BVerfG zur Verletzung der prozessualen Waffengleichheit

BVerfG zur Verletzung der prozessualen Waffengleichheit

A. Sachverhalt

Die Verfassungsbeschwerde sowie der damit verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richtet sich gegen eine einstweilige Verfügung der Pressekammer des Landgerichts Berlin vom 27. Oktober 2020 – 27 O 374/20 –, die ohne Anhörung der Beschwerdeführerin erging.

In dem zugrundeliegenden Verfahren ging es um die Zulässigkeit der Berichterstattung eines Presseverlags über ein Ermittlungsverfahren sowie eine Anklageerhebung wegen Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Schriften gegen einen ehemaligen Fußballprofi und Nationalspieler.

Das zuständige Amtsgericht veröffentlichte am 4. September 2020 eine Presseerklärung, wonach gegen den namentlich genannten ehemaligen Fußballprofi eine Anklage „wegen Verbreitung kinderpornographischer Schriften in 29 Fällen…“  eingegangen sei. Gegen die Veröffentlichung dieser Presseerklärung wandte sich der Antragsteller des Ausgangsverfahrens mit einem Eilantrag an das zuständige Verwaltungsgericht, das den begehrten Unterlassungsantrag abwies. Zur Begründung seines Beschlusses vom 14. September 2020 führte es aus, der Antragsteller sei seit Einleitung des Ermittlungsverfahrens namentlich bekannt gewesen. Zudem habe die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht bejaht, da sie sich auf sichergestellte Bilddateien, die Aussage einer Zeugin und nicht zuletzt auf die geständige Einlassung des Antragstellers stützen könne.

Die Beschwerdeführerin stützt ihre angegriffene Berichterstattung vom 15. September 2020 auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts und zitiert dabei in Auszügen aus dem Beschluss. Auf dem Titelblatt hieß es neben einem Bildnis des Antragstellers:

„Kinderporno- Anklage gegen Ex- Nationalspieler(…)s Geständnis“

Auf Seite 3 der Ausgabe vom 15. September 2020 berichtete die Beschwerdeführerin unter anderem:

„Kinder- und Jugendporno- Dateien entdeckt- Ex-Nationalspieler legt Geständnis abBei den Ermittlern brach (…) sein SchweigenEr hat gestanden. (…) hat die Kinderpornografie- Vorwürfe eingeräumt(…)

Wegen dieser Berichterstattung ließ der Antragsteller des Ausgangsverfahrens die Beschwerdeführerin am 21. September 2020 mit einem zwanzigseitigen anwaltlichen Schriftsatz abmahnen. Diese reagierte auf das Abmahnschreiben nicht.

Mit Schriftsatz vom 6. Oktober2020 beantragte der Antragsteller des Ausgangsverfahrens sodann beim Landgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Beschwerdeführerin. Der Antragsschriftsatz umfasste 42 Seiten und enthielt über das Abmahnschreiben hinausgehenden Vortrag, darunter zu der Frage, ob vorliegend, wie von der Beschwerdeführerin geschrieben, von einer „geständigen Einlassung“ oder einem „Geständnis“ des Antragsstellers die Rede sein könne, wenn sich lediglich der damalige Verteidiger für den Antragsteller im Ermittlungsverfahren eingelassen habe, sowie zur Problematik eines vermeintlichen Verstoßes gegen § 353d StGB durch die Beschwerdeführerin. Dem Antrag beigefügt war ferner eine eidesstattliches Versicherung des aktuellen Verteidigers des Antragstellers, wonach sich in der gesamten Strafakte keine persönliche Einlassung des Antragstellers selbst befinde, sowie ein Kurzgutachten eines weiteren Rechtsanwalts zur Frage, ob die vom damaligen Verteidiger abgegebenen Erklärungen rechtlich zutreffend als „geständige Einlassung“ oder „Geständnis“ des Antragstellers gewürdigt werden könnten.

