzten Wohngrundstücks südwestlich des Flughafens Köln/Bonn. Er wendet sich gegen die Verlegung der Abflugstrecke NOR, die das Luftfahrt-Bundesamt in der 147. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrsordnung festgesetzt hat. Das Luftfahrt-Bundesamt hat die vom Kläger beantragte Änderung der Abflugstrecke abgelehnt. Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und vorgetragen, seine Familie und er würden durch die Abflugstrecke stark von Fluglärm belästigt, insbesondere zur Nachtzeit. Die Grenzen des Zumutbaren würden erheblich überschritten, wie ein Lärmgutachten im Auftrag der Stadt Bonn ergeben habe. Der angegriffenen Rechtsverordnung fehle eine ausreichende gesetzliche Ermächtigung, eine planerische Interessenabwägung habe genauso wenig stattgefunden wie ein rechtsstaatliches Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung. Die Immissionsbelastung und die Anzahl der betroffenen Bürger sei nicht ausreichend ermittelt worden.        

Der Kläger beantragte, die 147. Durchführungsverordnung zur Luftverkehrsordnung, soweit darin die Abflugroute NOR 9F festgelegt wurde, aufzuheben. Er stellt außerdem mehrere Hilfsanträge.

Die Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Die Neuordnung der Abflugstrecken sei aus Lärmschutzgesichtspunkten nicht zu beanstanden; die Lärmbelastung des Klägers sei nicht grundrechtswidrig. 

Das OVG Nordrhein-Westfalen hat die Klage mit Urteil vom 19. August 1999 (D 21/98.AK) als unzulässig abgewiesen und ausgeführt, mit der allgemeinen Leistungsklage könne kein Anspruch auf Verpflichtung zur Normaufhebung geltend gemacht werden. Ihr Anwendungsbereich sei auf Einzelakte beschränkt. Für seine Hilfsanträge fehle es dem Kläger an der Verletzung eigener Rechte. Die Ermächtigungsgrundlage für die Durchführungsverordnung diene nicht dem Schutz der individuellen Interessen der betroffenen Wohnbevölkerung; §29b Abs. 2 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) diene ausschließlich der Verwirklichung von Allgemeininteressen und nicht dem Schutz einzelner, lärmbetroffener Grundstückseigentümer. Das Luftfahrt-Bundesamt könne bei der Festlegung der Flugrouten nicht parzellenscharf einzelne Grundstückseigentümer vor unzumutbarem Fluglärm schützen. Der Umfang des Flugbetriebes werde allein durch die Zulassung des jeweiligen Flugplatzes bestimmt. Ein individueller Schutz einzelner Grundstücke könne nicht gewährleistet werden. Mit seiner (zugelassenen) Revision macht der Kläger geltend, das Urteil des OVG habe ihn in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt. Da ein anderer Rechtsschutz nicht möglich sei, schließe § 47 VwGO den Rechtsschutz gegen Rechtsnormen nicht aus; §§ 32 Abs. 1-3, 29b LuftVG stellten in Verbindung mit § 27a LuftVO drittschützende Normen dar.

Der Kläger beantragt, das Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen aufzuheben und festzustellen, dass die Festlegung der Abflugroute NOR ihn in seinen Rechten verletze.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger begehre eine Normenkontrolle, die nur nach Maßgabe des § 47 VwGO zulässig sei. Das Gesetz gewähre bei Flugverfahrensregelungen keine individuelle Rechtsposition. Bei Flugrouten seien Abweichungen unvermeidbar und stets seien Wohngebiete betroffen; hierauf könne nicht parzellenscharf reagiert werden. Der Normerlass (Flugrouten-Festsetzungen) orientiere sich vorrangig an der Luftverkehrssicherheit, nicht am Grad der Beeinträchtigung eines Grundstückseigentümers. Jede Flugroute könne den Lärm nur verlagern.  

Der Oberbundesanwalt hielt die Rechtsauffassung des OVG für zutreffend.