Allein dem Antragsteller des Ausgangsverfahrens erteilte das Landgericht Berlin am 8. Oktober 2020 den rechtlichen Hinweis, dass wohl ein hinreichendes Mindestmaß vorliege, um über den Vorwurf gegen den Antragsteller berichten zu dürfen. Der mögliche Mangel, dass die Erklärung seines Verteidigers als geständige Einlassung des Antragstellers selbst gewertet worden sei, lasse die äußerungsrechtliche Heranziehung als Beweisanzeichen nicht entfallen. Es komme aber eine eingeschränkte Unterlassungsverpflichtung in Betracht, weil der Sachverhalt unvollständig wiedergegeben sei und beim Leser das schiefe Bild entstehen lasse, dass der Antragsteller eine eigene Erklärung abgegeben habe. Dem Antragsteller räumte die Pressekammer des Landgerichts Berlin Gelegenheit zur Stellungnahme binnen Wochenfrist ein. Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2020 modifizierte der Antragsteller seinen Antrag entsprechend. Ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin erließ das Landgericht am 27. Oktober 2020 die angegriffene einstweilige Verfügung, die es der Beschwerdeführerin untersagt, über das „Geständnis“ des Antragstellers zu berichten, ohne darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller selbst kein Geständnis abgelegt habe, vielmehr lediglich eine Einlassung seines Verteidigers gegenüber der Staatsanwaltschaft vorliege, deren Verwertbarkeit zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststehe. Eine inhaltliche Begründung der einstweiligen Verfügung enthält der Beschluss nicht.

Nach der Zustellung der einstweiligen Verfügung legt die Beschwerdeführerin Widerspruch ein und stellte Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Über die Anträge ist bislang noch nicht entschieden. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde und dem damit verbundenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung rügt die Beschwerdeführerin die erneute Verletzung ihres Anspruchs auf prozessuale Waffengleichheit durch die Pressekammer des Landgerichts Berling in einem äußerungsrechtlichen einstweiligen Verfügungsverfahren.

B. Entscheidung des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf einstweilige Anordnung in vollem Umfang stattgegeben und beschlossen:

  1. Der Beschluss des Landgerichts Berlin vom 27. Oktober 2020 – 27 O 374/20 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit gemäß Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetztes. Seine Wirksamkeit wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache oder bis zu einer erneuten Entscheidung des Landgerichts, längstens jedoch für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.
  2. Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfahren über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

I. Zulässigkeit einer einstweiligen Anordnung und Begründetheit

Das BVerfG kann nach § 32 Abs. 1 BVerfGG eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist. Dabei gelten für den Erlass einer solchen Anordnung im Rahmen der maßgeblichen Folgenabwägung strenge Maßstäbe (st. Rspr. , vgl. BVerfGE 71, 158,161; 111,147, 152 f.).

Einstweilige Anordnung, § 32 BVerfGG
Prüfungsrelevante Lerneinheit

Das BVerfG führt hierzu aus:

„Die Anforderungen, die sich aus der prozessualen Waffengleichheit im äußerungsrechtlichen Verfügungsverfahren ergeben, hat das BVerfG mehrfach klargestellt (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018 – 1BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17 sowie der 2. Kammer vom 17. Juni 2020 – 1 BvR 1380/20 – Pressekammer des LG Berlin betreffend).Die vom BVerfG vorzunehmende Folgenabwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG führt hier zum Ergebnis, dass die für den Erlass  einstweiligen Verfassungsbeschwerde hinsichtlich der gerügten Verletzung der prozessualen Waffengleichheit offensichtlich zulässig und begründet ist.“

Verfassungsbeschwerde, Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 23, 90 ff. BVerfGG
Prüfungsrelevante Lerneinheit

II. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Das BVerfG  sieht die Verfassungsbeschwerde als zulässig an und erläutert, es gäbe keinen Rechtsbehelf mit dem eine Verletzung der prozessualen Waffengleichheit eigens vor den Fachgerichten geltend gemacht werden könne; daher könne die Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar gegen die  einstweilige Verfügung erhoben werden.

III. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde

Das BVerfG stellt fest, dass die einstweilige Verfügung des Landgerichts Berlin die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

Das BVerfG führt aus, dass der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess sei und verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht sichere. Die prozessuale Waffengleichheit stehe im Zusammenhang mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Dieser gebiete es, vor einer Entscheidung der Gegenseite Gehör und damit die Gelegenheit zu geben, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen.Eine vorherige Anhörung sei nur in Ausnahmefällen entbehrlich, wenn sonst der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des  Ersten Senats vom 30. September 2018, Rn 14 – 16 aaO). Der zulässige Verzicht auf eine mündliche Verhandlung wegen der Eilbedürftigkeit berechtige das Gericht nicht dazu, die Gegenseite bis zur Entscheidung über den Antrag aus dem Verfahren herauszuhalten. Eine stattgebende Entscheidung über einen Verfügungsantrag komme grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit hatte, auf das geltend gemachte Vorbringen zu erwidern.Das rechtliche Gehör sei auch zu gewähren, wenn das Gericht – wie hier – dem Antragsteller Hinweise nach § 139 ZPO erteile. Es sei verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller, in dem das Gericht auch ihm die richterlichen Hinweise zeitnah mitteilt. Dies gelte insbesondere, wenn es in Hinweisform darum gehe, einen Antrag nachzubessern. 

„Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen ohne den Antragsteller in irgendeiner Form einzubeziehen, ist mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar.”
BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 30. September 2018, aaO Rn 24; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3.Juni 2020- 1 BvR 1246/20 – Rn 19

Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus:

„Nach diesen der Presskammer des Landgerichts Berlin bekannten Maßstäben verletzt der angegriffene Beschluss die Beschwerdeführerin offenkundig in ihren grundgesetzgleichem Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG“.

Das Bundesverfassungsgericht sieht in zweierlei Hinsicht eine prozessuale Ungleichheit gegenüber der Antragsgegnerin; einmal im Verfahren der einstweiligen Verfügung:Es gab zwar hier außerprozessual eine Abmahnung (20 Seiten), auf die die Antragsgegnerin (Beschwerdeführerin) nicht erwidert hat. Der beim Landgericht eingegangene Antragsschriftsatz umfasse jedoch 42 Seiten (plus eidesstattlicher Versicherung und Kurzgutachten), so dass eine Kongruenz mit dem Schriftsatz der Abmahnung nicht gegeben war. Hier hätte die Beschwerdeführerin (Antragsgegnerin) Gelegenheit bekommen müssen, den weiteren ergänzten Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und sich hierzu zu äußern (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2020, – 1 BvR  1379/20 – Rn 14). Hierfür hätte in den drei Wochen zwischen dem Eingang des Antrags und der Entscheidung des Gerichts auch ausreichend Zeit bestanden.Zum anderen hätte das Gericht der Beschwerdeführerin aufgrund des rechtlichen Hinweises vom 8. Oktober 2020 und des vom Antragsteller daraufhin angepassten Antrags vom 22. Oktober Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen müssen.

„Es ist verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Gegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller…“.

Dies gelte insbesondere, wenn es wie hier bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum gehe, einen Antrag nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.Die Außervollzugsetzung der Entscheidung gibt dem Landgericht Berlin Gelegenheit, bei einer neuerlichen Entscheidung beide Seiten einzubeziehen und deren Vortrag zu berücksichtigen.

Verfahrensgrundsätze der ZPO
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C. Anmerkungen

Das BVerfG hat mit diesem Beschluss vom 22. Dezember 2020 zum wiederholten Mal klar festgestellt, dass ein Gericht – auch im Presserecht und Äußerungsrecht – grundsätzlich der Gegenseite das Recht auf Gehör gewähren muss bevor eine Entscheidung über einen Antrag ergeht. Hieran ändere auch die Eilbedürftigkeit bei Pressesachen nichts. Es besteht in aller Regel kein Grund, von einer vorherigen Anhörung abzusehen. Dies gilt auch dann, wenn wegen der Dringlichkeit des Verfahrens auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wird. Gerade dann darf die Gegenseite nicht bis zu einer Gerichtsentscheidung aus dem Verfahren herausgehalten werden (Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit).

Das Gericht darf zwar vorprozessuale Erwiderungen (z.B. in einem Abmahnverfahren) in das Verfahren einbeziehen, sofern ihm diese vorliegen. Dies gilt aber nur dann, wenn die Anträge in beiden Verfahren- vorprozessuale Abmahnung und Verfügungsantrag bei Gericht – identisch sind (vgl. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 78/2018 vom 26.Oktober 2018).