B. Gründe

Das BVerwG hat die Revision für zulässig und für begründet erklärt. Das OVG habe die Klage zu Unrecht wegen fehlender Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) abgewiesen. Das BVerwG führt aus, dass der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und die instanzielle und örtliche Zuständigkeit gegeben sei (in Übereinstimmung mit dem OVG). Es handle sich nicht um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit. Zu Recht habe das OVG die Klage nicht am  Fehlen einer statthaften Klageart scheitern lassen.

1) Statthaftigkeit der Klage

Dem System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes könne nicht entnommen werden, dass außerhalb des § 47 VwGO die Überprüfung von Rechtsetzungsakten ausgeschlossen sein solle. Es gehöre seit jeher zur richterlichen Prüfungskompetenz, die Gültigkeit einer Rechtsnorm zu überprüfen, sofern es für den Ausgang des Rechtsstreits hierauf ankomme. Dies sei im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG unerlässlich, wenn die betreffende Norm keiner Umsetzung durch einen Vollzugsakt bedürfe. Dies stelle keine  Umgehung des § 47 VwGO dar. 

2) Feststellungsklage als richtige Klageform

Das BVerwG hält das Rechtsschutzbegehren des Klägers in Form einer Feststellungsklage für statthaft, nicht aber als Leistungsklage. Dies folge aus dem verbürgten Rechtsschutz des Art. 19 Abs. 4 GG, dem die öffentliche Gewalt grundsätzlich unterworfen sei. Dies gelte besonders dann, wenn es um die Verletzung subjektiver Rechte durch eine erlassene Rechtsverordnung gehe. Dabei sei der Kläger auf die Feststellungsklage beschränkt; auch die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nach § 47 VwGO sei als Feststellungsverfahren ausgestaltet. 

Das OVG habe gegen Bundesrecht verstoßen als es die Klagebefugnis des Klägers nach § 42 Abs. 2 VwGO mangels Verletzung eigener Rechte verneint habe. 

3)  Klagebefugnis

Das BVerwG hält die Vorschrift des § 42 Abs. 2 VwGO auch auf die Feststellungsklage nach § 43 VwGO für anwendbar. Die Klage sei deshalb nur zulässig, wenn es dem Kläger um die Verwirklichung eigener Rechte gehe. Dies habe das OVG zu Unrecht verneint und die Ansicht vertreten, der Kläger werde von der Verlegung der Abflugstrecken nur in tatsächlicher Hinsicht betroffen.

Das BVerwG ließ in seinem Urteil offen, ob und in welchem Umfang die Ermächtigungsgrundlage (§ 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 LuftVG in Verbindung mit § 27a LuftVO) für die angegriffene Rechtsverordnung oder ob zumindest § 29b Abs. 2 LuftVG Schutznormen zugunsten des Klägers darstellten. In jedem Fall enthielten diese Normen in materieller Hinsicht ein Abwägungsgebot, das dem Kläger ein subjektives Recht auf Abwägung seiner rechtlich geschützten Interessen vermittle.

4) Abwägungsgebot

Das Abwägungsgebot gelte unabhängig von seiner fachgesetzlichen Normierung allgemein und folge aus dem Wesen einer rechtstaatlichen Planung. 

Die Festlegung von Abflugstrecken unterliege diesem rechtsstaatlichen Abwägungsgebot, da es sich hierbei um die Verwirklichung einer staatlichen Planungsaufgabe handle, bei der auftretende Probleme und Interessenkonflikte in der räumlichen Umgebung des Flughafens bewältigt werden müssten. Gegenteiliges lasse sich auch nicht aus § 29b LuftVG ableiten; diese Vorschrift setze die Geltung des Abwägungsgebotes gerade voraus. 

5) Schutznormcharakter des Abwägungsgebotes

Dem Abwägungsgebot komme ein Schutznormcharakter gegenüber allen abwägungsrechtlichen privaten Belangen zu, ohne dass diese selbst rechtlich geschützt sein müssten (unter Hinweis auf die Entscheidung des 4. Senats des BVerwG vom 24. September 1998, BVerwGE 107, 215). Dies gelte hier für den Kläger, der geltend mache, in seiner Gesundheit und in seinem Eigentum (verfassungsrechtlich geschützte Belange nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 14 Abs. 1 GG) verletzt zu sein.

Dieser Schutznormcharakter lasse sich auch nicht dadurch in Frage stellen, dass das Luftfahrt-Bundesamt nicht jede individuelle Rechtsposition bei seiner Entscheidung berücksichtigen könne. Es reiche, wenn im Rahmen der Abwägung den individuellen Interessen bei einer generalisierenden Betrachtung Rechnung getragen werde; eine parzellenscharfe Betrachtung sei nicht notwendig. 

Der Kläger könne nicht darauf verwiesen werden, gegen die für den Flughafen zuständige Genehmigungsbehörde vorzugehen. Eine solche Beschränkung seines Rechtsschutzes sei mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar.

6) Substantiierung der Rechtsverletzung durch den Kläger

Die an den klägerischen Sachvortrag zu stellenden Anforderungen dürfen nach Auffassung des BVerwG nicht überspannt werden. Der Vortrag des Klägers, er sei unzumutbaren Lärmbelästigungen ausgesetzt, der Sachverhalt sei nicht ausreichend aufgeklärt und die Abwägung fehle, reiche aus, um die Klagebefugnis zu begründen.

7) Begründetheit der Klage

Das BVerwG konnte die Frage der Begründetheit der Klage mangels tatsächlicher Feststellungen durch das OVG nicht beantworten und hat deshalb die Sache an das OVG zurückverwiesen. Es hat gleichwohl Ausführungen gemacht, was das OVG bei seiner Prüfung beachten müsse. 

8) Prüfungsmaßstab

Der anzulegende Prüfungsmaßstab sei durch die Eigenart der Entscheidung bestimmt und begrenzt. Unzumutbare Lärmbeeinträchtigungen stünden der Festlegung einer Abflugroute nicht von vorne herein entgegen. Da der Lärm durch die Start- und Landebahnen nicht verändert, sondern nur verteilt werden könne, habe das Luftfahrt-Bundesamt einen weiten, aber nicht unbegrenzten Gestaltungsspielraum. Bei der Festlegung von An- und Abflugstrecken sei daher nur zu überprüfen, ob das Luftfahrt-Bundesamt von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen sei, den Rahmen des § 29b LuftVG erkannt, die Lärmschutzinteressen in die gebotene Abwägung eingestellt und sie nicht ohne sachlichen Grund zurückgesetzt habe. Eine Klage könnte danach nur erfolgreich sein, wenn die Behörde das Interesse des Klägers am Schutz vor unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen willkürlich unberücksichtigt gelassen habe. Die Höhe der Lärmbelastung allein vermag den Schluss auf eine willkürliche Festlegung der Abflugstrecke nicht zu begründen. Es sei nur eine generalisierende Betrachtungsweise gefordert, konkrete Ermittlungen vor Ort seien in der Regel nicht nötig.

C. Anmerkungen

Das BVerwG hat in seiner Entscheidung für alle von Flugroutenfestlegungen Betroffenen Rechtsschutz ermöglicht und die Geltung des Abwägungsgebotes als Schutznorm in den Mittelpunkt gestellt. Der Rechtsschutz kann nur als Feststellungsklage bei dem zuständigen OVG nach § 43 VwGO geltend gemacht werden. Diese für die Betroffenen positive Entscheidung wird jedoch stark eingeschränkt, indem das BVerwG ausgeführt hat, dass die Höhe des Fluglärms und eine eventuelle Unzumutbarkeit für einzelne Anwohner nicht das entscheidende Kriterium für die Rechtmäßigkeit einer Flugroute sei. Die Behörde habe bei der Festlegung von Abflugrouten einen sehr weiten Spielraum. Nur wenn das Interesse eines Klägers am Schutz vor unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen willkürlich unberücksichtigt geblieben sei, sei die Entscheidung unrechtmäßig und die Klage könne Erfolg haben.

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